Blue Car – Poesie des Sommers
(Blue Car)
USA 2002, 96 Minuten
Regie: Karen Moncrieff

Drehbuch: Karen Moncrieff
Musik: Adam Gorgoni, Stuart Spencer-Nash
Director of Photography: Rob Sweeney
Montage: Toby Yates
Produktionsdesign: Kristan Andrews

Darsteller: Agnes Bruckner (Meg), David Strathairn (Auster), Margaret Colin (Diane), Frances Fisher (Delia Auster), A. J. Buckley (Pat), Regan Arnold (Lily), Sarah Buehler (Georgia), Dustin Sterling (Rob Auster), Mike Ward (Vater Megs und Lilys), Wayne Armstrong (Don), Michael Raysses (Mr. Kastran)

Urvertrauen und Missbrauch

„Die Vergangenheit, alles Vorangegangene,
ist ein welkes Blatt, herabgefallen von einem
toten Baum. Der Baum wurde gefällt, das Blatt
von Füßen zerquetscht und in die Erde
gestampft. Was bleibt, ist nur die Erinnerung
an Bäume. Ich bin der Borkenkäfer unter
der Rinde. Ich bin Rost und Schwerkraft.
In meinen Träumen sind wie wieder alle
zusammen. Und meine Mutter ist glücklich.
Doch dann fallen die Blätter von den
Bäumen. Und mein Vater ist fort. Ich rufe
laut nach ihm, doch wo immer er ist,
er hört mich nicht.” (Gedicht Megs)

Karen Moncrieff drehte mit „Blue Car” die Geschichte eines Missbrauchs, eines Kindesmissbrauchs und eines Missbrauchs einer jungen Frau. Denn Meg (Agnes Bruckner), um die es hier geht, ist Schülerin, vielleicht 16 Jahre alt, eine junge hübsche Frau voller Gedanken und Gefühle, voller Probleme und in innere Konflikte verwickelt, die vor allem mit ihrer familiären Situation zu tun haben. Die von vielen als neuer Star gefeierte Agnes Bruckner (*1985) liefert in diesem Film eine Glanzleistung ab. Spielt sie Meg, spielt sie sich selbst? Der Unterschied macht sich nicht bemerkbar.

Unterstützt von David Strathairn als Lehrer Auster, Margaret Colin als Megs Mutter Diane und Frances Fisher als Frau Austers gelang Karen Moncrieff eine optimale Besetzung für eine Geschichte, die sich fern von Verurteilung und Schwarz-Weiß-Malerei, nah an Verständnis und Sympathie für eine junge Frau entwickelt, und dabei doch in ihrer Grundaussage eindeutig ist.

„Today the sun almost shines
Can you feel the sun?
Have you been bleeding all this time?
Soon spring will come
Is it a trick of the mind?
Can you feel the sun?
Today the sun almost shines
Can you feel it?” (1)

Meg hat ein Gedicht geschrieben (s.o.), das sie während des Unterrichts vorliest. Ihr Lehrer Auster lobt das Gedicht und meint nach Schluss der Schulstunde, sie könne beim Schreiben noch tiefer gehen, noch besser werden. Er ermutigt Meg, an dem bald stattfindenden Talentwettbewerb für junge Dichter an der Schule teilzunehmen. Ein Sieg würde die Teilnahme am Finale in Florida bedeuten.

Doch Meg hat andere Probleme. Ihr Vater (Mike Ward) hat die Familie verlassen. Er und Megs Mutter Diane hatten nur noch Krach. Diane ist überarbeitet, hat einen schlecht bezahlten Job und versucht, sich in Abendkursen weiterzubilden. Megs kleine Schwester Lily leidet noch mehr unter der Situation. Sie will nicht essen, des öfteren schneidet sie sich in den Fuß oder Arm. Lily ist psychisch schwer angeschlagen. Meg muss tagsüber nach der Schule auf Lily aufpassen. Sie liebt ihre Schwester, aber gleichzeitig kann sie sich um die kranke Schwester kaum richtig kümmern. „Du hast sie bekommen”, sagt sie zu ihrer Mutter, „also kümmere dich auch um sie.” Auch Diane überschaut die Situation kaum noch. Sie hofft auf einen Job als Buchhalterin, den ihr ein Bekannter vermitteln will, um wenigstens aus den Schulden herauszukommen.

Auster, der selbst ein Buch geschrieben haben will, ist bei seinen Schülern angesehen. Er tritt selbstbewusst auf, und vor allem bietet er Meg an, sie für den Wettbewerb vorzubereiten. In den Mittagspausen will er ihr helfen. Er möchte, dass Meg über den Tag schreibt, an dem ihr Vater die Familie verlassen hat. Und Meg schreibt: „Blue Car” nennt sie ihr zweites Gedicht – und gewinnt den Schulwettbewerb.

Dann allerdings spitzt sich die Situation zu: Diane bekommt die erhoffte Stelle nicht und Lily wird so krank, dass sie ins Krankenhaus muss. Diane ist verzweifelt, will Meg verbieten, nach Florida zu fahren, weil sie teure Krawatten in dem Geschäft gestohlen hat, in dem sie seit kurzem arbeitet, um an Geld zu kommen.


Dann stirbt Lily.


Meg zieht zu ihrer Freundin Georgia (Sarah Buehler), nachdem es zu einem handfesten Streit mir ihrer Mutter gekommen ist, und schließlich gelangt sie mit dem Bus nach Florida, um doch noch an dem Wettbewerb teilzunehmen. Dort trifft sie am Strand Auster, dessen Frau Delia und deren Sohn Rob (Dustin Sterling) ...

„I am always on your side
Though you may not believe it
And I know it's been an insane ride
But I am always on your side

If we should go at this time
Then the living's done
If we should go at this time
Then the shadow won
If we should give up trying
Then the living's done
If we should go at this time
The what's the use been?” (1)

Delia weiß genau, was in dem Kopf ihres Mannes vorgeht: Auster will mit Meg schlafen. Aber Delia ist gegenüber dieser Situation hilflos, reagiert nur mit spitzen Bemerkungen. Auster bringt Meg am Strand entlang zu einer Unterkunft, die er gemietet hat. „Geht es dir gut?” fragt er Meg ständig, küsst sie. „Legen wir uns nebeneinander ins Bett? Ist das für dich in Ordnung?” fragt er. Er schläft mit Meg. Meg weiß nicht, was ihr geschieht. Sie kann diese Situation kaum fassen und erfassen. Am nächsten Tag liest sie vor Zuhörern und Jury nicht ihr Gedicht „Blue Car” vor, sondern unter Tränen, aber gefasst, ein neues Gedicht, eines, das deutlich Anklage erhebt gegen Auster, ohne dass sie den Missbrauch direkt anspricht. Sie verlässt den Saal, kehrt nach Hause zurück. Ihre Mutter hat Verständnis dafür, dass Meg eine Zeitlang zu ihrem Vater ziehen will. Die beiden vertragen sich wieder.

„Ich liebe dieses alte Auto”, sagt sie zu ihrem Dad, als der sie abholt. „Und das alte Auto liebt auch dich”, antwortet er.

„I am always on your side
Though you may not believe it
And I know it's been an insane ride
But I am always on your side
I am always on your side
I am always on your side.” (1)

Man kann die Atmosphäre des Films nur schwer in Worten vermitteln. Aber eines kann man mit Sicherheit sagen. Wir haben es nicht mit einem der üblichen Mainstream-Filme oder sattsam bekannten Fernsehproduktionen zu tun, die im schlechten Stile Hollywoods ein Thema „abarbeiten”. Trotz der aufwühlenden Thematik ist „Blue Car” ein stiller Film, ein ruhig inszenierter Film, einer, der genau hinschaut, der differenziert, ein Film, der ebensosehr von einigen Dialogen, aber umso mehr von den Bildern lebt. „Blue Car” ist ein intelligenter Film, der seine Geschichte Stück für Stück und nachvollziehbar entwickelt und seine Personen überzeugend vorstellt.

Gerade in diesem letzten Punkt ist „Blue Car” besonders bemerkenswert. Agnes Bruckners Meg wird zwar als ein „typischer” Mensch zwischen Noch-Kind und Schon-Erwachsener gezeigt. Aber diese Meg kommt uns – auf eine ehrliche und überzeugende Weise – nahe. Meg wird nicht als ausschließlich positive Heldin präsentiert. Sie wird überhaupt nicht als Heldin produziert, sondern als junge Frau mit Stärken und Schwächen, wie wir sie aus der Nachbarschaft kennen (könnten). Meg leidet stark unter dem Weggehen ihres Dad, und sie ist ihrer Mutter deswegen böse. „Er kommt nur nicht so oft zu Besuch wegen dir.” Andererseits liebt sie ihre Mutter. Für Diane ist die Situation ebenso schwierig. Sie hat nicht genug Geld, sie bekommt den erhofften Job nicht, dann stirbt auch noch Lily. Diane ist überfordert. Sie ist wütend auf ihren Mann, sie kann ihn nicht akzeptieren, wie er ist, macht ihm Vorwürfe. Meg hat trotzdem so etwas wie Urvertrauen; sie weiß, selbst wenn sie mit ihrer Mutter Streit hat, dass sie immer wieder zu ihr zurück kann.

In dieser schwierigen Konfliktsituation bietet sich ihr Lehrer an, ihr zu helfen, um an einem Talentwettbewerb teilzunehmen. Auster ist von ihrem Gedicht überzeugt, sagt er. Ob er von Anfang an nichts anderes vor hatte, als mit Meg zu schlafen? Auster ist innerlich schwach. Er ist mit einer Frau verheiratet – schon lange –, von der er sagt, sie sei hoch intelligent und unglücklich. Auch er und Delia haben ein Kind verloren. Der Sohn war vier Jahre alt, als er starb. Auster hat keinen Halt in seiner Ehe, ja, er ist kein souveräner Partner seiner Frau. Es treibt ihn weg. Es treibt ihn zu Meg, zunächst sicherlich, weil er Meg mag und ihr helfen will. Dann verliebt er sich in Meg. Dass sich ein älterer Mann in eine junge, sehr junge Frau verliebt, mag für sich genommen nichts besonderes und Tragisches sein. Dann jedoch schlägt dieses Verliebtsein, das Sich-Hingezogen-Fühlen zu Meg um. Es verknüpft sich mit der Unzufriedenheit mit seiner Ehe.

Karen Moncrieff zeigt präzise die Entwicklung dieses Mannes, gerade indem sie offen lässt, wann sich der „Wandel” vollzieht – vom Verliebtsein zur Verantwortungslosigkeit, zum Missbrauch des Vertrauens, das Meg ihm als quasi Ersatzvater gegenüber entwickelt, weiter zur Einvernahme von Meg und zum Missbrauch. Der Film ist in dieser Hinsicht eindeutig. Gerade in der Szene am Strand und danach zeigt die Regisseurin einen Mann, der seine innere Schwäche auf die junge Frau überträgt: als seelische Einvernahme zunächst durch den Missbrauch ihres Vertrauens. „Wenn ich dir nur sagen könnte, was ich gegenüber dir empfinde”, sagt er zu Meg. Dieser Satz ist die Ankündigung von seelischer Einvernahme und Missbrauch.

Meg ist in diese Situation mit Leib und Seele verstrickt. Sie vertraut Auster vollkommen. Sie sieht in ihm eine Möglichkeit, den Verlust des Vaters zumindest zeitweise zu kompensieren. Sie vertraut ihm und sie vertraut sich Auster an. Und diese emotionale Situation nutzt Auster gnadenlos für sich aus. Er weiß, was er da tut, erst recht nach den eindeutigen Andeutungen seiner Frau ist jedem Beteiligten – außer Meg – bewusst, um was es geht. Aber auch seine Frau tut nichts, um es nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Sie ist vor allem verletzt, sie denkt vor allem an sich selbst – wie ihr Mann.

Moncrieff ist weit davon entfernt, es bei einer Verurteilung des Lehrers zu belassen. Verurteilen ist einfach und schnell vollzogen. Sie versucht – erfolgreich – die emotionalen Verknüpfungen, die zu einem solchen Missbrauch führen, zu visualisieren. Sie zeigt, wie Auster in seiner inneren Schwäche und seiner pathetischen Art eine Atmosphäre der Lüge und des Verrats um sich aufbaut. Auch sein Buch ist eine Lüge, vieles abgeschrieben. Auster kann sich verstecken – vor allem vor seinen Schülern, gegenüber denen er souverän auftreten kann. Genau in diesem Dreieck von äußerer Souveränität Austers, seiner inneren Schwäche und ihren Konsequenzen und der noch kindlichen, aber nichtsdestoweniger (lebens)notwendigen Vertrautheit Megs gegenüber Eltern bzw. Eltern vergleichbaren Personen spielt sich die Tragödie ab.

Der „Befreiungsschlag” Megs am Ende des Films mag – hat man den Film nicht gesehen – als aufgesetzt wirken. Er ist es aber nicht. Er zeigt, dass diese junge Frau ihr Urvertrauen nicht verloren hat.

In Meg spiegelt sich das eigene Kind. Das ist nicht nur einfach so dahin geschrieben. Der Film bringt es zustande, dass man – ist man Mutter oder Vater – in ihr das eigene Kind sehen kann, ja fast sehen muss. Meg erinnerte mich – nicht wegen ihres Aussehens oder ihrer Art – an meine eigenen Töchter. In Meg drückt sich in gewisser Weise die Substanz der Eltern-Kind-Beziehung aus, und Agnes Bruckner spielt dies so überzeugend, wie ich es selten bei einer Schauspielerin gesehen habe. Sie „kreist” um dieses Wesentliche, die Entwicklung von Urvertrauen und Fähigkeit zu lieben, und fängt es (für uns) ein.

Ein wunderbarer Film, der vor allem auch verdeutlicht, wie wenig wachsam wir oft sein mögen, wenn Gefahren für unsere Kinder drohen, weil wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind.

P.S. Der deutsche „Zusatz” „Poesie des Sommers” ist wieder einmal eine dieser ärgerlichen Filmtitel, auf die nur Leute kommen können, die sich um den Film keine Gedanken machen. Unverständlich ist auch, dass der Film in den USA als „R” eingestuft wurde wegen „for sexual content and language”. Das bedeutet, der Film ist für unter 17jährige dort nicht freigegeben, obwohl er gerade für die 12 bis 17jährigen (auch) gedacht ist. In Deutschland ist der Film ab 12 freigegeben.

(1) Lori Carson: „Your Side”, Teil der Filmmusik.