Alles, was wir geben mussten
(Never Let Me Go)
Großbritannien, USA, 2010 (103 Minuten)
Regie: Mark Romanek

Drehbuch: Alex Garland, nach dem Roman von Kazuo Ishiguro
Musik: Rachel Portman
Director of Photography: Adam Kimmel
Montage: Barney Pilling
Produktionsdesign: Mark Digby

Darsteller: Carey Mulligan (Kathy), Andrew Garfield (Tommy), Keira Knightley (Ruth), Izzy Meikle-Small (Young Kathy), Charlie Rowe (Young Tommy), Ella Purnell (Young Ruth), Andrea Riseborough (Chrissie), Domhnall Gleeson (Rodney), Charlotte Rampling (Miss Emily), Nathalie Richard (Madame), Sally Hawkins (Miss Lucy), Kate Bowes Renna (Miss Geraldine), Hannah Sharp (Amanda), Christina Carrafiell (Laurs), Oliver Parsons (Arthur), Luke Bryant (David), Fidelis Morgan (Matron), Damien Thomas (Doctor), Lydia Wilson (Hannah)

Apocalypse now ...

Alles ist normal. Das Leben der Kinder, die Schule, die Pubertät, die Lehrer, die Landschaft. Das Normale hat sich festgesetzt, ja festgefressen. Das Äußerliche scheint undurchdringbar, nein, warum sollte man es überhaupt durchdringen wollen? Das Äußerliche, Sichtbare spricht für sich selbst. Es ist normal. Und diese Normalität ist das Reale. Die Normalität ist die Realität, vice versa. Die Erinnerung daran ist die Erinnerung an die Kindheit, an eine normale, reale Kindheit. Kathy, inzwischen 28 Jahre alt, erinnert sich, an Tommy und Ruth vor allem, mit denen sie eng in einem Internat namens Hailsham in Großbritannien in den 70er Jahren aufgewachsen ist. Und wie eine alte, sehr alte Frau erinnert sie sich an dieses Unbeschwerte ihrer Kindheit. Sie sehnt sich danach, wohl wissend, dass das Unbeschwerte vergangen ist und nie wieder kommen wird.

Mit einer geradezu einfachen, aber eben nicht unbeschwerten Leichtigkeit, mit einer fast schon grandiosen Normalität der Inszenierung führt uns Mark Romanek ("One Our Photo") in diese Welt, er taucht seine Zuschauer in das Leben dieser Kinder und bringt uns dieses Leben nahe. Der Kontrast könnte nicht größer sein, zwischen dieser Leichtigkeit der Inszenierung, untermauert durch die Musik und die Bilder Adam Kimmels, und dem abgrundtiefen Grauen, das Teil dieser Normalität ist.

Ein Glas Wasser steht vor mir. Gebe ich etwas Zucker hinein, verändert sich das Äußere des Wassers in keiner Weise. Erst wenn ich davon trinke, spüre ich die Süße. Fülle ich statt dessen Gift in das Wasser, verändert sich das Äußere des Wasser ebensowenig. Wenn ich es trinke ...

Der Film funktioniert auf ähnliche Weise. Kathy erinnert sich – an Tommy, den Außenseiter, der von den meisten anderen Schülern gemieden wird, an ihre Freundin Ruth. Aber auch an die Leiterin des Internats, Miss Emily, die den Kindern immer wieder predigt, sie müssten im Unterschied zu anderen Kindern noch intensiver auf ihre Gesundheit achten. Sie erinnert sich aber auch an Miss Lucy, die neue Aufseherin und Lehrerin, die die Kinder in einer Stunde fragt, ob sie wüssten, was passiere, wenn Kinder erwachsen würden. Sie gibt die Antwort selbst, sie würden in einem Supermarkt arbeiten, nach Amerika gehen oder Künstler werden. Aber diese Kinder hier, zu denen sie spricht, würden das alles nicht werden, wenn sie erwachsen würden.

Die Normalität von Hailsham, die Normalität der gesamten Gesellschaft ist eine andere. Die Kinder sind Klone anderer Menschen und werden zu einem einzigen Zweck erzogen, versorgt und zu einem gesunden Leben angehalten: Sie sollen, wenn sie erwachsen geworden sind, ihre Organe spenden. Das ist der einzige Zweck ihres (kurzen) Lebens.

Romanek hält sich bei der Erzählung der Geschichte von Ruth, Kathy und Tommy eng an die Romanvorlage von Kazuo Ishiguro von 1995. Er zeigt uns die ersten Annäherungsversuche zwischen Kathy und Tommy, die Eifersucht Ruths, die Tommy Kathy wegschnappt, die Einsamkeit der 16jährigen Kathy, die Tommy über alles liebt, die Verbringung der drei im Alter von 18 Jahren in ein Cottage, in dem sie andere Klone aus anderen Schulen kennen lernen. Die Stille, die Unaufgeregtheit, mit der Romanek Ishiguros Roman im wahrsten Sinn des Wortes gerecht wird, erzeugte bei mir eine Stimmung des Entsetzens, ja der Qual über diese Normalität des Romans bzw. Films.

Wie in dem Wasserbeispiel scheint der einzige Unterschied zwischen der heutigen Normalität und fiktiven Normalität des Films der zu sein, dass Menschen andere (geklonte) Menschen, die keine Eltern haben und keine Kinder haben werden, als Ersatzteillager halten für diejenigen, die inzwischen weit über 100 Jahre alt werden können. Dadurch dass Ishiguro die Handlung in die 70er, 80er und 90er Jahre verlegt, statt in die Zukunft zu projizieren, erhält die Geschichte eine Nähe, die unbeschreiblich drückend wirkt.

Diese unerträgliche Nähe wird noch gesteigert durch die Geschichte der drei Kinder bzw. jungen Erwachsenen, die so normal erscheint wie die Geschichte anderer Kinder – nur dass es sich um eine ganz anders strukturierte Realität handelt. (Oder vielleicht doch nicht?) Ruth scheint sich an Tommy "herangemacht" zu haben wegen der ominösen Chance, als Liebespaar Aufschub bekommen zu können für die letzte, tödliche Organentnahme. Dieser Tod heißt in dieser Gesellschaft nicht Tod, nicht Sterben, sondern "Vollendung". Nach spätestens der vierten Organentnahme "vollendet" man sich. Man könnte zudem sagen, die Klone gehen ihrer Vollendung mit einer Lammsgeduld entgegen, nicht einmal wie das Vieh zum Schlachten – ruhiger, gelassener, normaler.

Kathy leidet unter der Trennung von Tommy. Und Ruth kann irgendwann nicht anders, als sich bei beiden für ihr Verhalten zu entschuldigen. In solchen Momenten des Films scheint die Nähe der drei Personen deutlich hervor – und zugleich die Katastrophe dieser Gesellschaft, in der weder Polizei, noch Militär, noch andere Gewaltmechanismen notwendig sind, um das vorgesehene Schicksal der Klone zu garantieren. Nein, die Klone, und das ist ein zentrales Moment von Roman und Film, sind auf ihr Schicksal "abgestimmt". Es gibt keinen Widerstand, nicht einmal den leisesten Hauch von Rebellion. Nur der Schrei Tommys als Kind in Hailsham und am Schluss des Films lässt eine Spur von innerem Widerstand vermuten. Aber auch das täuscht. Es handelt sich nicht um Schreie des Widerstands. Im Inneren der drei Figuren herrscht eine tiefe Zustimmung zum eigenen Schicksal.

Kein Gefängnis, keine Mauer ist notwendig, um in dieser fiktiven Gesellschaft das Funktionieren der Klone zu gewährleisten. Die Gesellschaft, die Totalität selbst ist das Gefängnis, über das niemand mehr grundsätzlich nachdenkt. Die einen nicht, weil sie weder im Denken, noch gar im Handeln ein Zurück zur alten, "kranken" Gesellschaft zulassen, die anderen nicht, weil sie sich mit ihrem Schicksal von Anfang an abgefunden haben. Und dies bedeutet nichts anderes, als es als normal zu empfinden. Das kurze Aufflackern von so etwas wie innerer Aufwallung gegen das eigene Schicksal wird durch eine Normalität sofort wieder erstickt, die keiner Gewaltmaßnahmen bedarf, um dies zu bewerkstelligen. Es reicht der latente, aber übermächtige Druck der Realität und Normalität einer Gesellschaft, die eben nicht nach ihrer äußeren Erscheinung funktioniert. Das Verborgene dieser Gesellschaft ist derart real und normal, dass das Individuum scheitern muss. Die Allmacht der Normalität lässt keinen Ausweg zu. Es ist vor allen anderen Carey Mulligan als Kathy, die das in einer besonders gelungenen Weise zum Ausdruck bringt.

Diese fiktive Gesellschaft kennt nur wenige strategische Lügen. Das eine sind die Schauermärchen über Kinder, die sich hinter den Zaun beim Internat in Hailsham begeben haben und dann furchtbar umgekommen sein sollen. Die andere besteht in der Behauptung, Klone hätten keine Seele. Der Film klärt darüber auf, warum diese Lügen notwendiger Bestandteil der fiktiven Gesellschaft sind.

Es gibt nichts, was nicht hinterfragt werden könnte – und sollte. Romanek zeigt uns eine perfekt faschistische Gesellschaft – ohne Rassismus, ohne Uniform, ohne SS-Knüppel. Geht das überhaupt? Es würde gehen. Diese Gesellschaft hat sich in einem breiten Konsens – davon muss man ausgehen – darauf geeinigt, schwere Krankheiten weitgehend zu beseitigen und das Leben zu verlängern, in dem man Klone züchtet und als Ersatzteillager ausweidet. Romanek zeigt – ohne es zu artikulieren, der Film artikuliert sowieso gar nichts  – uns die Überkommenheit einer Vorstellung von Fortschritt, die darin besteht, alles werde immer besser. Eine solidarische Gesellschaft ist ebenso möglich wie eine fiktive wie in diesem Film. Es muss gar nichts besser werden. Im Gegenteil. Kein Horrorfilm und kein Sciencefiction mit apokalyptischen Visionen kommt an diese Vision einer Gesellschaft, wie sie uns Ishiguro und Romanek zeigen, wirklich nahe genug heran, weil das Phantastische in diesem Film gänzlich fehlt. Er spielt in unserer Zeit, mit unseren Menschen.

Der deutschsprachige, schwülstige Titel sollte über die Qualität des Streifens nicht hinwegtäuschen.

© Bilder: 20th Century Fox.

Wertung: 10 von 10 Punkten.
Prädikat: Besonders wertvoll.


(24.3.2011)