Der große Diktator (1940)
Moderne Zeiten (1936)





Der große Diktator
(The Great Dictator)
USA 1940, 124 Minuten
Regie: Charles Chaplin

Drehbuch: Charles Chaplin
Musik: Meredith Willson, Charles Chaplin, Johannes Brahms (Ungarischer Tanz Nr. 5), Richard Wagner („Lohengrin“)
Director of Photography: Karl Struss, Roland Totheroh
Montage: Willard Nico
Produktionsdesign: J. Russell Spencer, Edward G. Boyle

Darsteller: Charles Chaplin (Adenoid Hynkel / jüdischer Friseur), Paulette Goddard (Hannah), Jack Oakie (Benzini Napaloni), Reginald Gardiner (Kommandant Schultz), Henry Daniell (Garbitsch), Billy Gilbert (Feldmarschall Herring), Grace Hayle (Frau Napaloni), Maurice Moscovitch (Herr Jäckel), Emma Dunn (Frau Jäckel), Bernard Gorcey (Herr Mann), Paul Weigel (Herr Agar)

„Mut reicht nicht, Humor schon“

„Es tut mir leid, aber ich möchte
nun mal kein Herrscher der Welt sein,
denn das liegt mir nicht. Ich möchte
weder herrschen noch irgendwen
erobern, sondern jedem Menschen
helfen wo immer ich kann; den Juden,
den Heiden, den Farbigen, den
Weißen. Jeder Mensch sollte dem
anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt.“

Wenn, „ausgerechnet“ untermalt mit Wagners „Lohengrin“, am Schluss des Films der jüdische Barbier, der für den großen Diktator gehalten wird, vor den organisierten Massen und Soldaten auf die Empore steigt, auf der „Liberty“ eingemeißelt ist, und seine Rede hält, die mit den hier teilweise zitierten Worten beginnt, dann sehen wir nicht mehr den Friseur, dann sehen wir Charles Chaplin selbst. Durch einen gekonnten und immer wieder geprobten dramaturgischen Übergang von der tragischen Komödie, die sich zuvor vor unseren Augen abspielte, hin zu dieser Rede spricht der Weltstar zu uns – eine ernste, eine bittere, aber auch eine hoffnungsvolle Rede, selbst wenn man berücksichtigt, was nach Fertigstellung des Films in Deutschland, in Europa und dann in weiteren Ländern passierte. Gerade im nachhinein wirkt diese Rede Chaplins so aktuell, so gar nicht überholt, obwohl das Tausendjährige Reich längst das Zeitliche gesegnet hat.

Diese Rede, die manche vielleicht für rührselig halten mögen, ist eben doch die Quintessenz des Chaplin’schen Denkens, eines weltberühmten Mannes, vielleicht der einzige Mensch des 20. Jahrhunderts, der so bekannt wurde wie leider die Massenmörder Hitler und Stalin. Nein, rührselig ist das falsche Wort für diese Rede. Jedes Wort kam Chaplin aus dem Herzen und war von Verstand geleitet. Viele hatten dem Künstler des Stummfilms, der hier einen Tonfilm hinlegte, wie man ihn noch nie gesehen hatte, abgeraten, eine Art tragische Komödie oder komische Tragödie über Hitler zu drehen. Die einen aus Furcht vor den Konsequenzen, die anderen aus politischem Kalkül (in Hollywood wurde in den 30er Jahren „untersucht“, wie viele Juden in der Filmindustrie beschäftigt waren! Manche wollten dem deutschen Diktator in den 30er Jahren nicht auf die Zehen treten, teilweise aus geschäftlichen, teils aus politischen Gründen) in Bezug auf „The Third Reich“. Die Machthaber in Deutschland fürchteten die Komik wie der Teufel das Weihwasser, schon gar, wenn es um ihren „Führer“ ging. Und der große Rest wartete gespannt, wie Chaplin dem Diktator den Garaus machen würde.

Chaplin selbst hatte immer wieder Zweifel, ob er, der von den Nazis als „Jude“ tituliert wurde (was er nicht war, wogegen er sich allerdings auch nicht wehrte), den Film wirklich fertigstellen sollte. Konnte und durfte man über diesen Verbrecher lachen? Der Film lehrt anschaulich und trotz des damals noch nicht absehbaren Völkermords: Ja. Einer unter vielen riet Chaplin zu, den Film in die Kinos zu bringen: der amerikanische Präsident Roosevelt. Schon einmal hatte sich Chaplin in „Moderne Zeiten“ mit einem „Großen“ mehr oder weniger deutlich angelegt: mit dem amerikanischen Industriellen Ford, einem glühenden Hitler-Anhänger, Antisemiten und Erfinder der Fließbandarbeit, einem industriellen System, dem man später den Begriff Fordismus verlieh.

„Wir sollten am Glück des Anderen
teilhaben und nicht einander verabscheuen.
Hass und Verachtung bringen uns niemals
näher. Auf dieser Welt ist Platz genug für
jeden, und Mutter Erde ist reich genug
um jeden von uns satt zu machen.
Das Leben kann ja so erfreulich und
wunderbar sein, wir müssen es nur
wieder zu leben lernen!“

Die biographische Parallele zwischen Chaplin und Hitler ist auffallend. Beide wurden im April 1889 geboren und beide nahmen einen unterschiedlichen, ja völlig konträren Weg zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im ersten Weltkrieg. Chaplin, der Anti-Nationalist, der Patriotismus für den Ausgangspunkt schrecklicher Verbrechen und von Ungerechtigkeit jeglicher Art ansah, wurde zum gefeierten und weltweit geliebten Filmstar, Regisseur und Komiker. Hitler wurde zum devot verehrten Verbrecher, der bis zu seinem Aufstieg in der NS-Arbeiterpartei nur Niederlagen in seinem Leben eingesteckt, daraus allerdings nichts gelernt hatte – außer Judenhass und extremen Nationalismus. Im Jahr 1940 kulminiert also, wenn man so will, die Konfrontation von Komik und unermesslicher Tragik, von Menschlichkeit und unerklärlicher Brutalität in einem Film, der das NS-Regime nie und nimmer stürzen konnte, der aber die Herzen und den Verstand von Millionen Menschen erreichte.

In dieser Dialektik von Komik und Tragik, in der besonderen Fähigkeit Chaplins, in einem Film beides auf eine Art zusammenzubringen, die weder die Grausamkeit verniedlicht, noch der Komik einen bitteren Beigeschmack von Lächerlichkeit versetzt, liegt die Bedeutung dieses Films.

Schon in der Anfangsszenerie, in der der jüdische Friseur in der Endphase des ersten Weltkriegs sich – auf typisch Chaplin’sche Art – umsonst bemüht, die „dicke Berta“, eine Kanone in „Schuss“ zu bringen, zeugt von dieser Fähigkeit. Der brutale (Stellungs-)Krieg bekommt sein komisches Fett weg. Chaplin tanzt verzweifelt um die Granate herum, die aus der Berta geplumpst ist, statt in Paris einzuschlagen, und die sich gegen ihn kehrt, indem sie sich immer wieder in seine Richtung dreht (eine Erinnerung an „Moderne Zeiten“, zweifellos; die Technik verselbständigt sich und die Menschen stehen ziemlich dumm da). Dass der Barbier plötzlich im Nebel gemeinsam mit dem (englischen) Feind in einer Reihe marschiert, später im Schlamm landet und das Gedächtnis verliert, nachdem er den Kameraden Schultz kennen gelernt hat, und jahrelang ohne Erinnerung und ohne Kenntnis der historischen Ereignisse bis 1933 in einem Krankenhaus verbringt, ist nicht nur dramaturgische Idee. Es zeugt auch von Chaplins Fähigkeit, Menschen den Spiegel vorzuhalten, etwa nach dem Motto: Habt ihr nicht mitbekommen, was zwischen 1918 und 1933 passiert ist? Macht es denn noch einen Unterschied, ob einer das Gedächtnis verloren hat und sich plötzlich im Ghetto wiederfindet, oder ob andere die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben?

Da steht er nun, der jüdische Barbier, in seinem von Spinnweben durchzogenen Laden, und irgend so ein Soldat oder was auch immer malt die Buchstaben JEW auf seine Fensterscheibe. Das alles kulminiert in einer Szene, in der die SA ihn festnimmt und am Laternenpfahl aufhängt – bis Kommandeur Schultz, der Flieger aus dem ersten Weltkrieg, der jetzt für den Führer Adenoid Hynkel und sein „neues“ Tomanien arbeitet, ihn gerade nochmal retten kann. Auch in dieser Szene beweist Chaplin, wie eine vollkommen tragische Situation durch Komik „erlöst“ werden kann. Er tanzt, ja tänzelt zwischen den sich von beiden Seiten nähernden Sturmtrupps. Später verschwindet er vor einem ihn verfolgenden SA-Mann in typischer Stummfilmmanier durch ein Kellerfenster durch die Beine des verdutzten Mannes hindurch.

Chaplin zeichnet – trotz der bedrohlichen, ja lebensgefährlichen Situation – gerade das Ghetto als einen Hort von Menschlichkeit, Solidarität und Demokratie: im Verhalten der Nachbarn Jäckel, Mann und Agar und der schönen Hannah, der er eine zauberhafte Friseur verschafft, aber auch in einer Szene, in der er zur Musik von Brahms (Ungarischer Tanz Nr. 5) im Takt einen Kunden rasiert, oder auch in der berühmten Pudding-Szene, als Schultz, der sich inzwischen von Hynkel losgesagt hat, aus dem KZ geflohen ist und bei Jäckels versteckt lebt, von einem der Juden das Opfer fordert, sich als Attentäter zu betätigen. In einem Pudding ist ein Geldstück versteckt. Wer diesen Pudding erwischt, muss sich für die Freiheit opfern. Keiner will das natürlich – und plötzlich tauchen mehrere Münzen auf – bis der Barbier drei oder vier Münzen nacheinander ausspuckt.

„Die Habgier hat das Gute im Menschen
verschüttet, und Missgunst hat die
Seelen vergiftet und uns im Paradeschritt
zu Verderben und Blutschuld geführt.
Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt,
aber innerlich sind wir stehen geblieben.
Wir lassen Maschinen für uns arbeiten,
und sie denken auch für uns. Die
Klugheit hat uns hochmütig werden
lassen und unser Wissen kalt und hart.“

Immer wieder konfrontiert Chaplin diese Welt des menschlichen Miteinanders mit der des Diktators Hynkel, seines Feldmarschalls Herring (ein wunderschönes Wortspiel von Hering und Herr), seines Propagandaministers Garbitsch (garbage = Müll) und des „befreundeten“ Diktators Benzini Napaloni (auch hier wieder eine unumwundene Anspielung auf einen Möchtegern-Napoleon, der offensichtlich durch (zu viel) Benzin angetrieben wird, so auch die von Jack Oakie wunderbar dargestellte Person Mussolinis) aus Bacteria.

Wenn Hynkel spricht, wenn er „Wichtiges“ zu sagen hat, dann in einer von Chaplin erfundenen Kunstsprache, die einerseits das Harte, Unbarmherzige, Gnadenlose, gespickt mit einigen richtigen Worten wie „Sauerkraut“, auf komische Weise zum Ausdruck bringt – bis sich selbst die Mikrophone vor Angst, Abscheu und / oder Lachen biegen, eine Sprache, die andererseits aber auch die Leere der NS-Ideologie, die Haltlosigkeit ihrer Grundlagen zum Ausdruck bringt. Redet Hynkel in verständlichen Worten, so kommt der perfide Mensch, der kleine Gauner, der zum größenwahnsinnigen Verbrecher geworden ist, der Kleinbürger und Feigling zum Ausdruck, etwa wenn er vor der berühmten Szene mit dem platzenden Globus den Fenstervorhang hinauf gleitet. Hynkel – das ist kein Schlitzohr, sondern ein hintertriebener Gangster, dem die Umstände in vielen Kleinigkeiten immer wieder andeuten, dass – trotz aller Verbrechen, die er begangen hat und noch begehen wird – sein Reich nicht von Dauer sein kann und wird. Aber diese misslichen Kleinigkeiten seines Lebens, diese Zeichen, kann er in seiner furchtbaren Verblendung und seinem Hass nicht deuten.

Ebenso verfährt Chaplin mit Göring, Herring, dessen geschwollene Brust mit 68 oder mehr Orden und Abzeichen besetzt ist. Als Hynkel Herring vor Wut sämtliche Kinkerlitzchen abreißt, dazu noch die Knöpfe seiner Uniform kommen, stinknormale Hosenträger zum Vorschein. Chaplin stutzt auch Göring auf ein normales Maß herunter. Die vermeintliche Erfindungsgabe Herrings – unbesiegbare Waffe, todsicherer Fallschirm – führt Chaplin in eine absurde Tragikomik: Die sich für diese Experimente zur Verfügung stellenden Versuchspersonen kommen um; die Szenerie bleibt dennoch dem Komischen vorbehalten.

Ebenso verfährt Chaplin mit Napaloni, schon, wenn der Diktator mit „Mama“, seiner Frau, auf dem Bahnhof eintrifft, der Zug vor und zurück rangiert und immer wieder der rote Teppich hin- und her verlegt werden muss. Denn Napaloni steigt nicht aus, wenn kein roter Teppich vor seinen Füßen liegt. Der dann vom Zaun gebrochene Streit zwischen den beiden Diktatoren um Osterlich (Österreich) gehört sicherlich zu den makabersten und zugleich komischsten Szenen des Films. Man könnte meinen, zwei pubertierende Knaben würden sich um einen Fußball oder ähnliches streiten – bis beide Diktatoren sich in Friseurstühlen sich nach oben kurbeln und Hynkel plötzlich herunter fällt.

Schließlich – nachdem die Repressalien im Ghetto unerträglich geworden sind und Hannah und die Jäckels nach Osterlich ausgewandert sind – wird Hynkel beim Entenschießen und nach einem Sturz ins Wasser mit dem Friseur verwechselt und festgenommen, während der wirkliche Friseur nach dem Einmarsch in Osterlich als Hynkel empfangen wird. Es folgt die berühmte Chaplin’sche Rede.

„Wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig.
Aber zuerst kommt die Menschlichkeit und
dann erst die Maschinen. Vor Klugheit und
Wissen kommt Toleranz und Güte. Ohne
Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser
Dasein nicht lebenswert. Aeroplane und
Radio haben uns einander nähergebracht.
Diese Erfindungen haben eine Brücke
geschlagen von Mensch zu Mensch, die
erfassen eine allumfassende Brüderlichkeit,
damit wir alle Eins werden.“

Chaplin löst nicht nur das Grauen in Komik auf, ohne dass dabei das Grauen ins Lächerliche gezogen würde. Es bleibt stets präsent, wie ein roter Faden, an dem sich alle – aus unterschiedlichen Positionen: Täter und Opfer – entlang hangeln müssen. Auch die Pomp-Kultur des Dritten Reiches (unter deutlicher Bezugnahme auf Speer), den Größenwahn, die Zeichen und Symbole (etwa auch Riefenstahls „Triumph des Willens“ von 1935) und die Arroganz der Mächtigen werden ad absurdum geführt, ohne die Gefährlichkeit des Nationalsozialismus zu verniedlichen. So wäre es denn auch falsch, „Der große Diktator“ schlicht als Komödie zu bezeichnen. Dass Chaplin sich der Gefährlichkeit des Regimes vollständig bewusst war, auch wenn er sich sicherlich den Völkermord nicht vorstellen konnte, wird in jeder Sekunde des Films mehr als deutlich.

Erstaunlich ist schließlich, dass Chaplin, der große Meister des Stummfilms, mit diesem Film bewies, wie er sich auch im Tonfilm bewegen konnte, ohne seine vorherigen Arbeiten zu vergessen. In vielen Szenen des Films wird deutlich, wie stark Chaplin noch am Stummfilm und seinen – für ihn immer prägenden – Möglichkeiten orientiert war, und wie Slapstick u.a. im Tonfilm in keiner Weise als störend empfunden werden musste.

„Der große Diktator“ diente später auch anderen als Beispiel, etwa zuerst zwei Jahre später dem großen Ernst Lubitsch in „Sein oder Nichtsein“. Nichts fürchten Diktaturen mehr, als dass man über sie lacht. Darin liegt viel Wahrheit.



Moderne Zeiten
(Modern Times)
USA 1936, 87 Minuten (DVD: 83 Minuten)
Regie: Charles Chaplin

Drehbuch: Charles Chaplin
Musik: Charles Chaplin
Director of Photography: Ira H. Morgan, Roland Totheroh
Montage: Willard Nico
Produktionsdesign: Charles D. Hall

Darsteller: Charles Chaplin (Ein Fabrikarbeiter), Paulette Goddard (Mädchen), Henry Bergman (Cafébesitzer), Stanley J. Sandford (Big Bill, Arbeiter), Chester Conklin (Mechaniker), Hank Mann, Louis Natheaux (Einbrecher), Stanley Blystone (Sheriff), Allan Garcia (Direktor), Sam Stein (Vorarbeiter), Juana Sutton (Frau mit Knopfkleid), Jack Low, Walter James (Arbeiter), Dick Alexander (Sträfling), Dr. Cecil Reynolds (Kaplan), Myra McKinney (Frau des Kaplans), Lloyd Ingraham (Gefängnisdirektor)

Ein noch immer moderner Film

„Modern Times. A Story of
industry, of individual enterprise –
humanity crusading in the
pursuit of happiness.“

„Moderne Zeiten” ist sicherlich auch und vor allem eine Liebesgeschichte –wie fast alle Chaplin-Filme, insbesondere aber „Lichter der Großstadt”. Eine Love-Story, die sich so ganz von den postmodernen Romanzen unterscheidet. Aber Chaplin wäre nicht Chaplin, wenn er es dabei belassen hätte. Die vorsichtige, und dennoch intensive Liebesgeschichte zwischen den erfolglosen Fabrikarbeiter und dem armen Mädchen Paulette Goddard, dessen Vater bei einem Konflikt zwischen demonstrierenden Arbeitslosen und Polizisten während der Weltwirtschaftskrise erschossen wird und deren beide kleine Geschwister ins staatliche Waisenhaus transportiert werden, ist eingebettet in eine der wohl schärfsten und zugleich mit der typischen Chaplinschen Komik versehenen Kritiken des (damals) modernen Kapitalismus, die man sich vorstellen kann.

Chaplin ist einmal mehr der „Looser”, der Ausgestoßene, aber nicht irgendein Verlierer, nicht einer, der vor Selbstmitleid zerfließt, sondern einer, der das beste aus seinem ihm auferlegten Schicksal zu machen versucht, einer, der nicht aufgibt, ein Stehaufmännchen, der seine ganz besondere Art hat, gegen die Umstände der Zeit zu rebellieren. Die Figur des Tramps katapultiert Chaplin hier aus der Zeit des Kapitalismus, wie er seit dem 19. Jahrhundert herrschte, in den fordistischen Kapitalismus der späten 20er Jahre. Der Tramp ist kein Aufsteiger, keiner, der aufsteigen will, aber er ist einer, der letztlich siegt.

Schon in der Anfangssequenz in der modernen Fabrik, in der (fast) alles automatisiert erscheint, macht Chaplin überdeutlich, wen er im Visier hat: Henry Ford, den Erfinder der Fließbandarbeit, und den Taylorismus (1), zusammen später als Fordismus (2) bezeichnet, ein System der Industriearbeit, in der der einzelne zum wirklichen Rädchen im Getriebe des Maschinensystems und deren Besitzer verkommt oder verkommen soll. Menschenmassen drängen in die Fabrik wie eine Schafherde. Wenn man aufmerksam hinsieht, erkennt man unter lauter weißen Schafen ein schwarzes, das Chaplins Tramp symbolisiert.

Die Fabrik wird zur modernen Schlachtbank. Ein über allem thronender Direktor überwacht, per Kamera, den gesamten Ablauf – und doch zeichnet Chaplin selbst diesen Herrn als Menschen: Der Direktor versucht sich an einem Puzzle, bevor er wieder zum Antreiber wird. Der Tramp, der hier zum Rädchen zu verkommen droht, steht am Fließband, um je zwei Muttern festzuziehen, und in der Pause bewegt sich unser Tramp noch immer im Rhythmus des Arbeitsgangs am Fließband – bis er schließlich über das Band in die Maschine hineingezogen wird.

Auch die sich unter dem Deckmantel des Fortschritts verbergende Technikgläubigkeit erfährt bei Chaplin harsche Kritik – am Beispiel einer Essmaschine, die dem Direktor von einer Fa. Bellows angeboten wird und für deren Test unser Tramp als Versuchskaninchen herhalten muss. Die Maschine soll Zeit sparen und würde die Fabrikarbeiter selbst in den Zeiten, in denen sie ihren natürlichen Bedürfnissen nachgehen wollen – also in Zeiten der Freiheit vom Fordismus – zu Anhängseln der Maschine degradieren. Das Experiment geht schief, die Maschine fängt an zu „spinnen” und das Versuchskaninchen muss fast Metallmuttern schlucken, die ein Techniker beim Versuche, die Maschine zu reparieren, auf dem Teller deponiert hat.

Doch es wäre verfehlt zu meinen, der Tramp würde sich alldem bedingungslos unterwerfen. Er wird „irre”. Er schraubt an den Knöpfen am Kleid einer Sekretärin herum, bringt alles durcheinander. Er zaubert aus der eintönigen Mechanik, die das Fabriksystem beherrscht, ein Ballett, mit der Ölkanne in der Hand – und wird schließlich in die Irrenanstalt überwiesen. Nicht die Maschinen und das System des Fordismus sind irre, sondern derjenige, der sich ihnen nicht unterwerfen kann und will.

Chaplins Weg aus dem Fordismus ist eine Art individuelle Rebellion, aber keine individualistische. Wieder arbeitslos geworden, wird er durch einen der vielen „dummen”, prächtig und komisch inszenierten Zufälle zum Anführer einer kommunistischen Demonstration, und ein ebensolcher „dummer Zufall” – der unabsichtliche „Genuss” von Rauschgift im Gefängnis – verschafft ihm die Gelegenheit, ein paar Ausbrecher zu überwinden, wofür er vom Sheriff zur Belohnung wieder freigelassen wird.

Auch hier verdeutlicht Chaplin unverblümt ein Markenzeichen des Systems: Nur wer sich, und sei es zufällig, „verdient” macht, wird belohnt. Chaplin „garniert” dieses Strukturmerkmal mit einer guten Portion Komik, die allein es – wie die ganze Geschichte des Films – erträglich machen kann. Der Tramp rebelliert – in einer Mischung aus inszeniertem Zufall und individuellem Trotz gegen die Vereinnahmung von Millionen.

Doch der zum Fabrikarbeiter respektive Arbeitslosen degradierte Tramp ist, wie gesagt, nicht einer jener individualistischen „Helden”, die sich in blindem Egoismus ergehen. Als ihn das wunderschöne Mädchen, die gerade ein Brot gestohlen hat (garniert mit der Zeitungsmeldung „Pöbel stiehlt Brot”), bei der Flucht in die Arme fällt, bekennt er sich statt ihrer des Diebstahls. Gerade in dieser Szene verdeutlicht Chaplin seinen Helden als einen durchaus nicht nur menschenfreundlichen Zeitgenossen. Denn auch wenn er von der jungen Frau sofort begeistert ist, hat er auch im Sinn, wieder ins Gefängnis zu kommen – denn dort geht es ihm immer noch besser, als wenn er als Arbeitsloser durch die Straßen ziehen müsste.

„Wir werden ein Zuhause haben, selbst wenn ich dafür arbeiten muss”, sagt er nach der Entlassung aus dem Gefängnis zu Paulette Goddard – und fortan kämpfen beide gemeinsame um ihre Position in einer fast aussichtslosen Lage. Auch die Szene im Kaufhaus, in der der Tramp mit dem Empfehlungsschreiben des Sheriffs als Nachtwächter einen Job bekommt, verdeutlicht dies. Endlich kann man sich einmal den Bauch vollschlagen, Rollschuhfahren, das Leben, wenn auch nur eine Nacht lang, genießen. Man lebt von einem Tag zum anderen.

Als Gegenbild zur Essmaschine zeichnet Chaplin eine Szene, in der er als Assistent eines Mechanikers wieder eingestellt wird, dieser durch die Zahnräder der Maschine getrieben wird und stecken bleibt und der Tramp ihn füttert – zwar nicht unbedingt erfolgreich, aber zutiefst solidarisch und menschlich.

Als die junge Frau – die sich mit Tanzen auf der Straße ein paar Cent verdient – von einem Cafébesitzer als Tänzerin eingestellt wird, bekommt auch unser Tramp eine Chance, zunächst als Bedienung – das geht schief –, dann als Sänger, der, weil er die Manschette beim Tanz verliert, auf den seine Liebste den Text des Liedes geschrieben hatte, einen dem Italienischen ähnlichen Text erfindet, ein Kauderwelsch, mit dem der Tramp zum ersten Mal Erfolg hat. Und in diesem Moment, in der die Chance für beide, sich auf eigene Füße zu stellen, so groß erscheint, will die Polizei die junge Frau, die als Landstreicherin gesucht wird, verhaften

Der Tramp wird wieder zum Tramp – und die Schlussszene zeigt beide (im Unterschied zu anderen Chaplin-Filmen, in denen der Tramp allein wieder loszieht), wie sie die Landstraße entlang gehen.

Gerade in diesen Szenen des Traums vom Glück, des Immer-wieder-auf-die-Beine-Kommens, des Nicht-Aufgebens entpuppt sich Chaplin in seinen Filmen als jemand, der von einer tiefen, ja man könnte sagen „abgrundtiefen” Menschlichkeit geprägt ist – nicht etwa von jener Sorte Gutmenschentums, das die Postmoderne oftmals prägt, nein. Bei Chaplin verbindet sich Solidarität gegenüber anderen (hier der jungen Frau) mit dem individuellen Widerstand gegen etwas Entfremdetes, Millionen Menschen Oktroyiertes – und mit einer fast schon als natürlich erscheinenden Respektlosigkeit vor dem spezifischen privaten Eigentum, das den Kapitalismus prägt (besonders deutlich zu sehen in der Kaufhausszene), aber auch mit einer zwar nicht frontalen Kritik, aber dennoch distanzierten Sicht auf den Kollektivismus (er gerät nur zufällig in eine kommunistische Demonstration).

Dass für Chaplin einzig die Kunst, der Film, das Kino die spezifische Rebellion gegen die Entfremdung und das Elend seiner Zeit darstellen, wird nicht nur in „Moderne Zeiten” sichtbar. Auch Kirche und Polizei bekommen klar zu spüren, was Chaplin von ihnen hält (etwa in der Szene, als er der Frau des Kaplans im Büro des Sheriffs gegenübersitzt).

Dass „Moderne Zeiten” zu jenen wenigen Filmen gehört, die alle Zeiten zu überdauern scheinen, liegt an seiner Grundaussage, die bis heute als aktuell gelten kann, wenn auch unter veränderten Umständen modifiziert werden müsste. Es sind jene Prozesse der Sozialdisziplinierung (3) in der Moderne, die der Historiker Gerhard Oestreich vor etlichen Jahren beschrieben hat, die seit Beginn des Kapitalismus wirken und in modifizierter Form noch immer wirken, die den Grundton von „Moderne Zeiten” angeben. „Moderne Zeiten” ist daher im wahrsten Sinn des Wortes ein moderner und anti-modernistischer Film zugleich.

Und der letzte große Stummfilm, der gedreht wurde. Chaplins jahrelange Abneigung gegen den Tonfilm hinderte ihn allerdings nicht darin, selbst in diesem Film gezielt Ton an einigen Stellen einzusetzen – etwa in der Szene mit der Frau des Kaplans, als man während des Teetrinkens die Geräusche des Magens zu hören bekommt. Oder in der Caféhausszene, als Chaplin singt – damals eine faustdicke Überraschung. Prägend für den Film ist auch die eindrückliche Verzahnung von Tragik und Komik, vor allem wenn es Chaplin gelingt, die extreme Traurigkeit der Geschichte in Komik aufzulösen, ohne dass die Tragik dabei verloren ginge. Und last but not least prägt Chaplins Spiel selbst ein guter Schuss Selbstironie, etwa bezüglich der zuweilen zu Tage tretenden Unbeholfenheit des Tramps. Chaplins Tramp ist ein Held, aber kein postmoderner Held ohne Fehl und Tadel (und ohne wirkliches Leben), sondern ein Held des Alltags – mit allen Schwächen und Fehlern.

Man könnte sagen: „Moderne Zeiten” ist für das fordistische Zeitalter, was Kubricks „2001: A Space Odyssee” für die Postmoderne ist. So unterschiedlich beide Filme in ihrer Konzeption, ihrer Inszenierung, ihrer Darstellung auch sein mögen, so ähnlich sind sie doch in ihrer tiefgehenden und prinzipiellen zivilisationskritischen Grundaussage. Dass „Try it again”, das am Schluss von Kubricks Meisterwerk durchscheint, stellt sich bei Chaplin dar als unverbrüchlicher Optimismus des Tramps, der zum Fabrikarbeiter wurde, und wieder zum Tramp werden musste, dem nur die Kunst, das Varieté, das Spielerische bleiben, um zu leben und zu überleben. Try it again. Das Verlorensein, der Verlust, das Defizit bekommen den Tramp nicht klein.

Ursprünglich hatte Chaplin ein anderes Ende des Films im Auge. Die junge Frau sollte als Nonne im Kloster „enden“, der Tramp allein wieder fortziehen. Diese Szene wurde auch gedreht – doch zum Glück entschied sich Chaplin für das Ende zu zweit: Zwei Tramps ziehen, mit allem Mut, den sie haben, die Landstraße entlang. Und vielleicht ist es auch der Liebe Chaplins zu Paulette Goddard (die er, im Alter von 43 Jahren, mit 20 kennen und lieben lernte und mit der er zehn Jahre zusammenlebte) zu verdanken, dass er diesen Schluss wählte – der übrigens weder kitschig, noch romantizistisch daher kommt.

(1) Zum Begriff Taylorismus
(2) Zum Begriff Fordismus
(3) Zum Theorieansatz Sozialdisziplinierung
Für eine genauere Beschäftigung mit diesem Konzept vgl.:
U. Behrens: „Sozialdisziplinierung“ als Konzeption der Frühneuzeitforschung – Genese, Weiterentwicklung und Kritik, zu finden unter:
Veröffentlicht auch in: Historische Mitteilungen 12/1999, S. 35-68.

© Bilder: Warner Brothers, mk2 Editions, dvdbeaver.com


“Lichter der Großstadt” (1931)