11’09’’01– September 11
(11’09’’01– September 11)
Großbritannien, Frankreich 2002, 135 Minuten
Regie: Samira Makhmalbaf (Iran), Claude Lelouch (Frankreich), Youssef Chahine (Ägypten), Danis Tanovic (Bosnien-Herzegowina), Idrissa Ouedraogo (Burkina Faso), Ken Loach (Großbritannien), Alejandro González Iňárritu (Mexiko), Amos Gitaï (Israel), Mira Nair (Indien), Sean Penn (USA), Shohei Imamura (Japan)

Künstlerischer Produzent: Alain Brigand
Titelmusik: Alexandre Desplat

Darsteller (der verschiedenen Episoden): Mayram Karimi (Iran), Emmanuelle Laborit, Jérôme Horry (Frankreich), Nour Elshérif, Ahmed Seif Eldine (Ägypten), Dzana Pinjo, Aleksandar Seksan, Tatjana Sojić (Bosnien-Herzegowina), Lionel Zizréel, René Aimé Bassinga, Lionel Gaël Folikoue, Rodrigue André Idani (Burkina Faso), Vladimir Vega (Großbritannien), Keren Mor, Liron Levo, Tomer Russo (Israel), Tanvi Azmi, Kapil Bawa, Taleb Adlah (Indien), Ernest Borgnine (USA), Tomorowo Taguchi, Kumiko Aso, Akira Emoto, Mitsuko Baisho, Tetsuro Tanba (Japan)

„Mit dem Heute seinen Frieden schließen ...“

Trauer, Wut, Unverständnis, Ohnmacht, Bilder, die man nie vergessen wird. Bilder, in Sekundenschnelle um die Welt gejagt, schneller als die Türme fielen, viel schneller, als irgend jemand überhaupt begreifen konnte. Bilder auch von einem amerikanischen Präsidenten, der bis heute nichts, aber auch gar nichts begriffen hat, Bilder von europäischen Politikern, die ebensowenig begriffen haben, und wir selbst, die wir nicht begreifen können, ob wir wollen oder nicht. Geschichte, die verkommt zu einer Aneinanderreihung von Ideologemen und Illusionen, Interessen und Intrigen, Verschleierung und Vergessen.

Der 11. September 2001 war für den französischen Produzenten Alain Brigand Ausgangspunkt für ein Projekt, das in jeder Hinsicht gewagt war. Elf Regisseure aus elf Ländern sollten jeweils einen Kurzfilm von 11 Minuten 9 Sekunden und einem Bild produzieren, keine Reproduktion der Bilder von den einstürzenden Türmen, aber ohne irgendwelche weiteren Vorgaben. Ein Risiko wie jede Stellungnahme zum 11. September 2001. Einzeln betrachtet wird man die Kurzfilme unterschiedlich bewerten. Der eine ist besser als der andere, der x-te kommt einem näher als der davor. Einzeln betrachtet bleibt jeder der elf Filme ein Problem, ein größeres oder ein kleineres. Das, was Brigand und seinen Kompilationsfilm zu einem wertvollen und beeindruckenden Werk macht, ist die Gesamtschau. So unterschiedlich jeder einzelne Film sein mag, so überwältigend ist der Blick auf ein „Wir“ – so viel beschworen nach dem Terroranschlag –, das sich jeder dünnen Fassade, jeder Politiker-Beschwörung von einer nebulösen „uneingeschränkten Solidarität“ und ähnlichen Geisterformeln widersetzt. Ein „Wir“, das in seiner Vielfalt mehr ist als die Summe seiner „Ichs“, aber letztere eben nicht in sich aufgehen lässt.

Ich werde den Inhalt der elf Kurzfilme wiedergeben. Das schadet der Sicht des Kompilationsfilms nicht. Denn die elf Filme sprechen für sich eine Sprache, die durch Worte kaum wiedergegeben werden kann.

Es gibt Anklagen und Selbstgerechtigkeit in einigen der elf Filme, etwa wenn der Ägypter Youssef Chahine einen Regisseur (sich selbst) in dessen Phantasie mit einem in Beirut 1983 gefallenen amerikanischen GI und einem palästinensischen Selbstmordattentäter konfrontiert. Die Anklage gegen die US-Politik ist hier überdeutlich formuliert. Ebenso überdeutlich wird sein israelischer Kollege Amos Gitaï, der eine Journalistin in Tel Aviv zeigt, die in hysterischer Weise versucht, von einem Selbstmordattentat zu berichten, und nicht begreift, dass die Medien sich voll auf die Ereignisse in New York stürzen, den Fall der Twin Towers. Die Botschaften beider Filme sind zu eindeutig. Und trotzdem realisieren sie ein Stückchen Wahrheit, nicht für sich genommen, aber im Kontext der Kompilation.

Auch Mira Nair aus Indien verfällt in die Falle der Überdeutlichkeit, wenn sie eine in New York lebende Mutter pakistanischer Herkunft in ihrer Verzweiflung zeigt, weil ihr Sohn verschwunden ist, der zudem von den Behörden der Teilnahme an dem Terroranschlag beschuldigt wird. Monate später findet man die Leiche des jungen Mannes, der an Grand Zero helfen wollte und dabei ums Leben kam.

Ken Loach steht in der Gesamtschau der Filme eher in einer vermittelnden Position hin zu einer eher individuellen, fast privaten Perspektive, die aber ihrer politischen Eindeutigkeit nicht beraubt ist. Ein in London lebender Chilene schreibt am 1.9.2001 einen Brief an die Hinterbliebenen der Opfer und erinnert sich an den 11. September 1973, dem Tag, als Salvador Allende durch einen Putsch der Generäle unter Pinochet gestürzt und ermordet wurde. Loach lässt keinen Zweifel daran, wie er die Dinge beurteilt. Und die Fakten sprechen für seine Sicht. Nixon und Kissinger hatten schon Monate vor dem Putsch versucht, Allende in die Knie zu zwingen und etliche Millionen Dollar samt CIA zur Verfügung gestellt. Das Ergebnis war kontraproduktiv: Die Chilenen sammelten sich verstärkt um Allende. Die Verantwortung, insbesondere von Henry Kissinger, dem Friedensnobelpreiträger jener Jahre, für den dann gelungenen zweiten Anlauf, den erfolgreichen Putsch und die mehr als 30.000 Ermordeten ist bekannt und nachgewiesen. Loach unternimmt den Versuch, den 11. September im Licht einer Geschichte zu zeigen, die von den politisch Verantwortlichen in den Vereinigten Staaten nicht besonders gern gesehen wird. Loach ist plakativ. Andererseits leben noch heute, fast 30 Jahre nach dem Putsch, Tausende von Exil-Chilenen in Europa und in den USA, die für uns kaum vorstellbar darunter leiden, was ihnen, ihren Familien und Freunden geschehen ist. Sie haben inzwischen Kinder, die hier aufgewachsen sind und die bei einer Rückkehr nach Chile ins Exil kämen, weg von ihrer Heimat. So grausam kann Geschichte sein.

Einen scheinbar ganz anderen Blick auf die Ereignisse wirft die iranische Regisseurin Samira Makhmalbaf. Sie zeigt in der Trostlosigkeit eines Flüchtlingsdorfes, in dem vor den Taliban geflüchtete Afghanen leben, eine Lehrerin, die ihren noch sehr jungen Schülern verständlich machen will, was gerade in New York geschehen ist. Doch sie erntet das Unverständnis der Unschuldigen. Den Kindern fehlt nicht nur die Vorstellungskraft dafür, was Tausend Tote auf einmal bedeuten, was Twin Towers sein könnten. Die Kinder leben zudem in der wahrnehmungsbestimmenden Relativität ihrer eigenen Umgebung, die allein für ihre Anschauung maßgeblich ist. Lediglich am Schluss schauen sie andächtig schweigend an einem hohen Schornstein hinauf. Welche Phantasien wohl durch ihre Köpfe gehen?

Ebenso bestimmt von der unmittelbaren Umgebung zeigt Idrissa Ouedraogo aus Burkina Faso fünf Schuljungen, die kein Geld für Schulhefte und Schreibgerät haben. Als sie von der Fahndung nach Osama Bin Laden hören, phantasieren sie, was mit der Millionen-Belohnung alles gemacht werden könnte – gegen die Armut, um das Leben der Mutter eines der Jungen zu retten usw. Und plötzlich sieht einer der Jungen tatsächlich Osama Bin Laden (täuschend echt der Schauspieler), wie er in ein Taxi steigt und zum Flughafen fährt. Keiner glaubt ihm und Bin Laden entkommt.

Auch der französische Regisseur Claude Lelouch konfrontiert das Persönliche mit dem Globalen. Eine taubstumme Französin will ihren amerikanischen Geliebten, den sie als Stadtführer für Taubstumme in New York kennen gelernt hatte, verlassen. Nachdem er zur Arbeit gegangen ist, schreibt sie ihm einen Brief. Sie sitzt vor ihrem Notebook, überlegt, schreibt, während im Fernsehen die einstürzenden Twin Towers zu sehen sind. Lelouch lässt uns gleichzeitig auf die Frau und den Fernseher schauen, schafft dadurch eine enorm gespannte Atmosphäre. Warum schaut sie nicht einmal zwischendurch auf den Fernseher? Warum beschäftigt sie sich in einem solchen Augenblick mit ihren zutiefst privaten Angelegenheiten? Als es klingelt, steht ihr Freund vor der Tür, von Asche zugeschüttet, nicht fähig, irgend etwas zu sagen. Ein fast zerreißender Blick auf die Ereignisse.

Danis Tanovic zeigt Frauen in Srebrenica, einer Stadt des Mordes, in der an jedem 11. des Monats die Frauen auf die Straße gehen und erinnernd demonstrieren. Er zeigt diese „merkwürdige“ innere Solidarität, eben nicht die äußere, die proklamierte, die selbstdarstellerische Solidarität, sondern die, die diese Frauen, als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre, dazu treibt, an diesem 11. September 2001 auch für die Opfer in New York auf die Straße zu gehen, Frauen, die zum Teil das Schlimmste erlebt haben, was Frauen überhaupt zustoßen kann, Frauen, die ihre Männer verloren haben, ihre Kinder, ihre Eltern.

Zu meinen Lieblingsbeiträgen zählen der Film des Mexikaners Alejandro González Iñárritu, Sean Penns und Shohei Imamuras Kurzfilme.

Iñárritu zeigt eine schwarze Leinwand. Man hört zunächst das kollektive Gebet von Chamula-Indios, dann Geräusche, eine Frau, die aus einem der Flugzeuge, die in die Twin Towers gestürzt wurden, ihre Familie anruft, immer vor dem Hintergrund einer dunklen Leinwand. Plötzlich sieht man Streifen, nur Bruchteile von Sekunden, dann etwas länger. Man erkennt, dass es sich nicht um Streifen handelt, sondern um die Twin Towers. In kurzen Sequenzen sieht man, wie Menschen aus den Hochhäusern springen. Der Geräuschpegel nimmt ständig zu. Iñárritu konterkariert die Bilder, die Flut von unvergesslichen Bildern, mit dem Hörbaren und dem Nicht-Sichtbaren, ja dem Unsichtbar-Gemachten, appelliert an die Vorstellungskraft und manipuliert, indem er nur diese Menschen zeigt, die herunterfallen, die tot sind, wie wir alle längst wissen. Wir müssen es noch einmal miterleben, in diesem Film auf eine schreckliche Art. Dieses Herunterfallen, nur in Sekunden gezeigt, beinhaltet in dieser Art von Visualisierung eine unvorstellbare Tragik und Erschütterung. Am Schluss bleibt das Gebet der Indios. Gleichzeitig zeigt diese Art der Visualisierung das Unvorstellbare, die Unmöglichkeit, das Kino eine Erfahrung wiedergeben kann, die man nicht selbst gemacht hat.

Der Japaner Imamura zeigt uns etwas ganz anderes, etwas, was nur scheinbar nicht mit dem 11. September 2001 zu tun. Er zeigt einen japanischen Soldaten, der aus dem 2. Weltkrieg nach Hause kommt und zur menschlichen Schlange geworden ist. Er kriecht, so gut es geht, wie eine Schlange über den Boden, frisst eine Ratte und erntet bei Frau und Familie nur Unverständnis. Er spricht kein Wort. Der Horror des Krieges hat es ihm verunmöglicht, als Mensch weiterzuleben. Das Bild am Schluss zeigt eine Schlange und die Worte: „Da ist nichts, was dem heiligen Krieg vergleichbar wäre.“

Schließlich der Beitrags Sean Penns. Ernest Borgnine spielt einen einsamen alten Mann, der nicht wahr haben will und kann, dass seine Frau tot ist. Penn zeigt Borgnine in Unterwäsche, wie er sich rasiert, wie er mit seiner Frau spricht, jeden Morgen ein Kleid aus dem Schrank holt, um es neben sich auf das Bett zu legen. Ein alter Mann, der nur noch in der Erinnerung lebt, in der Liebe zu seiner Frau, der verwelkt wie die Blumen im Fenster. Dann plötzlich, eines Morgens, am 11. September, wird es hell in seinem Schlafzimmer, sehr hell. auf der Häuserwand sinkt der Schatten eines Turms – und in dem Blumentopf verwandelt sich die verwelkte Blume in einen prachtvoll-bunten Strauß. Der alte Mann ist überglücklich, nimmt die Blume, stellt sie auf sein Bett, zu dem Kleid seiner Frau und nimmt zum ersten Mal wahr, dass seine Frau nicht mehr da ist. Er weint. Auf der Häuserwand sinkt ein zweiter Schatten nach unten.

Sean Penn hat u.a. zu seinem Beitrag geschrieben: „Die Frage ist doch immer, wie man mit dem Heute seinen Frieden schließen und glauben kann, dass es morgen besser sein könnte.“

Insgesamt halte ich diesen Versuch des französischen Produzenten Brigand und der elf Regisseure für eine überaus gelungene Angelegenheit. Schon heute, einen Tag, nachdem ich den Film gesehen habe, drängt es mich, ihn noch einmal anzuschauen. Das Faszinierende besteht vor allem darin, dass die Summe der Kurzfilme ein Gesamtbild erzeugt, das fernab jeglicher Bevormundung oder hohler „Wir“-Ideologie dem Betrachter die Chance belässt, zu einem intensiveren Gefühl zu gelangen, darüber, was hier eigentlich vor gut einem Jahr geschehen ist. Der Film demonstriert auf beeindruckende Weise die Ferne des Künstlerischen gegenüber dem Politischen, selbst in den vordergründig plakativen Beiträgen aus Ägypten oder Israel. Diese Ferne bedeutet einen ganz anderen Zugang zu den Ereignissen als über die „große Weltpolitik“. Gott – oder wem auch immer – sei Dank.

Der Erlös des Films geht an die Organisation „Handicap International“, die in 55 Ländern die Hilfe für behinderte Menschen unterstützt und finanziert.