Das Kind
(L’enfant)
Belgien, Frankreich 2005, 100 Minuten
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne

Drehbuch: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Director of Photography: Alain Marcoen
Montage: Marie-Hélène Dozo
Produktionsdesign: Igor Gabriel

Darsteller: Jérémie Renier (Bruno), Déborah François (Sonia), Jérèmie Segard (Steve), Fabrizio Rongione (junger Bandit), Olivier Gourmet (Polizist in Zivil), Anne Gerard (Geschäftsfrau), Bernard Marbaix (Geschäftsmann), Jean-Claude Boniverd (Polizist in Zivil), Frédéric Bodson (betagter Bandit), Marie-Rose Roland (Krankenschwester)

„Only fuckers work!” ??

Seraing, Belgien, die Heimatstadt der Regisseure. Die einzige „Musik”, die wir hören, besteht aus Verkehrsgeräuschen, Stimmen, Radiomusik ... typisch für die Brüder Dardenne („Der Sohn”, 2002). Die Kamera hält „voll drauf”. Sie ist so nah an den Personen, wie man dies aus anderen Filmen kaum kennt. Der Zuschauer wird sozusagen „verpflichtet”; es wird einem nicht gestattet, den Blick abzuwenden. Das Bild ist stets präzise auf das gerichtet, was die Regisseure für wichtig halten, und das sind die Akteure – sonst nichts. Und in diesen Bildern lenkt nichts ab – keine Kulissen, keine Nebenschauplätze, keine anderen Personen.

Wir sehen zwei blutjunge Menschen: Bruno (Jérémie Renier) und Sonia (Déborah François). Bruno verdient sein Geld mit Gaunereien, Diebstahl, Handtaschenraub und ähnlichem. Mit zwei noch Jüngeren, darunter Steve (Jérémie Segard), der vielleicht 12, 13 Jahre alt ist, geht er auf Tour, man teilt das Geld auf, gibt es in der Regel gleich wieder aus und geht auf den nächsten Raubzug. Bruno ist mit Sonia befreundet, und Sonia bekommt ein Kind von Bruno. Während er auf einem seiner Raubzüge ist, sucht Sonia ihn, findet ihn und zeigt ihm das Baby, das sie im Jugendgefängnis zur Welt gebracht hat. Ganz ungerührt betrachtet Bruno sein Kind. Die gemeinsame Wohnung hat er untervermietet, um an Geld zu kommen. Beide müssen mit dem Kind ins Obdachlosenheim. Während Sonia mit dem Baby in einem Zimmer schläft, verlässt Bruno des nachts sein Zimmer, in dem noch andere Jugendliche übernachten, und erfährt von einer anderen Betrügerin, bei einer illegalen Adoption könne man viel Geld verdienen.

Bruno telefoniert, handelt einen Preis aus, bekommt einen Treffpunkt genannt, eine verlassene Wohnung. Dort legt er das Baby in einem Raum ab, wartet in einem anderen, bis Unbekannte das Kind abgeholt und das Geld hingelegt haben: 5.000 Euro. Sonia sucht bereits verzweifelt nach dem Baby und Bruno. Und als sie ihn findet, sagt er, ohne mit der Wimper zu zucken, er habe das Kind zur Adoption gegeben. Sonia erleidet einen Nervenzusammenbruch. In der Klinik zeigt sie Bruno an, der der Polizei eine erlogene Geschichte erzählt – das Kind sei nicht von ihm, er habe es nicht verkauft, es sei bei seiner Mutter gewesen, Sonia treibe es auch mit anderen Männern usw. Er muss das Baby zurückholen – und seine „Geschäftspartner” bringen es zurück, verlangen aber von Bruno die doppelte Summe zurück. Bruno muss nun zusehen, wie er das Geld auftreibt ...

Eine gespenstische Atmosphäre. Eine Stadt voller Armut, Diebstahl, Kälte – ja. Aber auch eine zentrale Figur, Bruno, die nicht nur um sich selbst kreist, sondern sich vor allem in einen Teufelskreis sozialer Deprivation manövriert hat bzw. manövrieren ließ. Bruno lebt von der Hand – Diebstahl – in den Mund. Er ist Jäger und potentiell Gejagter. Die Brüder Dardenne erklären im ureigenen Sinn des Wortes nichts. Sie halten „einfach” die Kamera auf die Akteure, vor allem auf Bruno, Sonia und Steve. Diese Kamera hat „rein” beobachtende Funktion. Wir sehen die Handelnden wie ein – nein, sicherlich nicht neutraler – Beobachter, sondern wie ein Dritter, der sich – wie es in der Ethnologie heißt – teilnehmender Beobachter nennen ließe – mit dem Unterschied, dass wir nicht direkt in der Handlung sind, aber indirekt frontal mit der Handlung und den Akteuren konfrontiert werden. Beobachtung und Wertung des Gesehenen überlappen sich natürlich laufend. Wir sehen einen jungen Mann, der sich immer weiter in Schuld verstrickt, ohne auch nur die geringste Schuld zu empfinden. Er handelt ausschließlich nach der Logik seiner Lebensweise, die – geprägt von dem Satz „Arbeit ist etwas für Wichser” – nichts anderes kennt als eine deformierte Form vor-zivilisatorischer Gesellschaften des Jagens und Sammelns, aber eben innerhalb einer Gesellschaft, in der das Eigentum zum Heiligtum deklariert wurde.

Bruno scheint abgebrüht, skrupellos – vor allem, wenn er sein eigenes Kind als reine Sache, als reines Geschäftsobjekt betrachtet. Der Nervenzusammenbruch Sonias ist für ihn (jedenfalls zunächst) nicht etwa Anlass zu „innerer Umkehr”. Wenn er das Baby wiederbeschafft, dann nur, um der Polizei zu entgehen.

Man könnte auch sagen: Diese Geschichte ist eine Art negativ zu verstehende Variante der biblischen Geschichte von Maria und Joseph und dem Jesuskind. Während Maria und Joseph alles tun, um das Kind vor den mörderischen Banden des Herodes zu retten, ist es Bruno, der Vater, der selbst zum Verbrecher am eigenen Kind wird, während die Maria-Sonia sich nicht anders zu helfen weiß, als die Polizei einzuschalten. Die Beziehung beider droht an Brunos Verhalten zu scheitern. Und als Bruno statt von der Polizei nun von den Kriminellen, denen er das Baby verkauft hatte, verfolgt wird, weiß er sich nicht anders zu helfen, als in den vorgezeichneten Bahnen des jugendlichen Diebes fortzufahren. Gemeinsam mit Steve raubt er einer ahnungslosen Fußgängerin die Handtasche, wird von einem Autofahrer, der dies beobachtet hat, verfolgt – bis Steve von der Polizei verhaftet wird.

Und nun geschieht etwas, was den Blick auf Bruno völlig verändert: Er stellt sich der Polizei, gibt das Geld zurück – und als Sonia ihn im Gefängnis besucht, zeigt Bruno das erste Mal Gefühle. Er weint. Beide weinen. Ende.

Da ist keine Moral, außer einer, die sich – fern ab von gesellschaftlichen Moralforderungen – aus der Biografie eines Außenseiters selbst entwickelt. Wenn Bruno am Ende weint, wenn er vorher seinem Freund Steve insofern zu Hilfe kommt, als er sich der Polizei als Haupttäter präsentiert, dann ist dies eine Moral, die sich ausschließlich aus seinen eigenen Erfahrungen und Erlebnissen entwickelt, sprunghaft könnte man sagen. Denn Bruno – der kein Gespür für Ethik hat, schon gar nicht für die gelehrte Ethik universitärer Profession – hat im Lauf seines Lebens „lediglich” eine Art Raubrittermentalität im kleinen, individuellen Maßstab verinnerlicht, die ihm alles andere fremd oder nicht existierend erscheinen lässt.

Die Brüder Dardenne lieben diese Akteure, die sie aus der Wirklichkeit schöpfen, weil sie im Grenzbereich einer Freiheit leben, die einerseits von sozialen Strukturen vorgegeben ist, andererseits sich aber auch bei Akteuren wie Bruno zu einer Selbständigkeit entfaltet, die in einer wenn auch rohen, „ungehobelten” Form Fragmente einer anderen Freiheit in sich trägt. Bruno verkauft sein eigenes Kind nicht aus Skrupellosigkeit, Hass oder anderen negativen Gefühlen heraus. Er KANN nicht anders. Das bedeutet, er kann in dem Baby nichts anderes sehen als ein Objekt, das man zu Geld machen kann. „Wir machen ein Neues”, sagt er zu Sonja, die es nicht fassen kann – wie wir. Aber das Fassbare daran ist, dass Bruno nichts anderes ist als eine Produkt unserer Gesellschaft – und das nicht einmal in dem Sinne, dass er Outsider ist, sondern in der Bedeutung einer kapitalisierten Warenwirtschaft, die selbst nur wenige ethische Grenzen kennt. Das Tragische einer solchen Figur wie Bruno aber ist: Er ist sowohl Produkt unserer Gesellschaft wie Produkt seiner selbst. Die gängige Frage danach, ob „die Gesellschaft” verantwortlich für die Situation und das Handeln eines einzelnen ist oder ob ausschließlich „der einzelne” für sein Tun verantwortlich ist, stellt sich nicht (mehr). Es wird deutlich, wie eng verzahnt beides miteinander ist und sein muss.

Abseits der strafrechtlichen Schuld, die Bruno auf sich lädt, ist er der Prototyp einer archaischen Gesellschaft, die sich – bildlich gesprochen – in unsere Zeit verirrt zu haben scheint, aber dieser Schein trügt eben, weil nur unsere Zeit Bruno „gebären” konnte. Es ist Angst, es ist Kampf ums Überleben, ja, aber eben auch der Versuch, als kleiner Sisyphus zu existieren, was uns die Brüder Dardenne da präsentieren.

Nur wenn man – so in etwa wie beschrieben – Bruno verstehen kann (wohlgemerkt: verstehen, nicht rechtfertigen oder entschuldigen), kann man sich selbst verstehen. Eine noch so ausgetüftelte (Lehrstuhl-)Ethik nützt einem da wenig. Sie endet sowieso nur in Verurteilung, Verdammung, moralischer Degradierung. Die Reduzierung von Menschen auf eine Lebensweise, die auch in Europa inzwischen wieder weit verbreitet auf einen „Kampf ums nackte Überleben” reduziert wird, gebiert solche Menschen wie Bruno. Dass sie selbst oft aus dieser Situation nicht herauskommen oder auch gar nicht wollen, ist die andere Seite derselben Medaille.

Bruno hat das „Glück” in einem Weinkrampf zusammenzubrechen. Er hat sich bemüht: Er übte Solidarität mit Steve und stellte sich. Dass er vor Sonia am Schluss fast zusammenbricht, ist eine Chance, die nicht gering zu werten ist. Sein eigenes Kind ist möglicherweise der Dreh- und Angelpunkt, an dem sich dies erweisen wird: eine Menschlichkeit, die der eingeübten Gleichgültigkeit nur wenige Zeit zuvor diametral entgegengesetzt ist.

© Bilder: Kinowelt.