Bunny Lake ist verschwunden
(Bunny Lake Is Missing)
Großbritannien 1965, 107 Minuten
Regie: Otto Preminger

Drehbuch: John Mortimer, Penelope Mortimer, nach dem Roman von Marryam Modell (Evelyn Piper)
Musik: Paul Glass
Director of Photography: Denys N. Coop
Montage: Peter Thornton
Produktionsdesign: Donald M. Ashton

Darsteller: Laurence Olivier (Superintendent Newhouse), Carol Lynley (Ann Lake), Keir Dullea (Stephen Lake), Martita Hunt (Ada Ford), Anna Massey (Elvira Smollett), Lucie Mannheim (Köchin), Clive Revill (Sergeant Andrews), Finlay Currie (Puppenmacher)

Im Dunkel ...

Zu neuen Ufern. Von Amerika in das Gewühl Londons. Eine neue Heimat. Ein neues Haus. Vielleicht ein neues Leben. Hoffnung auf ein bisschen Glück. Eine lange Reise liegt hinter einem. Man muss die Sachen auspacken, sich zurecht finden. Eine Tochter ist auch noch da, die versorgt sein muss. Eine vierjährige Tochter.

Oder ist das alles nur Einbildung? Wunsch? Phantasie? Macht da jemand sich selbst und anderen etwas vor? Werden da Kindheitstraumata in die Zukunft getragen?

Otto Preminger, der am 5.12.2006 100 Jahre alt geworden wäre, drehte 1965 einen dieser typischen, „klaren”, ja fast nüchternen Thriller, die ein bisschen ins Mysteriöse eintauchen, einen Thriller jener 60er Jahre, in denen im Übergang von der Phase der Nachkriegszeit zu einem neuen Aufbruch in eine vermeintlich neue Welt Euphorie einerseits, aber auch leicht depressive Stimmung andererseits herrschte. Diese spezielle Mischung, die sich teilweise im Film genauso offenbarte wie in der Architektur, in der Politik oder in anderen Bereichen der Kultur, zeigte sich ebenso in der Personenzeichnung eines Films wie diesem. Da treffen wir auf eine junge Frau, die auf einen neuen Anfang hofft, aber eben auch auf einen Superintendent, der an nichts anderes glaubt als an das, was er sehen, riechen, schmecken oder hören kann. Ein Realist könnte man sagen, einer dem die Phantasie abhanden gekommen ist, da ihn das, was er aufklären muss, längst auf dem einzig realen Boden belassen hat, den es zu geben scheint: dem Boden der berühmten „Tatsachen”. Alles andere wird in den Bereich des Irrationalen verbannt, von dem man nicht zehren kann, das zurückgeführt werden muss auf das Reale. Superintendent Newhouse – gewohnt glänzend gespielt von einem Schauspieler der „alten” Garde, dem Shakespeare-Mimen Laurence Olivier.

Carol Lynley spielt jene junge Frau namens Ann Lake, voller Optimismus, voller Liebe zu ihrer kleinen Tochter, die sie Bunny nennt, obwohl sie eigentlich Felicia (Suky Appleby) heißt. Ann ist im Stress – im Stress des Umzugs, im Stress, den das Neue verursacht. Wir sehen sie zu Anfang des Films in einer Vorschule, in der sie Bunny angemeldet hat. Sie sucht nach einem Ansprechpartner, doch alle Lehrerinnen scheinen beschäftigt. Nur die Köchin (Lucie Mannheim) beschäftigt sich mit ihr. Ann bittet sie, auf Bunny, die in einem Warteraum sitze, aufzupassen, bis eine Lehrerin käme. Ann muss zurück in ihre neue Wohnung. Die Köchin sagt zu, auch wenn sie gerade sehr damit beschäftigt ist, Buttermilch zu produzieren.

Als Ann später Bunny abholen will, trifft sie auf zahlreiche Eltern, Lehrerinnen und die Leiterin der Vorschule Elvira Smollett (Anna Massey) – nur nicht auf Bunny. Das Kind ist spurlos verschwunden. In ihrer Verzweiflung ruft sie ihren Bruder Stephen (Keir Dullea) an, der Frau Smollett beschuldigt, auf das Kind nicht aufgepasst zu haben. Auch die alte Lehrerin Ada Ford (Martita Hunt), die im Dachgeschoss der Einrichtung lebt, hat Bunny nicht gesehen. Man durchsucht das ganze Haus – nichts. Die Köchin allerdings, die ihren Job aufgegeben hat, ist spurlos verschwunden.

Schließlich ruft man die Polizei. Superintendent Newhouse ermittelt. Gründlich. Befragt alle. Denkt nach. Doch dann muss er feststellen, dass Bunny von niemandem in der Einrichtung gesehen wurde. Keiner kann sich an die Kleine erinnern – trotz einer exakten Personenbeschreibung. Und so erwägt er auch die Möglichkeit, dass Bunny möglicherweise überhaupt nicht existiere. Denn Ada Ford hat ihm von einem Gespräch mit Stephen Lake erzählt, in dem dieser geäußert habe, Ann habe als Kind – wie dies viele Kinder tun – eine Figur phantasiert, die sie: Bunny Lake genannt habe. Stephen weist die Unterstellung von Newhouse entschieden zurück, seine Schwester würde sich ihre Tochter nur einbilden und wäre quasi nicht ganz normal.

Doch dann sind auch alle Kleider, Spielsachen usw. der angeblichen Bunny aus dem Haus verschwunden, in das Ann eingezogen ist. Nur ein Geschenk, das Ann Bunny gekauft hat, findet sich noch in der Küche versteckt. Newhouse allerdings zweifelt trotzdem, ob es Bunny tatsächlich gibt.

Da erinnert sich Ann, dass Stephen die kaputte Puppe ihrer Tochter bei einem Puppenmacher abgegeben hatte. Aber ist das ein Beweis für Bunnys Existenz? Und warum weist die Passagierliste des Schiffes, auf dem Ann mit Bunny angeblich von Amerika herüber gefahren ist, deren Namen nicht auf?

Dann allerdings nimmt der Fall des verschwundenen Kindes plötzlich eine ganz andere Wendung ...

Während der erste Teil des Films sich in den „üblichen”, wenn auch glänzend gespielten, nüchternen Bahnen des spannenden Krimis bewegt – der Suche nach den Gründen des Verschwindens von Bunny –, steigert sich der Film im zweiten Teil zu einem hoch spannenden, psychologisch sehr geschickt inszenierten, mit klaustrophobischen Elementen versetzten Thriller – mit Todesgefahr für einige Beteiligte.

Während im ersten Teil Superintendent Newhouse die Fäden in der Hand zu haben scheint, er es ist, der die Richtung der Ermittlungen angibt und die „Definitionsmacht“ über den Fall zu haben scheint, wankt dieses Gebäude geradliniger Ermittlungsarbeit im zweiten Teil, bricht geradezu zusammen. Nun sind es zwei andere Personen, die plötzlich die Fäden ziehen – und Newhouse braucht am Schluss nur noch zuzugreifen. Mehr zu verraten, wäre eine Gemeinheit.

Geprägt ist der Film jedoch nicht nur von der realistischen Ausrichtung im oben beschriebenen Sinn. Die Handlung wird zudem überformt von der Psychologie Freuds oder das, was man damals im wesentlichen dafür hielt – insbesondere von der These, dass alle schwerwiegenden psychischen Defekte aus Kindheitstraumata erwachsen müssten. In dieser Hinsicht ist der Film einigen Streifen Hitchcocks sehr ähnlich.

Großartig auch die Leistungen der Schauspieler. Während sich Laurence Olivier in der Rolle des Superintendent fast nüchtern zurückhält, beweist Carol Lynley, wie großartig sie diese junge Mutter zwischen Hoffnung, Angst, Verzweiflung und Mut darstellen kann. Ähnliches gilt für Keir Dullea.

Ein leider fast vergessener Thriller Premingers, der so manche Gegenwartsfilme glatt in den Schatten stellen kann.

© Bilder: Columbia Pictures.
Screenshots von einer TV-Aufnahme.