Satansbraten (1976)
Despair (1978)
Lili Marleen (1981)
Lola (1981)
Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982)

Satansbraten
(engl. Titel: Satan’s Brew)
Deutschland 1976, 107 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder


Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raben
Director of Photography: Michael Ballhaus, Jürgen Jürges
Montage: Gabi Eichel, The Eymèsz
Produktionsdesign: Ulrike Bode, Kurt Raab

Darsteller: Kurt Raab (Walter Kranz), Margit Carstensen (Andrée), Helen Vita (Luise Kranz), Volker Spengler (Ernst Kranz), Ingrid Caven (Lilly), Marquard Bohm (Rolf, Lillys Mann), Y Sa Lo (Lana von Meyerbeer), Ulli Lommel (Lauf, Polizist), Armin Meier (Stricher), Katharina Buchhammer (Irmgart von Witzleben), Vitus Zeplichal (Urs, Jünger Walters), Peter Chatel (Eugen, Verleger), Brigitte Mira (Walters Mutter), Hannes Kaetner (Walters Vater), Adrian Hoven (Arzt)

„Ist das das Paradies?”

„Was die Heiden von uns unterscheidet,
ist jene am Ursprung all ihrer
Glaubensformen unternommene
Anstrengung, nicht vom Menschen
aus zu denken, um die Verbindung
mit der ganzen Schöpfung, das heißt
mit der Gottheit, zu erhalten.”
(Antonin Artaud)

Man schrie es raus – ganz laut, damit es alle hörten. Manche sollten auch Angst bekommen, große Angst, sozusagen das Zittern. Denn man wollte sie – wenn es denn soweit war – auf dem Altar der Geschichte opfern: endgültig, ein für allemal. Trotz Stalin oder gerade wegen Stalin erst recht. Alles kam anders. Keiner zitterte jemals in Deutschland vor der Revolution. Und die Revoluzzer von 68, die Großmäuler vom Dienst – auch ich war mal so eins – verstreuten sich in alle Winde. Sie wurden Lehrer, Klein-, Mittel- oder Großunternehmer, Ärzte, Anwälte (vor allem), Krankenschwestern, Dichter (weit weniger), Schriftsteller (auch nicht so viele), Minister (einige) – oder sie blieben Großmäuler – wie ich hoffentlich nicht.

Die, die Weisheit der Geschichte mit Löffeln gefressen hatten, die Avantgarde des Proletariats, tummelte sich auf Demonstrationen und Matratzen – und die Großmäuler unter ihnen tummelten sich vor allem um sich selbst: Satansbraten eben. Deutschland sah nie eine wirkliche Revolution. Die 1848er war eine kleinbürgerliche Pleite, die 1918 ein (mehr oder weniger oktroyiertes) Werk von kurzer Lebensdauer – und was war 1968? Ich schweige jetzt lieber und lasse Fassbinder „reden”.

Eine Posse folgte den Filmen, „Warnung vor einer heiligen Nutte” (1971) und „Mutter Küsters Fahrt zum Himmel” (1975), die sich um die Konflikte in Kollektiven und in der Linken drehten, am Gipfelpunkt einer selbst ernannten linken Kultur- und Politschickeria, die gegen Mitte der 70er Jahre rapide bergab stürzte und der sich ebenso rapide verbreitenden „neo”konservativen „Revolution”, die u.a. in den Thesen „Mut zur Erziehung” vorwegnehmen wollten und teilweise vorwegnahmen, was sich nur wenige Jahre später mit der Ära Kohl abzeichnen sollte.

„Je linker die Linke sich gibt,
desto mehr ähnelt sie der Rechten.
Das nennt man Verwandtschaft.”
(Ein anonym bleiben wollender Schreiberling!)

In „Satansbraten” steht einer der egozentrischen Ex-Ideologen der linkesten aller linken 68er Jahre im Zentrum des Geschehens, der Dichter Walter Kranz, den Kurt Raab in unübertrefflicher Weise „tanzen” lässt. Walter, der einstige „Dichter der Revolution”, bringt seit zwei Jahren nichts mehr zustande. Ständiger Geldmangel kennzeichnet die Situation, in der er, seine in jeder Hinsicht „auf der Stelle tretende” Angetraute Luise (Helen Vita) und sein psychotisch wirkender Bruder Ernst (Volker Spengler) leben, der jeder die skurrile „Familie” besuchenden Frau erst einmal an die Brustwarzen fasst und sich ansonsten mit dem Sammeln toter Stubenfliegen beschäftigt. Walter ist und bleibt das Zentrum dieses selbstzerstörerischen Häufleins Elend, weil er sich ständig selbst ins Zentrum stellt.

Als sich sein Verleger (Peter Chatel), der ihm schon etliche Tausend Mark Vorschuss für sein nächstes Buch vorgestreckt hat, weigert, auch nur noch einen Pfennig zu zahlen, muss Walter anderweitig Geld auftreiben. Zum Glück gibt es da noch die nymphomanisch und masochistisch veranlagte, aber eben begüterte Irmgart von Witzleben (Katharine Buchhammer), für die Schläge und Erniedrigung das höchste ihrer Gefühle sind. Kaum hat sie den Scheck unterschrieben, erfüllt Walter ihr den sehnlichsten Wunsch: Nachdem er ihr zunächst eine Pistole in den Mund gehalten hat, schießt er auf sie – und verschwindet. Dem Scheck folgt der Schreck.

Offenbar sein einziger Ausweg, denn von Lisa (Ingrid Caven) und ihrem Mann Rolf (Marquard Bohm) kann er zwar jederzeit erwarten, dass Lisa mit ihm schläft – denn das Paar führt eine „offene Zweierbeziehung” – als Walter jedoch um Geld bettelt, schmeißen ihn die beiden hochkant raus.

Mord unwichtig, Geld wichtig. „Satansbraten” ist wohl das bösartigste, was Fassbinder je inszenierte, eine böse Posse auf den linken, aber eigentlich auf den ganzen Kulturbetrieb, das elitäre Denken, die Arroganz einer vermeintlichen oder in Maßen tatsächlich vorhandenen Macht.

Das Geld der armen Irmgart jedenfalls hält nicht lange vor. Und was wäre ein Ex-Dichter der Revolution ohne zündende Ideen? Ein Interviewbuch soll den bornierten Wicht aus der Versenkung reißen. „Interview mit einer Nutte” könnte es heißen. Die Auserwählte ist eine Dame namens Lana von Meyerbeer (Y Sa Lo), die – während ihr Mann auf Montage weilt – den Freuden der bezahlten Lust nachgeht. Zweiter Einfall: Ein Gedicht muss her, und wahrlich, was staunen die ansonsten kreischende und sich an Ernst für das Verhalten Walters rächende Luise und ihr Schwager, als Walter tatsächlich einige Zeilen zustande bringt.

Mit Verlaub jedoch, die Zeilen stammen von dem Lyriker Stefan George (1868-1933) aus dessen Gedicht „Der Albatros” (1) und von nun an geht’s bergauf. Denn Walter meint nun, er sei so etwas wie der wiedergeborene George, bestellt einen Anzug im Stile der Jahrhundertwende (1900), zieht sich eine Perücke auf, um wie George auszusehen und schart zumeist homosexuelle Anhänger um sich – während seine eigenen diesbezüglichen Versuche mit einem Stricher (Armin Meier) – eben nicht in die Hose gehen. Allerdings muss er seine „Fan-Gemeinde” dafür bezahlen, dass man ihn anhört.

Aufgrund seiner Eingebung, George zu sein, lädt er seine treueste Anhängerin, die Besitzerin eines Papierladens namens Andrée (Margit Carstensen), die ihm ständig Briefe der Bewunderung schrieb, ein, bei ihm zu wohnen. „Eigentlich sind sie mein Mann”, sagt die ältliche Jungfer mit Warzen im Gesicht und einer dicken Brille auf der Nase, jedenfalls seine Ehefrau im elitären Geiste, und ab sofort folgt sie dem vermeintlichen Meister auf Schritt und Tritt, beargwöhnt von Luise, die kränklich wirkt und dann auch krank wird.

Dass Walter auch die Prostituierte Lana um Geld erpresst und seinen Eltern (Brigitte Mira und Hannes Kaetner in einer kurzen, aber herrlich-schrecklichen Szene), die er jahrelang nicht gesehen und an denen er gar kein Interesse hat, das gesamte Ersparte abknöpft, versteht sich schon fast von selbst.

Und in diesem ganzen Chaos von Gewalt und Egozentrismus, Skrupellosigkeit und Dummheit, in dem auch noch ein Kriminaler namens Lauf (Ulli Lommel) auftaucht, der den vermeintlichen Mord an Irmgart aufklären will, aber eher neugierig auf die ganze Sippschaft erscheint, entdeckt Walter endlich seine Bestimmung: Das Starke und das Schwache. Walter entdeckt den Faschismus, und er plant sein Buch „Der Faschismus wird siegen, oder: Keine Feier für den toten Hund des Führers”. Der Verleger ist begeistert. Luise soll im Krankenhaus verstorben sein, Walter wird von Zuhältern, die Lana auf ihn hetzt, verprügelt – und erfreut sich dessen –, Ernst soll als Mörder von Irmgart herhalten, holt dann jedoch die Waffe und schießt auf Walter – und am Schluss – ganz am Schluss, ha: da tauchen alle wieder auf – das ganze Theater entpuppt sich als Theater, als wahre Posse: die bis dato unberührte Andrée und der promiskuitive Rolf gründen sich als Paar, Irmgart ist von den Toten auferstanden, Luise desgleichen und die verlassene Lisa zieht bei Walter ein und schaut sich erst einmal die Küche an. Ein Happening der besonderen Art! Und auch Polizist Lauf ist dabei.

„Ist das das Paradies?” fragt Walter. Der Vorhang fällt.
„Das einzige Gefühl, das ich
akzeptieren kann, ist Verzweiflung.”
(Sascha in „Warnung vor einer heiligen Nutte”,
Regie: Fassbinder, Deutschland 1971)

Der Mut der Verzweiflung treibt den Intellektuellen Walter über den Rand des Verbrechens hinaus. In anderen – ob seiner Frau, seinem Bruder, Lisa, Lana oder Irmgart – sieht er nur Rädchen im eigenen egoistischen Getriebe. Nichts ist da einige Jahre nach der Revolte mehr von Revolte. Da revoltiert höchstens noch einer dagegen, dass andere ihn vergessen könnten – und Walter landet „samtweich” in einer verwaschenen, primitiven rechten Ideologie, die aber auch nicht so recht(s) funktionieren will – es sei denn für ein erlesenes Publikum, das mal schnell den linken Wahn, der langweilig geworden ist, in einen rechten umdeutet. Plastisch und drastisch, zynisch und ohne Skrupel führt Fassbinder uns eine „Gemeinde” vor, die einmal angetreten war, das Falsche und Verlogene, das Ungerechte und Verkommene einer Gesellschaft zu entlarven, darauf zu pochen, Freiheit zu praktizieren – und die in ihrer eigenen Arroganz und Eitelkeit zu (ver)enden scheint.

Vor allem Walter, aber weiß Gott nicht nur er, wütet durch diese eigentlich „grausame, überdrehte Satire auf den Opportunismus der Kulturindustrie und den Narzissmus der Künstler” (Thomas Elsaesser) (2), mit der die Kritiker nicht viel mehr anfangen konnten, als seine Aussagen auf Fassbinder selbst und seinen Umkreis zu projizieren, was dem Film in keiner Weise gerecht wird.

Fassbinders Distanz zur „Neuen Linken” und zur Kulturindustrie war bekannt. Und so begrenzt sich diese wütende und vor allem mittels ihrer Darsteller Wut schnaubende Satire keineswegs auf die linke Szene. Die Eitelkeiten und Sonderheiten der Protagonisten werden „rein gewaschen” – durch Sprache beispielsweise. Wenn der meist schweigende und Fliegen sammelnde Ernst (entsetzlich komisch und tragisch von Volker Spengler gespielt) jeder Frau an den Busen fasst, erklärt Walter dem Opfer, Ernst mache das bei jeder weiblichen Besucherin, woraufhin etwa Lana mit den Worten reagiert: „Ach so, na dann” – als ob dadurch das Grabschen zur Normalität würde. (Wird es!) Auch der Schuss auf Irmgart erscheint als Normalität, denn als Polizist Lauf bei Walter erscheint, der sich gerade die Füße badet, lädt er ihn ein, seine Füße auch in die Schüssel zu tauchen – und schon erscheint beider Verhältnis eher als „nette Bekanntschaft” und der (vermeintliche) Mord wird zur belanglosen Nebensache.

Wo Wut herrscht, haben die Opfer zu schweigen. Im (angeblichen) Geiste Georges mutiert Walter zum kleinen Herrenmenschen, versucht sich in Homosexualität, genießt die masochistische Unterwerfung Andrées – und entpuppt sich so als prototypischer Kleinbürger mit vergangenem linkem und nun rechten Antlitz. Und letztendlich wird Walter durch die ihm von Schlägern angetane Gewalt „geläutert”. Bravo!

„Satansbraten” ist eine für Fassbinder ungewohnte Art filmischen Schaffens, und auch für den Betrachter bezeugt der Film Überraschendes und Ungewohntes. Doch im Kontext der Entstehungszeit betrachtet wird die Lächerlichkeit und Erbärmlichkeit einer herabgewirtschafteten linken Intelligenzija sichtbar, die dem konservativen Rekurs ab Mitte der 70er Jahre in keiner Weise gewachsen war.

Allerdings muss man gerechterweise sagen: die „68er” hatten auch etwas Gutes ...

(1) Das Gedicht stammt eigentlich von Charles Baudelaire. George übersetzte es ins Deutsche.
Zu George: „Die deutsche Niederlage bestärkt George in seinem pädagogischen Glauben, für das Volk eine hellenisch beeinflusste Vision vom Ethos der Jugend schaffen zu müssen. In der Weimarer Republik, der er distanziert gegenübersteht, vereinigt sein Schülerkreis zionistische und antisemitische Mitglieder ebenso wie nationalistische und republikanische Anhänger. Der Einfluss des George-Kreises, dem auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg angehört, ist in dieser Zeit vor allem für die Jugendbewegung prägend. [...] Die Gedichte seines Spätwerks fasst er in ‚Das neue Reich’ zusammen. Die völkischen Ideologen der immer stärker aufkommenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) versuchen, George als Vorreiter zu vereinnahmen. Dieser versteht sein ‚neues Reich’ jedoch als ein geistiges und warnt seine Schüler vor der politischen Demagogie.”

Quelle:
http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/GeorgeStefan/

George gehörte zu jenen elitären, aber nicht nationalsozialistischen, konservativen Intellektuellen, die durch „geistige” Führerschaft der vermeintlich aufkeimenden „Vermassung” durch die Demokratie entgegenwirken wollten. Die Rohheit der NS-Ideologie war ihm fremd und zuwider.
(2) Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2001, S. 452).



Despair – Eine Reise ins Licht
(Despair)
Deutschland, Frankreich 1978, 119 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder


Drehbuch: Tom Stoppard, nach dem Roman von Vladimir Nabokov
Musik: Peer Raben
Director of Photography: Michael Ballhaus
Schnitt: Reginald Beck, Juliane Lorenz
Produktionsdesign: Rolf Zehetbauer

Darsteller: Dirk Bogarde (Hermann Hermann), Andréa Ferréol (Lydia), Klaus Löwitsch (Felix Weber), Volker Spengler (Ardalion), Peter Kern (Müller), Alexander Allerson (Mayer), Gottfried John (Perebrodov), Hark Bohm (Arzt), Bernhard Wicki (Orlovius), Roger Fritz (Inspektor Braun), Adrian Hoven (Inspektor Schelling), Y Sa Lo (Elsie), Lilo Pempeit (Sekretärin Hermanns)

„Helixe und Fermänner”

„Ich war ein Schwarzhemd, das in der
Weißen Armee die Roten bekämpfte;
dann war ich selbst in der Roten Armee
und zog gegen die Braunhemden, und
jetzt bin ich nur noch ein yellow-belly
(ein Feigling) in einem braunen Geschäft.”
(Hermann Hermann über sich selbst)

Hermann Hermann (Dirk Bogarde) war ständig auf der Flucht – vor sich selbst und vor einer Gesellschaft, in der er als bürgerliches Subjekt keine Identität finden kann. Jetzt, als er mit einem anderen Schokoladenfabrikanten namens Mayer (Alexander Allerson) über eine Fusion verhandelt, eigentlich eher darum bettelt, fürchtet er, im persönlichen wie politischen Strudel nach Beginn der Weltwirtschafskrise zu versinken. Das allerdings ist ihm nicht bewusst, weil er kein politischer Mensch ist. Es ist ein Gefühl der Angst, das Hermann beschleicht, eine Angst, die ihn nicht lähmt, untätig werden oder in Agonie verfallen lässt. Nein, Hermann kämpft gegen das Braun, das naht, dass alle Ängste zu konzentrieren scheint, positiv (aber nicht für ihn) zu wenden scheint in eine verfälschte Identität.

Alles um ihn herum scheint sich mehr und mehr auf diese Identität hin zu bewegen, sein Produktionsleiter Müller (Peter Kern) zum Beispiel, der über Versailles schimpft und eines Tages in brauner Uniform erscheint, sich den Kragen zurechtrückt, als ob er sich vergewissern wolle, dass er er ist, er aber als ein Ich, das seine Bestimmung im Führer gefunden zu haben scheint. Müller vergewissert sich seiner Männlichkeit, die eine neue Identität in Rasse und Nation als quasi weibliches Pendant annimmt – eine Entwicklung, die Hermann noch mehr Angst macht.

Doch Hermann Hermann ist kein Antifaschist, kein politischer Mensch. Er empfindet dies auf einer ganz „persönlichen”, sozusagen privaten Ebene. Seine Fluchtbewegungen, die jetzt folgen, sind keine, zu denen sich die politisch Verfolgten nach 1933 gezwungen sahen. Hermann ist auch keiner, bei dem man von „innerer Emigration” sprechen könnte. Er zieht sich nicht zurück in ein Kloster oder den Bayerischen Wald. Hermann versucht, seiner bürgerlichen Existenz, seiner Identität zu entfliehen, eine Hülle abzustreifen, um in eine neue zu schlüpfen, um anderswo ein neues Leben zu beginnen.

Fassbinder zeichnet in „Despair” nach einem Roman von Nabokov und auf Basis eines Drehbuchs, das ihm einer der bekanntesten Drehbuchautoren, Tom Stoppard, schrieb, das Bild eines Mannes, den die Identitätskrise, genauer seine Krise als bürgerliches Subjekt, in die Randzonen des Wahnsinns, des Verbrechens und des Realitätsverlusts treibt. Seine Ehe mit der un-intellektuellen und un-intelligenten Lydia (Andréa Ferréol) ist gescheitert. Hermann ist impotent. Seine Reaktion auf diese Impotenz ist Verdrängung durch Verdopplung. Schon in einer der ersten Szene sieht man ihn im Dunkeln sitzen, wie er sich selbst beim Sex mit Lydia zuschaut. Er phantasiert seine Potenz durch Verdopplung seiner selbst und Verleugnung seines Defizits. Lydia hat ein Verhältnis mit ihrem im Hause des Ehepaares lebenden Cousin Ardalion (Volker Spengler), einem Maler. Auch dies verdrängt Hermann. Er nimmt es nicht wahr, weil er es nicht wahrnehmen will.

Mit dem beruflichen (die Fusionspläne Hermanns scheitern) wie privaten Desaster des Schokoladenfabrikanten korrespondiert das Scheitern der Weimarer Republik. Die Geschichte spielt vor allem im Zeitraum nach dem Rücktritt des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller, ein Rücktritt, der einen Wendepunkt hin zur Machtübernahme der Nationalsozialisten darstellte. Doch diese Korrespondenz zwischen den privaten Ängsten Hermanns und den politischen Entwicklungen bis 1933 ist für Hermann selbst nicht sichtbar. Zunehmend verliert Hermann die Fähigkeit zur Wahrnehmung dessen, was um ihn herum vorgeht. Im Versicherungsmakler Orlovius (Bernhard Wicki) sieht Hermann einen Psychologen, bei dem er sich über seinen Weg zu einer neuen Identität rückversichern will. Als Orlovius und Ardalion über die politischen Ereignisse sprechen und Lydia Hermann fragt, wie er darüber denkt, antwortet er: „Ich denke gar nicht. Ich habe nur mein Leben versichert.”

Auch hier wieder eine Dopplung. In der bei Orlovius abgeschlossenen Lebensversicherung und in der psychologischen (Selbst-)„Versicherung” über eine neue Identität manifestieren sich Hermanns Wünsche nach einer inneren Flucht, die durch eine äußere „nur” begleitet wird. Er lernt den Gelegenheitsarbeiter Felix Weber (Klaus Löwitsch) kennen, der ihm ähnlich sehe, wie er meint. Tatsächlich jedoch besteht keine Ähnlichkeit zwischen beiden. Auch hier wieder: Hermann sieht, was nicht ist, und sieht nicht, was ist. Er bietet Weber Geld, wenn der in Hermanns Kleidern in einem Auto an einen Ort fährt, wo man Hermann kennt. Lydia erzählt Hermann, er habe seinen ihm ähnlich sehenden Bruder getroffen, der ein Mörder sei, sich deswegen gräme und Selbstmord begehen wolle. Er, Hermann, wolle ihm dabei helfen, weil sein Bruder (in Wirklichkeit Felix) ihn darum gebeten habe, dann in dessen Haut schlüpfen und in der Schweiz ein neues Leben beginnen.

Hermann schneidet Felix die Nägel, macht ihn zurecht, lässt ihn seine Kleidung anziehen – und erschießt ihn. Man soll denken, man habe ihn, Hermann, ermordet, und er will als Felix eine neue Identität annehmen. Im Traum phantasiert er ein Treffen zwischen ihm und Lydia am Genfer See. Als sich im Traum Hermann zu Lydia umdreht, sieht der Zuschauer Felix, der keine Ähnlichkeit mit Hermann hat. Aber Hermann sieht sich in Felix.

Selbst als die Polizei Hermann festnimmt, schlüpft er wieder in eine neue Rolle. Hier endet der Film. Aber Hermann wird bis zu seinem Tod immer wieder versuchen, „aus seiner Haut zu fahren”.

Fassbinder visualisiert diese Geschichte, die eher eine Art Psychogramm des Endes des Weimarer Republik und des Protagonisten im Film darstellt, in fast unnahbaren Bildern. Michael Ballhaus fotografierte insbesondere Dirk Bogarde als Hermann Hermann aus einer fast schon kalten Distanz heraus, die eine Identifizierung mit Hermann kaum zulässt. Immer wieder entzieht sich diese Person der Nähe des Betrachters. Der Film endet, wie er anfing, wenn auch auf einer Art „höheren Ebene”. Die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion verschwinden, weil sie für Hermann keine Bedeutung haben. Sein Kreisen im magisch-tragischen Dreieck von Wahnsinn, Identitätsverlust und der Suche nach einer anderen Identität ist eine Bewegung im subjektiven Teufelskreis, umrahmt von politischen Entwicklungen, die Hermann nicht wirklich wahrnimmt. Zugleich wird dadurch die Wahrnehmung des Betrachters bzw. genauer: das Verhältnis zwischen Zuschauer und Kino kritisch durchleuchtet. Denn der Zuschauer sieht, was nicht existiert, und sieht nicht, was existiert – wie Hermann Hermann auch.

„Es scheint mir sogar zuweilen, als
habe mein Grundthema, die Ähnlichkeit
zwischen zwei Personen, eine tiefe
allegorische Bedeutung. [...] In meiner
Phantasie stelle ich mir eine neue Welt vor,
in der alle Menschen einander so ähnlich
sehen wie Hermann und Felix; eine Welt
der Helixe und Fermänner; eine Welt,
wo ein Arbeiter, der zu Füßen seiner
Maschine tot umfällt, sofort durch seinen
vollkommenen Doppelgänger ersetzt wird,
der das heiter-gelassene Lächeln des
vollkommenen Sozialismus auf den
Lippen trägt.” (1)

Die Kritik bürgerlicher Subjektivität in einer durch ökonomische wie persönliche Krise gekennzeichneten Zeit besteht vor allem darin deutlich werden zu lassen, dass Hermanns Flucht in den Wahnsinn dort endet, wo sie begonnen hat: im Identitätsverlust. Der Abschluss der Lebensversicherung und der Mord an Felix Weber sind reel betrachtet nichts anderes als der Versuch der Reproduktion genau dieser bürgerlichen Subjektivität, der Hermann doch entfliehen wollte. Tatsächlich geht es ihm dabei nicht in erster Linie um Geld, sondern um Identität. Aber selbst das Scheitern dieses Wegs wird Hermann nicht bewusst. Er behauptet gegenüber den ihn festnehmenden Polizeibeamten, er sei ein berühmter Schauspieler. Und an dieser Stelle, ganz am Schluss, macht Fassbinder etwas, was alles bisher Gezeigte in einer anderen Perspektive erscheinen lässt. Er lässt Dirk Bogarde sagen: „Schaut nicht in die Kamera. Ich komme heraus.”

Durch diese Worte entsteigt Hermann Hermann bzw. Dirk Bogarde quasi dem Film selbst. Der Identitätsverlust Hermanns als Ausgangspunkt des Films, gekennzeichnet durch Kastrationsangst (Impotenz) und Mord als Ausdruck der Flucht vor diesem Verlust an Subjektivität, wird „plötzlich” zum Problem des Betrachters selbst, der sich in einem anderen magischen Dreieck wiederfindet: als Zuschauer zwischen dem „Auge” Kamera und den Darstellern. Der Identitätsverlust bzw. irgendein persönlicher Verlust oder ein Defizit des Betrachters werden „plötzlich” zum eigenen Problem des Zuschauers im Verhältnis zum gerade Gesehenen; der visuelle Konstruktivismus, der Voyeurismus und auch das Einlassen des Betrachters auf die „Prostitution”, die das Kino bewerkstelligt, entpuppen sich als Bindeglied, als Kitt zwischen erzählter Geschichte und Publikum. Das weist – äußerst kritisch – auf die Macht der Bilder, die Fassbinder in „Despair” dekonstruiert – vor einem zeitgeschichtlichen Kontext, der alles andere als „unschuldig” erscheinen kann.

Es verweist aber auch und eben gerade auf eine defizitäre Bestimmung dessen, was wir „Identität”, „Subjektivität” nennen, vor allem in der Hinsicht, dass unter Identität oft etwas Fixes, Ahistorisches, Zeitloses verstanden wird, das das bürgerliche Subjekt eindeutig in Raum und Zeit „verorten” soll.

Für Fassbinder, so ist stark zu vermuten, war dieses Identitätsverständnis zentraler Ausgangspunkt für das, was im Film Produktionsleiter Müller verkörpert: Die Erneuerung der Identität im Zeitpunkt des Verlustes auf etwas außerhalb liegendes, hier: den Führer. Was für Müller der richtige Weg, ist für Hermann deshalb falsch, weil ihm diese „Ersatz-Identität” Angst macht. Er sucht im Privaten (Felix Weber), was Müller im Politischen (Hitler) zu finden glaubt. Hermann tötet einen anderen in der Hoffnung, in dessen Haut zu schlüpfen. Müller wird andere töten, sobald ihm die kollektive Veranstaltung des Nationalsozialismus dies erlaubt, um seine Identität zu reproduzieren. Die strukturelle Übereinstimmung in beiden Fällen ist trotzdem gegeben, auch wenn die tragischen Folgen beider Wege nicht zu vergleichen sind.

Die historische Aussage Fassbinders ist in dieser Hinsicht eindeutig: Der Weg Hermanns ist das unbewusste Eingeständnis des Zusammenbruchs bürgerlicher Subjektivität und (negatives) Symbol der Ankunft des Nationalsozialismus, und damit auch und vor allem des Staates als identitätsstiftender Kraft der Entsubjektivierung und Vernichtung.

(1) Vladimir Nabokov: Verzweiflung, in: ders.: Frühe Romane 3, 1997, S. 474 f.



Lili Marleen
Deutschland 1981, 120 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder


Drehbuch: Manfred Purzer, Rainer Werner Fassbinder, Joshua Sinclair, unter Verwendung von Lale Andersens „Der Himmel hat viele Farben“
Musik: Peer Raben, Norbert Schultze („Lili Marleen“)
Director of Photography: Xaver Schwarzenberger, Michael Ballhaus
Schnitt: Rainer Werner Fassbinder, Juliane Lorenz
Produktionsdesign: Rolf Zehetbauer

Darsteller: Hanna Schygulla (Willie), Giancarlo Giannini (Robert), Mel Ferrer (David Mendelsson), Karl-Heinz von Hassel (Hans Henkel), Erik Schumann (von Strehlow), Hark Bohm (Taschner), Gottfried John (Aaron), Karin Baal (Anna Lederer), Christine Kaufmann (Miriam), Udo Kier (Drewitz), Roger Fritz (Kauffmann), Rainer Will (Bernt), Raúl Gimenez (Blonsky), Adrian Hoven (Ginsberg), Willy Harlander (Prosel), Barbara Valentin (Eva), Helen Vita (Grete), Elisabeth Volkmann (Marika), Lilo Pempeit (Tamara), Brigitte Mira (Nachbarin), Rainer Werner Fassbinder (Günther Weisenborn)

„Aussuchen, wie man leben will, wenn man überleben will?”

„Vor der Kaserne,
Vor dem großen Tor,
Stand eine Laterne
Und steht sie noch davor.
So woll'n wir uns da wiederseh'n,
Bei der Laterne woll'n wir steh'n,
Wie einst, Lili Marleen.
Unsere beiden Schatten
Sah'n wie einer aus,
Dass wir so lieb uns hatten,
Das sah man gleich daraus.
Und alle Leute soll'n es seh'n,
Wenn wir bei der Laterne steh'n,
Wie einst, Lili Marleen.“ (1)

Fassbinders „Lili Marleen” ist in einer Hinsicht ein Phänomen: Einerseits hatte Fassbinder geschworen nie wieder mit Hanna Schygulla zusammenarbeiten zu wollen, andererseits verkörperte die Schauspielern zu dieser Zeit den weiblichen deutschen Star auf internationalem Parkett, wozu ihr vor allem ihre Rolle in „Die Ehe der Maria Braun” verholfen hatte. Das unperfekte perfekte Paar Fassbinder-Schygulla kam dennoch wieder zusammen. Denn „Lili Marleen” war eine Auftragsarbeit, und das ausgerechnet von seiten des Produzenten Luggi Waldleitner, einem der ältesten Produzenten Deutschlands, der der Industrie nahestand und dem konservativen Lager, sowie dem Drehbuchautor Manfred Purzner, der der Münchner Schickeria und ihrem konservativen Establishment nahe stand. Fassbinder griff dennoch zu, machte aber zur Bedingung, dass er das Team für den Film zusammenstellen konnte. Schygulla stimmte zu, war aber nicht bereit, unter einem Regisseur Purzer zu arbeiten. Ein Arrangement besonderer Qualität: die Repräsentanten des Neuen Deutschen Films arbeiteten mit denen zusammen, sozusagen „den Vätern”, gegen die sie zeither rebelliert hatten. Thomas Elsaesser weist zurecht auf die Parallelität zwischen Fassbinder und der Rolle der Willie im Film hin: „[...] sich gebrauchen lassen als Vorzeigefigur in einer bestimmten politischen Konstellation und sich dabei trotzdem selbst nicht untreu werden” (2).

„Lili Marleen” ist insofern Ausdruck von zweierlei: Fassbinder verkaufte sich an die Macher der Hitler-Welle, die zu dieser Zeit grassierte. Und er verkaufte über den Film eine eigenständige Sicht des Faschismus bzw. des Kontextes von Faschismus, Ästhetik und seiner eigenen Sicht in puncto Bestimmung sämtlicher menschlichen Beziehungen durch Tauschwert, also als Warenbeziehungen. Dabei ist Lale Andersens Biografie in gewisser Weise nur der Aufhänger für die im Film erzählte Geschichte, die in weiten Teilen von Andersens Beschreibung abweicht. Das Lied, die Beziehung der Andersen zu dem in der Schweiz lebenden Komponisten Rolf Liebermann und einige wenige andere biografische Einzelheiten griff Purzer auf, das meiste andere ist erfunden oder beruht auf Spekulationen (z.B. die Frage der Beteiligung am Widerstand).

„Schon rief der Posten:
Sie blasen Zapfenstreich,
Es kann drei Tage kosten!
Kamerad, ich komm' ja gleich.
Da sagten wir Aufwiederseh'n.
Wie gerne wollt' ich mit dir geh'n,
Mit dir, Lili Marleen!
Deine Schritte kennt sie,
Deinen schönen Gang.
Alle Abend brennt sie,
Mich vergaß sie lang.
Und sollte mir ein Leid gescheh'n,
Wer wird bei der Laterne steh'n,
Mir Dir, Lili Marleen?“ (1)

Zürich 1938. Willie (Hanna Schygulla) liebt Robert (Giancarlo Giannini). Das Glück ist groß für Willie. Es strahlt über ihr ganzes Gesicht. Willie singt, nicht besonders erfolgreich, nicht einmal besonders gut, aber sie träumt von einer großen Karriere. Robert ist Komponist und hat Chancen, berühmt zu werden. Willie ist Deutsche, Robert ist Jude, sie lieben sich in der Schweiz. Aaron (Gottfried John) holt die beiden in die Wirklichkeit zurück, die Wirklichkeit von Roberts Vater David Mendelsson (Mel Ferrer), einem begüterten Mann, der eine Hilfsorganisation leitet, mit Hilfe derer er Juden und jüdisches Vermögen aus Deutschland herausholt. Robert arbeitet als Kurier für diese Organisation, und sein Vater betrachtet die Verbindung mit einer Deutschen als Gefahr für seine Arbeit. Doch Robert hält an der Verbindung zu Willie fest. Willie weiß zunächst nichts von Roberts Tätigkeit. Sie singt, und sie wird in Zürich gehört von zwei Deutschen in Zivil, dem SS-Gruppenführer Hans Henkel (Karl-Heinz von Hassel) und dessen Adjutanten von Strehlow (Erik Schumann). Henkel ist fasziniert von Willie. Er ist Beauftragter Goebbels für Kultur in München.

David Mendelsson ist entschlossen, die Arbeit seiner Organisation nicht zu gefährden. Er trifft sich mit Willie und bittet sie, Robert bei seiner nächsten Kurierfahrt nach Deutschland zu begleiten. Inzwischen jedoch kauft er sämtliche Schuldscheine auf und schwärzt Willie bei der Ausländerpolizei an. An der Grenze wird Willie die Wiedereinreise in die Schweiz verweigert. Robert, der von den Machenschaften seines Vaters erfährt, ist erbost, zieht sich in seine Arbeit als Musiker zurück.

„Aus dem stillen Raume,
Aus der Erde Grund,
Hebt mich wie im Traume
Dein verliebter Mund.
Wenn sich die späten Nebel dreh'n,
Werd' ich bei der Laterne steh'n
Wie einst, Lili Marleen.“ (1)

Willie ist verzweifelt, erinnert sich an Henkel. Der besorgt ihr in München einen Auftritt im „Simpl“, wo sie den Pianisten Taschner (Hark Bohm) kennenlernt. Ein unbekanntes Lied „Lili Marleen“ bringt die Anwesenden in Streit. Aber Henkel und von Strehlow gefällt der Song. Und Henkel will unbedingt, dass das Lied auf Platte aufgenommen wird.

Derweil sucht Robert verzweifelt nach Willie, begibt sich selbst in Gefahr, als er 1939 in München bei Henkel im Garten auftaucht, während der mit Willie „Lili Marleen“ auf Schallplatte aufnimmt und Hitler gerade den Angriff auf Polen als Verteidigung verkauft.

„Es zittern die morschen Knochen
Der Welt vor dem roten Krieg,
Wir haben den Schrecken gebrochen,
Für uns war's ein großer Sieg.
Wir werden weiter marschieren
Wenn alles in Scherben fällt,
Denn heute da hört uns Deutschland
Und morgen die ganze Welt.“ (3)

Als der deutsche Sender der Wehrmacht nach der Einnahme von Belgrad mehr zufällig „Lili Marleen“ spielt, wird das Lied zu einem Hit unter den Soldaten, später auch bei alliierten Sendern. Willie macht Karriere. Sie und Taschner ziehen in ein Haus, das der Führer persönlich für sie bereit gestellt hat. Robert dagegen, den die Gestapo überwacht, wird mit falschem Pass festgenommen. Und auch Willie gerät in Gefahr, weil sie für die Organisation in der Schweiz einen Film über die Situation in den Konzentrationslagern geschmuggelt hat. Ihr Ansehen bei Hitler schützt sie noch. Vor allem aber ist es von Strehlow, der sie vor dem Schlimmsten bewahrt: Er nimmt den Film an sich und leitet ihn weiter an Mendelsson. Was sie nicht weiß: Robert hat inzwischen auf Druck seines Vaters Miriam (Christine Kaufmann) geheiratet ...

„Und liegt vom Kampfe in Trümmern
Die ganze Welt zuhauf,
Das soll uns den Teufel kümmern,
Wir bauen sie wieder auf.
Und mögen die Alten auch schelten,
So lasst sie nur toben und schrei'n,
Und stemmen sich gegen uns Welten,
Wir werden doch Sieger sein.“ (3)

Die Partei hat inszeniert. „Führer befiehl’, wir folgen“ prangt es über der Bühne. Wohl geordnet sitzen Parteigenossen in Reih und Glied, fesche Mädels in Bauerntracht umsäumen die Halle. Ein Fanfarenchor wartet geduldig auf den Auftritt. Ein Schild auf der Bühne trägt die Inschrift der Städtenamen, die die Wehrmacht bereits erobert hat oder in Siegesgewissheit zu erobern gedenkt. Aus dem Hintergrund tritt sie auf, in einem weißen Glitzerkleid, schlank und schön, die roten Lippen noch unbewegt. Eine Stufe, zwei Stufen schreitet sie auf dem Treppchen herab. Die Musik setzt ein. „Lili Marleen“. Willie, die längst zu Lili Marleen geworden ist, durch eine bewusst inszenierte Metamorphose, erobert das ausgewählte Publikum wie die Soldaten an der Front. Selbst die Alliierten haben erkannt, welchen Bannstrahl dieses Lied, gesungen von dieser Frau, erzeugt. Ein Heuchler der, der behauptet, sein Herz sei nicht gerührt – von diesem Lied, dieser Stimme, dieser Frau!

Die Inszenierung des Regimes scheint perfekt. Ein Lied und eine Frau, die eins geworden zu sein scheinen, kanalisiert den Terror und die Macht in die Bahnen einer Show. Während die Rosen Lili Marleen auf der Bühne zufliegen und sie und das Regime in Glanz und Glimmer erleuchten, zerfetzen Bomben Zehntausende von Soldaten und türmen sich die Leichenberge in den Vernichtungslagern. Sechs Millionen hören das Lied täglich, sechs Millionen Menschen sterben in den Öfen der Schlächter.

Aber Fassbinder geht es in „Lili Marleen” nicht um Schuldzuweisungen. Verurteilt wurde schon, die Barbarei ist längst als solche und in vielen Einzelheiten bekannt und erkannt. „Lili Marleen” ist vielmehr auf der Spurensuche und verknüpft verschiedene Ebenen des Kontextes „1939-1945”, um zu einer Analyse zu kommen, die über den Komplex „Schuld und Sühne, Verantwortung und Verantwortungslosigkeit” hinausgeht. Die Geschichte ist – von der Melodramatik her gesehen – im Grunde eine doppelte. Während Robert, dem klassischen Melodrama folgend, aus einer schmerzhaften und unerfüllten Liebe (zu Willie) heraus zu einem Nachkriegshappyend „geführt” wird (Erfolg als Musiker, Dirigent, Heirat mit Miriam), verkehrt sich das Melodramatische bei Willie. Bei ihr steht die Liebe am Anfang, dann kommt der Erfolg als Star, und am Schluss steht in puncto Robert die bittere Erfahrung, dass Wunsch und Begehren unerfüllbar sind.

Willie liebt Robert über die Jahre des Krieges hinweg. Je weniger sie sich sehen (können), desto größer ist ihr Wunsch, sich mit Robert „irgendwann” wieder zu vereinen. Hier liegt ihr fast schicksalhaft anmutender Irrtum. Denn ansonsten handelt Willie nach dem Gesetz des Tausches: Gebt ihr mir das, gebe ich Euch das. Während sie sich einerseits dem Regime gegenüber prostituiert und als Markenzeichen, als wirkliches Zeichen des Regimes vermarkten lässt und dafür entsprechende Privilegien, Ruhm, Geld erhält, behauptet sie andererseits ihre Unabhängigkeit gegenüber den sie begehrenden Männern (Henkel und von Strehlow, aber auch Taschner), eben auch, weil sie dadurch, dass sie an ihrer Liebe zu Robert festhält, eine unabhängige Entscheidung trifft, die niemand beeinflussen kann.

Es sind diese emotionale Grundentscheidung und die Erkenntnis, dass ihr Leben und Überleben von der grundlegenden Bestimmung durch Tauschverhältnisse geprägt ist, die ihr Verhalten einer gewohnten Sichtweise à la: „Sie hat sich den Nazis verschrieben, um Ruhm zu erlangen”  etc. entziehen. Das mag auch damalige Kritiker des Films dazu bewogen haben, Fassbinder vorzuwerfen, er habe sich – in welcher Weise auch immer – zu sehr der Ästhetik des Faschismus genähert. An einer Stelle des Film sagt Willie zu Robert, der wissen will, auf welcher Seite sie steht:

„Auf deiner Seite. Solange ich lebe, werde ich immer auf deiner Seite stehen. Aber man kann es sich nicht immer aussuchen, wie man leben will, wenn man überleben will.”

Diese Aussage ist ernst gemeint, nicht nur so dahin gesagt. Sie fällt in der wohl zentralen Szene des Films, in der alle Bedeutungen, Zeichen, Ereignisse, privaten wie politischen Dimensionen in einer Sequenz derart „übertrieben” zusammengeschnitten wurden, dass es einiges an Überlegung kostet, was Fassbinder hier eigentlich deuten will.

„Sie wollen das Lied nicht begreifen,
Sie denken an Knechtschaft und Krieg
Derweil unsre Äcker reifen,
Du Fahne der Freiheit, flieg!
Wir werden weiter marschieren,
Wenn alles in Scherben fällt;
Die Freiheit stand auf in Deutschland
Und morgen gehört ihr die Welt.” (3)

Willie ist bei Henkel, um das Lied aufzunehmen. Die Aufnahmen dauern die ganze Nacht. Und Willie ist nervös und müde. Henkel ordnet um 6 Uhr morgens eine Pause an. Er lässt das Radio anstellen. Man hört den Führer mit den Worten: „Seit 5.45 wird jetzt zurückgeschossen.” Kriegsbeginn. Im Hintergrund steht Frau Lederer (Karin Baal), eine Verbindungsperson des Widerstands in München. Im Garten – es ist noch dunkel – wartet Robert, der Gewissheit will, auf welcher Seite Willie steht. Alles und alle sind beisammen. In dieser Szene konzentriert sich die ganze Tragik der damaligen Situation in wenigen Personen. Sämtliche Schnittpunkte, „Verwicklungen”, Konfliktsituationen usw. sind ebenfalls „beisammen”.

In den Problemen bei der Aufnahme des Liedes offenbart sich die Widersprüchlichkeit des Hits selbst – äußerlich formuliert in dem Zwist zwischen Goebbels, der das Lied als zersetzend brandmarkt, und Hitler, der die Bedeutung des Lieder für das Regime erkannt hat –: es schwankt zwischen Todessehnsucht („Aus dem stillen Raume, aus der Erde Grund hebt mich wie im Traume Dein verliebter Mund. Wenn sich die späten Nebel dreh'n, werd' ich bei der Laterne steh'n”) und Defaitismus, Verweigerung („so woll'n wir uns da wiederseh'n, bei der Laterne woll'n wir steh'n, wie einst Lili Marleen”), enthält aber zugleich ein Versprechen, das durch seine allabendliche Wiederholung dem Regime nützlich wird: die Aussicht auf die Wiedergewinnung des verlorenen (Liebes-)Objekts nach (!) dem Schrecken des Krieges. Das Lied reproduziert damit das Doppelgleisige  der NS-Ideologie: Nur durch den (totalen) Krieg („Anstrengung”, Kampf, Mut etc.) werde das „Tausendjährige Reich” („das Himmelreich auf Erden”) möglich.

Die Brüchigkeit dieses Kontextes offenbart sich in der Szene durch die Schwierigkeiten, zu einer angemessenen Aufnahme zu gelangen: Henkel drängt, Willie will „doch nur ein Liebeslied singen”. Das Lied wird montiert mit dem „Kriegsausbruch”, den Hitler ideologisch als Verteidigungsmaßnahme verkauft (das Märchen um den polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz).  Draußen wartet Robert, der Gewissheit von Willie will. Später wird sie aus Liebe zu Robert den Film über die KZs schmuggeln. Der Widerstand in der Person von Frau Lederer wartet ebenfalls. Die Szenerie ist beängstigend und enthüllend zugleich. Alle warten. Henkel auf die Aufnahme, Robert auf Willie, der Widerstand auf Willie, Willie wartet auf das Ende der Aufnahme, die sie überfordert (sie will doch nur ein Liebeslied singen).

Aber gerade in dieser „Warteschleife” liegt die bittere Ironie, die Fassbinder in diese Szene hineinprojiziert. Das Warten symbolisiert in gewisser Weise nur die massive, an diesem Punkt – dem Angriff auf Polen – konzentrierte Abhängigkeit, der sich die Handelnden unterworfen haben. Das Wort „Verstrickung” erhält so einen verschobenen Bedeutungsgehalt, weil es nicht mehr „einfach” um „persönliche Verstrickung” geht, sondern um ein komplexes Abhängigkeitsverhältnis, das von einzelnen nur noch schwer durchschaubar ist. Sich verstricken und verstrickt werden durch andere werden in dieser Sicht zu einer untrennbaren Einheit, so dass „Schuld” nur ein Moment des Geschehens darstellt.

Die Herrschaft der Tauschverhältnisse bis in die letzten Winkel menschlicher Beziehungen offenbart sich auf drastische und zugleich (durch die Montage in dieser Szene) ironische Weise.  Robert hat sich dem patriarchalen Vater unterworfen. Dafür erhält er eine „alternative” Frau, Miriam, die dem System, das sein Vater repräsentiert, angemessen ist. Andererseits: Das Regime bietet Willie Ruhm, sie tritt als Gegenleistung dafür als Star auf. Sie schmuggelt einen Film, um Robert ihre Liebe zu beweisen in der Hoffnung, sich wieder mit ihm zu vereinen („So woll’n wir uns da wiederseh’n”).

Fassbinder gruppiert die Geschichte und seine Protagonisten um ein Lied. Die Person, also das Subjektive, verschmilzt mit diesem Lied (Willie unterzeichnet Autogrammbilder mit „Lili Marleen”). Diesem Vorgang sind das Ich zerstörende Momente inhärent, doch zugleich gewinnt Willie durch diese Verschmelzung, diese Ineinssetzung mit einem Lied Freiheit, ja sogar Widerstand (sie unterstützt Günther Weisenborn, eine Hauptfigur des Widerstand, im Film gespielt von Fassbinder). Dies ermöglicht Fassbinder, über die schale, in den 70er Jahren gängige Gleichsetzung von Faschismus und Kultur – hier gleich Film, Kino, Hollywood – eine eigene Position zu bewahren, bei der es darauf ankommt, in welcher Weise die Zeichen und das Zeichensystem wirken, in welchem Kontext sie stehen, und nicht allein darauf, ob ein Regime diese Zeichen instrumentalisiert oder instrumentalisieren kann.

Das Lied „Lili Marleen” verbindet – zumindest ist dies Inhalt des Films – die Protagonisten, aber auch Kinopublikum und Star im Film, Schauspieler und Publikum, Lied und Publikum und so weiter. Wie gesagt: Es ist kaum möglich – und wenn dann ein Akt des gezielten Ausweichmanövers –, sich der Anziehungskraft von Hanna Schygulla gleich Willie gleich Lili Marleen zu entziehen. Selbst als Henkel nach Willies Selbstmordversuch sie zwingt, noch einmal vor versammelter Partei aufzutreten und Willie, körperlich und seelisch geschwächt, hergerichtet fast wie eine Leiche zur Beerdigung, vom Treppchen steigt, stolpert, sich aber aufrecht hält, verbreitet dieser Star eine Anziehungskraft, die kaum kalt lassen kann. Jetzt allerdings repräsentiert ihr Auftritt schon den Untergang des Reiches. Den Kopf nach oben gehalten, die Augen geschlossen, blass, gibt sie sich noch ein letztes Mal her. Aber auch in dieser Szene liegen Prostitution und das Beharren auf Anders-Sein – und damit die Sprengkraft der gesamten Situation des Krieges, der Vernichtung hier, der Liebe und des Widerstands dort – so nahe beieinander, dass es die Vorstellungskraft des Betrachters fast sprengt und ihn emotional zu zerreißen droht.

(1) „Lili Marleen“ (Musik: Norbert Schultze, Text: Hans Leip)
(2) Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2001, S. 240. Vgl. auch dort die umfangreiche Analyse des Films, S. 239-280.
(3) „Heute (da) (ge)hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“, neben dem „Horst-Wessel-Lied“ wohl das bekannteste und berüchtigste NS-Lied. Hans Baumann, Jahrgang 1914, Mitglied der Führung der Hitlerjugend, hatte den Text als Gedicht verfasst. Der Text wurde von den Machthabern mehrfach geändert.



Lola
(Lola)
Deutschland 1981, 113 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder


Drehbuch: Peter Märthesheimer, Pea Fröhlich, Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raben, Freddy Quinn, Rudi Schuricke
Director of Photography: Xaver Schwarzenberger
Schnitt: Juliane Lorenz
Produktionsdesign: Rolf Zehetbauer

Darsteller: Barbara Sukowa (Lola), Armin Mueller-Stahl (von Bohm), Mario Adorf (Schuckert), Matthias Fuchs (Esslin), Helga Feddersen (Frau Hettich), Karin Baal (Mutter von Lola), Ivan Desny (Wittich), Karl-Heinz von Hassel (Timmerding), Sonja Neudorfer (Frau Fink), Elisabeth Volkmann (Gigi), Hark Bohm (Völker), Rosel Zech (Frau Schuckert), Isolde Barth (Frau Völker), Christine Kaufmann (Susi), Y Sa Lo (Rosa), Karsten Peters (Redakteur), Nino Korda (TV-Mann), Ulrike Vigo (Mariechen), Herbert Steinmetz (Pförtner), Günther Kaufmann (GI)

Es kommt der Tag ...

„Es kommt der Tag,
da will man in die Fremde,
dort wo man lebt,
scheint alles viel zu klein
Es kommt der Tag,
da zieht man in die Fremde und
fragt nicht lang, wie wird die Zukunft sein.
Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong,
hab ich Sehnsucht nach der Ferne -
Aber dann in weiter Ferne,
hab ich Sehnsucht nach zu Haus.
Und ich sag zu Wind und Wolken:
Nehmt mich mit, ich tausche gerne
all die vielen fremden Länder
gegen eine Heimfahrt aus.“
(Freddie Quinn: Unter fremden Sternen)

Lola (Barbara Sukowa) – das ist die Heimat und die Fremde, das Eigene und der Traum vom Anderen, das Glücksversprechen in einer Zeit, die man gemeinhin als Zeit der Restauration, des konservativen Wiederaufbaus und der Verdrängung der Vergangenheit bezeichnet. Lola – das ist aber auch eine Frau aus Fleisch und Blut, eine berechnende und zugleich nach Leben gierende Frau. Lola – das ist die Mutter einer unehelichen Tochter und die Sängerin in einem Etablissement, das zwischen Kitsch und Gesang, Prostitution und Show das zweite Zentrum der Stadt Coburg bildet, neben dem Rathaus, in dem die wichtigen Entscheidungen zwar nicht getroffen, aber abgesegnet werden, Entscheidungen, die die Stadt nach vorne bringen sollen.

Lola versteht es, die Männer, die Herren der Stadt, in ihren Bann zu ziehen. Lola ist intelligent, denn sie kennt ihren Weg zwischen Rebellion und Anpassung. Dieser Weg ist ein bestimmter, einer, der der Zeit angemessen ist. Ihre Rebellion und ihre Anpassung sind ebenso bestimmt, keine abstrakten Mittel für abstrakte Ziele. Wir befinden uns nicht im Himmelreich und nicht in der Hölle, nicht irgendwo und irgendwann, sondern in der Phase der Nachkriegszeit an einem konkreten Ort mit konkreten Menschen in konkreten Umständen.

Diese Feststellung ist wichtig. Denn sie ist die Voraussetzung, die Fassbinder dazu veranlasste, aus einem ursprünglich geplanten Remake von „Der blaue Engel“ (1930) einen ganz anderen Film zu drehen, der mit „Die Ehe der Maria Braun“ (1978/79) und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ (1981/82) die so genannte „BRD-Trilogie“ bildet – eine Trilogie, die sich mit der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, den 50er Jahren beschäftigt. Ein Blick, wie Fassbinder immer wieder betonte, nicht als Rekonstruktion einer (ominösen) historischen Wahrheit über die 50er Jahre gedacht, nein, ein subjektiver Blick auf die 50er Jahre aus den 70er Jahren heraus.

„Am Tag als der Regen kam, langersehnt, heiß erfleht,
auf die glühenden Felder, auf die durstigen Wälder,
am Tag als der Regen kam, langersehnt, heiß erfleht,
da erblühten die Bäume, da erwachten die Träume,
da kamst du.
Ich war allein im fremden Land,
die Sonne hat die Erde verbrannt,
überall nur Leid und Einsamkeit,
und du, ja du, so weit, so weit.
Doch eines Tages vom Süden her,
da zogen Wolken über das Meer,
und als endlich dann der Regen rann,
fing auch für mich das Leben an,
ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja.
Am Tag als der Regen kam, langersehnt, heiß erfleht,
auf die glühenden Felder, auf die durstigen Wälder,
am Tag als der Regen kam, weit und breit, wundersam,
als die Glocken erklangen, als von Liebe sie sangen,
da kamst du, da kamst du.“
(Dalida: Am Tag als der Regen kam)

Fassbinder visualisiert eine Stadt mit bereits festgefügten Mechanismen des politischen, sozialen und kulturellen Lebens. Ein Bauunternehmer, Schuckert (Mario Adorf), ist der ungekrönte Herrscher von Coburg, flankiert von Bürgermeister Völker (Hark Bohm), Polizeichef Timmerding (Karl-Heinz von Hassel), Sparkassenleiter Wittich (Ivan Desny) und einigen wenigen anderen Honoratioren. Sie alle treffen sich nicht nur im Rathaus, um die Geschicke der Stadt zu bestimmen, sondern auch in der Villa der Frau Fink (Sonja Neudorfer), einer Mischung aus Bordell und Cabaret, aus Vergnügen und Bindung – Bindung zwischen den Mitgliedern der örtlichen modernen Patrizier. Lola gehört Schuckert. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Schuckert zahlt ihr Geld, auch für ihre Tochter Mariechen (Ulrike Vigo), er zahlt ihr eigentlich alles, und wäre auch bereit, ihr die „Villa Fink“ zu kaufen. Lola ist Schuckerts Mätresse. Seine Frau (Rosel Zech) weiß dies, genau wie die Ehefrauen der anderen wissen, was ihre Männer in die Villa treibt, in der Gigi (Elisabeth Volkmann), Rosa (Y Sa Lo) und Susi (Christine Kaufmann) als Prostituierte arbeiten.

Als der neue Baudezernent von Bohm (Armin Mueller-Stahl) seinen Posten antritt, sehen sich Völker und Schuckert einem Mann gegenüber, der Korruption und Vetternwirtschaft wegräumen will, einem, der sich als moralisch integer versteht. Gefahr im Verzug. Von Bohm verliebt sich in Lola, von der er jedoch nicht weiß, dass sie in der Villa singt und Schuckert gehört. Und dann ist da noch der Träumer und Kriegsgegner, Bakunin-Leser und Angestellte im Baudezernat Esslin (Matthias Fuchs). Auch er ist verliebt in Lola, aber er hat kein Geld. Er muss sich darauf beschränken, in der Villa Schlagzeug zu spielen, um Lola zu sehen. Und er sinnt auf Rache. Der Tag wird kommen, meint er, und zeigt dem Moralisten von Bohm die „Villa Fink“ und Lola. Jetzt, meint von Bohm, ist der Zeitpunkt gekommen, um den herrschenden Familien samt ihrer Huren den Garaus zu machen.

Doch von Bohm hat nicht mit Schuckerts Intelligenz gerechnet ...

Zweifellos liegt eine Interpretation von „Lola” nahe, die die 50er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland als eine Zeit beschreiben, in der sich Korruption, miefige Kleinstadtenge und skrupelloses Geschäftemachen die Klinke in die Hand geben. Lässt man den Film allerdings genauer Revue passieren, fällt zunächst auf, wie Fassbinder die Personen zueinander gruppiert, wie er die Geschichte auflöst und dass ihn eigentlich nicht so sehr die Frage interessiert, dass es Korruption und Vetternwirtschaft gab, sondern wie sie zustandekommen – in einem weiteren Sinne: wie nach 1945 respektive 1949 in so schneller Zeit das sog. „Wirtschaftswunder” möglich gewesen ist.

Lola
ist eine Frau, die erkannt, erspürt hat, wie sie zugleich emanzipiert sein, als auch Teil der Männerwelt bleiben kann. Selbstbehauptung, das hat sie erkannt, ist nicht möglich, wenn sie die Spielregeln der feinen Gesellschaft konterkariert, sondern nur, wenn sie sie für sich ausnutzen kann. Sie lässt sich von Schuckert bezahlen, aber der Besitz Schuckerts an ihr ist eben „nur” Besitz, kein Eigentum. Sie drängt auf Selbständigkeit, und das heißt „ganz einfach” Zugehörigkeit zur besseren Gesellschaft in Coburg. Dies erreicht sie letztlich dadurch, dass Schuckert sie „zur Ehe freigibt”: Sie heiratet am Schluss von Bohm und wird damit Teil der führenden Schicht in Coburg. Dieser Handel kommt dadurch zustande, dass Schuckert in seiner Weitsicht erkannt hat, dass von Bohm nur dadurch in das soziale Gefüge integriert werden kann, wenn er das bekommt, was er wirklich will: Lola. Aber Lola erreicht noch mehr. Bisher waren es nur die Männer, die sich neben ihren Ehefrauen Geliebte leisten konnten. Das kann Lola jetzt auch. Sie ist verheiratet und „leistet” sich Schuckert weiterhin. Selbst dessen arrogante Frau zollt ihr Respekt, wenn sie am Schluss zu Lola sagt, sie sei eine Frau, mit der man rechnen muss – anstatt ihr die Augen auszukratzen.

Schuckert
hat die Spielregeln der „sozialen Marktwirtschaft”, wie sich der Kapitalismus nun – gelehrt durch die Erfahrungen im Nationalsozialismus – nennt, verinnerlicht. Er weiß, worauf es ankommt: auf soziale Integration statt auf Feinderklärung (Erhard nannte dies „formierte Gesellschaft”). Von Bohm ist Schuckert „eigentlich” sympathisch. Zunächst rät er Völker, von Bohm zu entlassen. Doch dann erkennt er, dass von Bohms Schwäche – die Liebe zu Lola – eine viel bessere Möglichkeit bietet, den aufbegehrenden Moralisten in das Gefüge der Stadt zu integrieren. Das gelingt. Die Geschäfte gehen weiter.

Von Bohm
wird an seinem wunden Punkt getroffen: seiner Liebe zu Lola. Diese Liebe bzw. überhaupt die Liebe ist der zentrale Punkt, an dem Integration letztlich gelingt. Dies deutet – erneut – auf Fassbinders Zweifel an der Auffassung von Liebe als Möglichkeit des Gelingens persönlicher Beziehungen. Noch deutlicher als in seinen anderen Filmen wird in „Lola”, dass Fassbinder Liebe als ein „politisches” Konzept ansieht, das rein funktionalen Charakter hat – entweder in Richtung (Selbst-)Zerstörung oder in Richtung der Realisierung sozialer (herrschender) Integration. Von Bohm und Lola werden durch ihre – durch Schuckert vermittelte und „genehmigte” – Heirat in das moderne Patriziat der Stadt aufgenommen, Mariechen, Lolas uneheliche Tochter, bekommt einen legalen Vater – die Verhältnisse entsprechen der gewollten Ordnung.

Esslin,
der Träumer, der diese herrschenden Verhältnisse verachtet, der Bakunin liest und an Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung teilnimmt, wird zwar von Bürgermeister Völker am Schluss entlassen, weil er die führenden Herren der Stadt wegen ihrer Heuchelei verhöhnt. Doch auch hier ist es Schuckert, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und Esslin eine Arbeit in seinem Bauunternehmen anbietet. (Schon vorher hatte Schuckert den Kriegsgegnern eine ordentliche Geldspende gegeben.) So gelingt ihm auch bei Esslin, was an Integration notwendig ist, um in der Stadt Frieden zu stiften und den Widerstand zu kontrollieren.

Wenn im Film das Wahlplakat Adenauers mit dem Titel „Keine Experimente” aus dem Jahr 1957 gezeigt wird, so wird durch die Handlung deutlich, wie Fassbinder diese Aussage des damaligen Bundeskanzlers interpretiert. Er bezieht dies (übrigens wie Adenauer selbst auch nicht) nur auf den Ost-West-Konflikt, sondern vor allem auf die stabile innere Lage, auf eine stabile politische und soziale Ordnung, in der alles seinen geregelten Gang geht. Dies funktioniert – so der Film – nicht in der Hauptsache über Unterdrückung und Gewalt, sondern über spezifische integrative Mechanismen – so jedenfalls Fassbinder: die Instrumentalisierung starker persönlicher Zuneigung (bei Lola und von Bohm) einerseits, die Umleitung von unproduktiven Rachegefühlen (bei Esslin) in produktive Tätigkeiten, in dem er dem Träumer eine reale Basis in seinem Unternehmen schafft, ihm also eine gewisse Macht (unter Schuckerts Aufsicht) verschafft, seine Abneigung gegen die herrschenden Familien der Stadt also produktiv wendet.

„Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt,
Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt,
Zieh’n die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus,
Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus.
Nur die Sterne sie zeigen ihnen am Firmament
Ihrem Weg mit den Bildern, die jeder Fischer kennt.
Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt,
Hör von fern wie es singt:
Bella, bella, bella Marie,
Bleib mir treu, ich komm zurück morgen Früh,
Bella, bella, bella Marie,
Vergiss mich nie.
Wie der Lichterschein draußen auf dem Meer
Ruhelos und klein, was kann das sein
Was irrt so spät nachts umher?
Weißt Du was da fährt?
Was die Flut durchquert?
Ungezählte Fischer, deren Lied von fern man hört ...“
(Rudi Schuricke: Capri-Fischer)

Trotz dieser kompakten, in sich geschlossenen Handlung, die ihre Logik in sich entfaltet, verzichtete Fassbinder nicht darauf, der Fassade, die dieser sozialen Ordnung anhaftet, ja anhaften muss, einen entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Nicht nur das Ambiente der „Villa Fink” mit ihren Bonbonfarben und die Schlager der 50er Jahre, auch die knalligen, ja überdeutlich aufgesetzten Farben des Films deuten diese „Scheinheiligkeit” des Geschehens an: das plakative Rot der Villa, das Blau in von Bohms Wohnung zum Beispiel. In einer Szene sitzen von Bohm und Lola im Auto; es ist dunkel. Von Bohm ist in Blau, Lola in Rosa gefilmt, also die berühmten Babyfarben. Als sie sich küssen, bleibt diese farbliche Differenzierung aufrechterhalten. Diese Übertreibung repräsentiert letztlich das, was man die Popkultur der 50er Jahren in einem weiteren Sinne bezeichnen könnte und sich verbal in den Schlagern von Rudi Schuricke, Freddie Quinn und Dalida ausdrückt: Fernweh und Heimweh als in den Schlagern rührselig bis kitschig, aber dennoch bei näherer Betrachtung sehr deutlich formulierte Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, und damit auch die unerfüllte Sehnsucht nach „echten” und ehrlichen Gefühlen, die in die Ferne, in den Süden zumal, projiziert werden, und die Einsicht, dass man dem realen „zu Hause” nicht entfliehen kann.

Genau dies gilt für die Handelnden in „Lola”. Das „Offizielle” ihrer persönlichen Beziehungen ist nicht echt, weil die Ehen Schuckerts, Völkers und dann auch von Bohms und Lola weitgehend Konvenienzehen sind, während ihre wirklichen sexuellen Verhältnisse – geknüpft in der „Villa Fink” zwar echt, aber „inoffiziell” sind. Aus dieser Verschiebung und Verlagerung scheint es keinen Ausweg zu geben.

Man mag zu alldem, was in „Lola” gezeigt wird, Widerstand empfinden. Aber Fassbinder ging es in seiner „BRD-Trilogie” nicht um Empörung. Er suchte ganz offensichtlich nach Erklärungen, wie sich nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland Gesellschaft wieder konstituierte und welche Mechanismen dafür maßgeblich waren. Eine Sicht aller drei Filme lässt dies deutlich spürbar werden.



Die Sehnsucht der Veronika Voss
Deutschland 1982, 104 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Peter Märthesheimer, Pea Fröhlich, Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raaben
Director of Photography: Xaver Schwarzenberger
Schnitt: Juliane Lorenz
Produktionsdesign: Rolf Zehetbauer

Darsteller: Rosel Zech (Veronika Voss), Hilmar Thate (Robert Krohn), Annemarie Düringer (Dr. Katz), Doris Schade (Josefa), Cornelia Froboess (Henriette), Eric Schumann (Dr. Edel), Armin Mueller-Stahl (Max Rehbein), Rudolf Platte (Herr Treibel), Johanna Hofer (Frau Treibel), Elisabeth Volkmann (Grete), Hans Wyprächtiger (Chefredakteur), Günter Kaufmann (GI, Dealer), Lilo Pempeit (Chefin)

Memories are made of this

„Take one fresh and tender kiss
Add one stolen night of bliss
One girl, one boy
Some grief, some joy
Memories are made of this.“ (1)

„Licht und Schatten sind die beiden Geheimnisse des Films“, sagt Veronika Voss (Rosel Zech) zu dem Sportreporter Robert Krohn (Hilmar Thate), den sie kurz zuvor im prasselnden Regen kennen gelernt hatte. Schon die Eingangsszene des Films deutet auf etwas wie das Verschwimmen von Realität, Fiktion und Phantasie. Veronika sitzt im Kino und schaut sich einen alten UFA-Film an, in dem eine Schauspielerin (sie?) eine Spritze verabreicht bekommt. Schräg hinter ihr sitzt Rainer Werner Fassbinder. Der Film treibt sie aus dem Kino, die Diva von einst, die in der jungen Bundesrepublik der 50er Jahre keine Rolle mehr bekommt.

Es mutet paradox an: Die Schatten, das Dunkle in „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ geben eher etwas Warmes ab, während das Licht, das Helle, manchmal fast Grelle Kälte und Angst produzieren. Die Voss war ein UFA-Star, eine, von der man gar munkelte, sie habe etwas mit Goebbels gehabt (2), eine, die glaubt, jeder müsse sie kennen, und die weiß, dass kaum jemand sie noch kennt. Durch diese zerreißende Spannung aus Glauben (bzw. Glauben-Wollen) und Wissen (bzw. Nicht-Wissen-Wollen) ist aus der Voss eine hysterische Person geworden, eine, die sich in den Zeiten des Wirtschaftswunders nicht mehr zurecht findet, eine, die sich nur durch Tabletten und Morphium „über Wasser hält“.

„Don't forget a small moonbeam
Fold in lightly with a dream
Your lips and mine
Two sips of wine
Memories are made of this.“

Robert Krohn hingegen, der für eine Münchener Zeitung Sportberichte schreibt, ist von dieser merkwürdigen Frau angezogen. Das hat weniger berufliche Gründe. Er weiß andererseits nicht einmal, ob er sich in die Voss verliebt hat. Die Blicke zwischen beiden sind gestört durch das diametral unterschiedliche Interesse am je anderen. Als er sie anfangs zufällig im strömenden Regen trifft, ihr seinen Regenschirm anbietet und sie zur Straßenbahn begleitet, da antwortet sie „Schirm und Schutz“, und Krohn begreift den Sinn dieses zusätzlichen Wortes „Schutz“ noch nicht – eine Art Forderung, ein Bedürfnis, und dann auch wieder nicht. Veronika Voss verhält sich ambivalent. Als er sie verlässt, mit der Bahn davon fährt, verschwimmen ihre Blicke zueinander im auf die Scheiben der Straßenbahn niederprasselnden Regen. Und so, wie es in dieser Symbolik zum Ausdruck kommt, wird es fast bis zum Schluss bleiben.

Krohn entwickelt ein undefinierbares Interesse an dieser Frau. Er lässt sich von seiner Kollegin Grete (Elisabeth Volkmann) Informationen besorgen – aber über sie schreiben? Er weiß nicht, was ihn an ihr fasziniert. Ist es überhaupt Faszination? Als er sich nach ihrer Adresse erkundigt, trifft er auf das alte, freundliche Ehepaar Treibel (Rudolf Platte, Johanna Hofer), die ihn auf das Praxisschild einer Nervenärztin aufmerksam machen. Doch Frau Dr. Marianne Katz (Annemarie Düringer) hält sich bedeckt, ja, die Voss sei ihre Patientin, und sicher würde sie ihm die 300 Mark irgendwann wieder zurückzahlen, die sich die Voss bei Krohn anlässlich einer Verabredung geliehen hatte – angeblich für eine Brosche, die die Voss jedoch wieder zurückbrachte, um das Geld anderweitig zu verwenden – für Tabletten.

„Then add the wedding bells
One house where lovers dwell
Three little kids for the flavour
Stir carefully through the days
See how the flavour stays
These are the dreams you'll savour.“

Die Praxis der Frau Dr. Katz ist so weiß wie Schnee, nicht nur die Einrichtung und die Wände, auch Schränke, Kunstgegenstände, der Boden, die Decke – alles weiß. Nur der GI (Günter Kaufmann), der sich in der Praxis aufhält, trägt eine dunkle Uniform, spricht kein Wort, ist aber immer irgendwie beschäftigt – mit dem Verpacken von Tabletten, Drogen ...

Krohn scheint die Bekanntschaft mit der Voss verändert zu haben. Er lebt zusammen mit Henriette (Cornelia Froboess), einer Fotografin, die sofort merkt, dass mit ihm etwas nicht stimmt, eine Frau, die nicht hysterisch reagiert, sondern ruhig, manchmal fast gelassen, überlegt. Krohn hatte Veronika Voss auf ihre Frage, ob er Henriette liebt, geantwortet: „Wir ertragen uns.“ Aber tatsächlich liebt Henriette ihn, während er nichts weiß. Er weiß nicht, wie er zu Henriette steht, er weiß nicht, wie er zu Veronika steht, er weiß nicht, was er will. Krohn hat nur eine Ahnung, eher einen Hauch von Ahnung, so eine unschuldige, zwecklose, oder besser: nicht zweckgerichtete Ahnung über das, was geschieht. Krohn, das ist die Personifizierung des Nachkriegsdeutschen, der seiner Arbeit nachgeht, seinen privaten Beziehungen, in dessen Leben aber nichts Dramatisches, Erfreuliches, Spannendes passiert. Dies korreliert mit einem Bezug zur Vergangenheit, der eigentlich keiner ist. In Krohn ist die Vergangenheit fast ausgelöscht. Nur in der Voss kommt sie als eine Spur von Ahnung, unbewusst, zurück.

Als er einen schönen Abend mit Henriette verbracht hat, steht die Voss vor beider Wohnungstür und verkündet, sie wolle mit Krohn die Nacht in ihrer Villa verbringen. Alles in dieser Villa ist mit weißen Laken abgedeckt, unbewohnt gemacht. „Ich verführe gern ... wehrlose Männer“, sagt sie zu ihm und schläft mit Krohn. Danach bekommt sie einen ihrer Anfälle, will sich nicht mehr an Krohn erinnern, der sie zu Dr. Katz fährt.

Veronika Voss ist einer dieser Geister der Vergangenheit, die in der „neuen“ Bundesrepublik keine Chance mehr haben. Sie lebt in ihrer Erinnerung, auch an ihren Ex-Mann, den Drehbuchautor Max Rehbein (Armin Mueller-Stahl), der sich von ihr trennte, weil er ihre Sucht und deren Folgen nicht mehr ertragen konnte. Nur in diesen Momenten der Erinnerung und der Phantasie ist es Veronika Voss „erlaubt“, für kurze Zeit Gefühle anderen gegenüber zu zeigen. Sie schläft mit Krohn und lebt in diesen Momenten in der Vergangenheit. Sie „erwacht“ und ist entsetzt.

Die beiden anderen Geister der Vergangenheit sind das alte Pärchen, ein Ehepaar, das in Treblinka war, auch er morphiumabhängig. Später werden Henriette und Krohn die beiden finden, nachdem sie Selbstmord begangen haben. Später wird Henriette von einem Auto totgefahren, weil sie bei Dr. Katz anonym Erkundigungen eingezogen hatte, Dr. Katz aber wusste, wer sie ist und warum sie kam. Später wird sich an einem Ostersonntag, während der Papst sein „urbi et orbi“ predigt, Veronika Voss das Leben nehmen. Später wird sich herausstellen, dass Dr. Katz sowohl Veronika, als auch das alte jüdische Ehepaar von Morphium abhängig gemacht und sich aller Vermögen überschreiben hat lassen. Später wird sich herausstellen, dass der Leiter der Gesundheitsbehörde, Dr. Edel (Erik Schumann) gemeinsame Sache mit Dr. Katz gemacht hat.

„With His blessings from above
Serve it generously with love
One man, one wife
One love through life
Memories are made of this
Memories are made of this.“

„Die Sehnsucht der Veronika Voss“ ist Teil der so genannten „BRD-Trilogie“ Fassbinders, zu der noch die beiden Filme „Lola“ und „Die Ehe der Maria Braun“ gehören. Man könnte den Film als scharfe Abrechnung Fassbinders mit der Nachkriegszeit bezeichnen. Täter wie Opfer der Vergangenheit scheinen in dieser Gesellschaft der „Stunde Null“ keine Chance mehr zu haben: die in Treblinka gefolterten Treibels ebensowenig wie die Nutznießer des Nazi-Regimes, wie Veronika Voss eine war. Die Sieger heißen Dr. Katz und Dr. Edel, Repräsentanten des „Wirtschaftswunders“, eiskalte, skrupellose Nutznießer des Wiederaufbaus, gegen die Krohn als Repräsentant eines neuen Versuchs von Demokratie keine Chance hat.

Krohn will Veronika retten, sagt er irgendwann zu deren Ex-Mann Rehbein. Der weiß bereits, dass dies unmöglich ist. Veronika will sich nicht retten lassen. Sie hat ihren Tod einkalkuliert. Sie weiß, dass sie alles abtreten muss. Was sich in der individuellen Beziehung zwischen der Voss und der Dr. Katz abspielt, ist daher auch symptomatisch für die verquere Beziehung zwischen dem alten Regime und den neuen, angeblich durch und durch demokratischen Machthabern. Dr. Katz beerbt die Verlierer im eigenen Land, die keine Chance mehr haben. Eine Zeitlang kann man sich ihrer noch bedienen, aber die Zeichen der Zeit sind nun anders gestellt, nicht, weil das Nazi-Regime verbrecherisch war, sondern weil es Deutschland in der Welt desavouiert hat. Eine taktische Variante? Dr. Katz hätte genauso gut unter Hitler ihre Machenschaften treiben können? Vielleicht, doch eher nicht. Dr. Katz repräsentiert eher den Typ von neuer Wirtschaft, in der eine Art „ursprüngliche Akkumulation“ von Kapital erforderlich ist, um mit Hilfe von Geld und Macht das aufzubauen, was in den Medien so plakativ als „soziale Marktwirtschaft“ propagiert wurde. Sie ähnelt hier in manchem der Person des Baunternehmers Schuckert in „Lola“.

Krohn, der Sportreporter, bleibt in diesem Spiel der „Dumme“. Er weiß nicht, wie ihm geschieht, aber schließlich nimmt er alles, was geschehen ist, hin – als ob es sich um Schicksal handeln würde. Man kann auch sagen: Weil Krohn sich gegen Dr. Katz nicht durchsetzen kann, weil er sie nicht bloßstellen kann, wird alles schicksalhaft. Er begreift, dass Veronika Voss sterben wollte, irgendwann. Er begreift, dass seine Freundin Henriette Opfer der neuen Machthaber werden musste, weil sie und er sich zu intensiv mit ihnen beschäftigt hatten. Er wird sich fügen. Sein letztes Aufbäumen, als er mit der Polizei bei Dr. Katz auftaucht, ist sinnlos. Ganz am Schluss schaut er – hinter einer Mauer versteckt – zu, wie Dr. Katz, Dr. Engel und Josefa (Doris Schade), die treue Seele von Dr. Katz, ihren Triumph feiern: Der Grundstein für eine solide Wirtschaftsordnung ist gelegt.

Rosel Zech fängt durch ihr Spiel die hysterische Mentalität der UFA-Diva, die nach 1945 keine Chance mehr bekam, überzeugend ein. Ihr gegenüber steht ein Hilmar Thate als Krohn, der durch eine Mischung von trockener Sachlichkeit und innerer Ruhe hier, Neugier und kaum zu versteckender Faszination dort zur phantastischen Inszenierung Fassbinders und der mit Licht und Schatten spielenden Fotografie Schwarzenbergers eine schauspielerische Glanzleistung bietet.

(1) Geschrieben von Terry Gilkyson, Richard Dehr, and Frank Miller (The Easy Riders), 1956 aufgenommen von Dean Martin und The Easy Riders. Veronika Voss singt dieses Lied auf der Abschiedsparty gegen Schluss des Films.
(2) Das Drehbuch basiert u.a. auf der Geschichte der Schauspielerin Sibylle Schmitz, die vor und nach 1933 spielte, nach dem Krieg aber keine Rollen mehr bekam. Ihr wird – wie vielen anderen Schauspielerinnen eine Affäre mit Goebbels nachgesagt, der sie allerdings als Schauspielerin nicht bevorzugte. 1955 nahm sich Sibylle Schmitz das Leben.