Historias mínimas
(Historias mínimas)
Argentinien, Spanien 2002, 94 Minuten
Regie: Carlos Sorin

Drehbuch: Pablo Solarz
Musik: Nicolás Sorin
Director of Photography: Hugo Colace
Montage: Mohamed Rajid
Produktionsdesign: Margarita Jusid

Darsteller: Javier Lombardo (Roberto), Antonio Benedictis (Don Justo), Javiera Bravo (María), Francis Sandoval (Marías Baby), Carlos Montero (Losa), Aníbal Maldonado (Don Femin), María Rosa Cianferoni (Ana), Mariela Díaz (Marías Freundin), María del Carmen Jiménez (1. Bäckerin), Mario Splanguño (Bäcker), Julia Solomonoff (Julia, Biologin), Armando Grimaldi (Wirt), César García (César García), Laura Vagnoni (Estela), Rosa Valsecchi (2. Bäckerin), Silvia Fontelles (Gorda), Rosario Vera (Schwiegermutter), Enrique Otranto (Carlos)

Über Hunde, Torten und Küchenmaschinen

Endlose Straßen, unendliche Hügel, ab und zu ein kleiner Ort, mehr das, was wir einen Flecken nennen würden. Die Sonne strahlt über die weiten Ebenen einer Landschaft, die Tausende von Kilometern von Buenos Aires entfernt liegt. Patagonien, ein unbekanntes Land mit unbekannten Menschen. Dass hier überhaupt jemand lebt ... Es gibt Filme, die mir nach so viel Produktionen aus den Zelluloid-Schmieden Hollywoods derart gut tun, dass ich in sie hinein tauchen kann; Filme abseits des Rummels, der Action-Mode, des Starrummels, der Anpreisungen of the best movies you ever seen und ja auch oft der großen Enttäuschungen. „Historias mínimas“ ist ein solcher Film, Drama, Komödie und Roadmovie zugleich. Was sollte man in Patagonien auch anderes drehen als ein Roadmovie, meint Regisseur Carlos Sorin, der drei Menschen unterschiedlichen Alters ein Stückweit verfolgt, ihre Träume, ihre Enttäuschungen, ihre Hoffnungen, ihre Gefühle mit der Kamera einfängt.

„Historias mínimas“, das sind kleine Geschichten, die anderswo große Geschichte schreiben würden, in den Regionen, in denen die Moderne schon lange Einzug gehalten hat. Dort weiten sie sich aus, bzw. werden ausgeweitet zu großen Dramen, zu pathetischen Schlachten. Aber hier in Patagonien sind es noch – fast urwüchsig, könnte man sagen – Episoden im Leben dreier Menschen, die vor allem für diese drei Menschen und (fast) niemanden sonst etwas bedeuten, was fernab oft verloren gegangen zu sein scheint. Schaut man genau hin und kann sich von einem solchen Film berühren lassen, wird man spüren, dass sie mehr bedeuten als nur das – aber ohne Pathos und Theatralik.

Nein, die Zeit steht nicht still in dem kleinen Ort, in dem die 25-jährige María (Javiera Bravo) mit ihrem Baby, der 80-jährige Don Justo (Antonio Benedictis) bei Sohn und Schwiegertochter und der 40-jährige Roberto (Javier Lombardo), Vertreter, leben. Das Schicksal führt die drei, ohne dass sie es zunächst merken, an einem Tag zusammen. Ihr aller Ziel ist die 300 Kilometer entfernte Stadt San Julian. Dort scheint sich das Leben für alle drei zu ändern.

Allerdings sieht dies weit weniger pathetisch aus, als das Herz eines Europäers es in Worten ausdrückt, wenn er – wie ich – ins Schwärmen gerät. Don Justo etwa lebt bei seinem Sohn und dessen Frau, die seinen Lebensmittelladen übernommen und ihn liebevoll, aber eben auch bevormundend auf das Altenteil abgeschoben haben. Der alte Herr trifft eines Tages einen Durchreisenden, der ihm erzählt, er habe in San Julian seinen alten Hund Malacara gesehen, der Don Justo drei Jahre zuvor entlaufen war. Genauer, so Don Justo, Malacara ist von ihm weggegangen. Als er von ihm hört, hat er nur noch eins im Sinn: Malacara wieder nach Hause zu holen. Don Justo stellt sich an die Straße, denn er kennt sie alle, die Lkw-Fahrer, die seit Jahren hier vorbeikommen, und nicht ohne Hoffnung glaubt er, einer werde ihn schon mitnehmen. Wie der Zufall es will, hält jedoch die junge Biologin Julia (Julia Solomonoff), die den Alten sympathisch findet und sich sorgt, weil Don Justo mutterseelenallein auf der einsamen Straße geht ...

Roberto treibt es ebenfalls nach San Julian. Denn dort wohnt eine schöne junge Witwe mit ihrem kleinen Kind, in die er sich bei einem seiner Vertreterbesuche verliebt hat. Und er weiß, dass ihr Kind demnächst Geburtstag hat. Einem Bäcker hat er den Auftrag gegeben, eine Torte für das Kind zu backen in Form eines halben Fußballs. Nur leider hat der Bäcker vergessen, den Namen des vermeintlichen Jungen Renée auf der Torte anzubringen. Ein anderer Bäcker unterwegs auf dem Weg nach San Julian bringt den Namen des Kindes an, aber leider in seiner eigenen Handschrift. Dann kommen Roberto Zweifel, ob Renée der Name eines Jungen oder Mädchens ist. Einem Mädchen eine Torte in Form eines Fußballs zu schenken – das geht nicht. Was nun? ...

María wird von ihrer Freundin (Mariela Díaz) informiert, sie habe bei einer Fernsehserie, einer dieser Quizshows, etwas gewonnen. Dazu allerdings muss María zu dem Sender nach San Julian fahren, um in der Quizsendung mit anderen um die Preise zu spielen. Es winkt eine Reise nach Brasilien und eine Küchenmaschine. María nimmt ihr Baby und besteigt den Bus. Nur, was soll sie mit einer Küchenmaschine, wo es in ihrem Ort nicht einmal Elektrizität gibt? ...

Sorin inszeniert nicht das große Drama oder die große Tragikomödie. Sorin lässt seinen Schauspielern (die fast alle bis auf Javier Lombardo und Enrique Otranto Laienschauspieler sind) freien Raum zur Entfaltung, und den nutzen sie weidlich im Sinne einer fast unscheinbaren, unaufdringlichen Geschichte zwischen Enttäuschung und Hoffnung, Erfolg und Scheitern. Der 80-jährige Antonio Benedictis etwa, ein ehemaliger Automechaniker, spielt diesen Don Justo als einen alten Mann zwischen Nähe zum Tod und wieder entdeckter Lust am Leben, dass es eine helle (und vor allem komische) Freude ist. Don Justo weiß, dass sein Hund nicht verschwunden, sondern vor ihm weggelaufen ist, weil sich etwas Tragisches ereignete, für das der alte Mann verantwortlich ist. Wie Benedictis vor allem in Situationen spielt, in denen er befürchten muss, dass andere seinem Don Justo – vor allem sein ihm nachreisender Sohn – den Weg nach San Julian verbauen könnten, fällt in die Rubrik: leiser, aber umso wirkungsvoller Humor.

So wie Don Justo einerseits seine Schuld erkennt, als er davon erfährt, sein Hund würde noch leben, andererseits trotz seiner 80 Jahre sich nicht davon abhalten lässt, das geliebte Tier zu finden, so träumt auch María, die in ärmlichen Verhältnissen lebt, ihren Traum von ein bisschen Wohlstand bzw. dem, was das Fernsehen darüber verbreitet, was Wohlstand wäre. Die Küchenmaschine (oder was auch sonst) scheint ihr der Gipfel dessen zu sein, was sie erreichen kann – noch dazu im Fernsehen. Sie wird erkennen, dass dies ein Trugschluss war. Javiera Bravo, von Beruf Musiklehrerin, überzeugt in dieser Rolle ebenso wie Antonio Benedictis.

Roberto will die Angebetete in San Julian. Javier Lombardo spielt exzellent in dieser Rolle eine Mischung zwischen einem Vertreter, der mit Tricks und Schlichen zu verkaufen weiß, und einem Verliebten, der sich ausschließlich darauf konzentriert, mit der „richtigen“ Torte in San Julian anzukommen.

„Historias mínimas“ ist als Komödie respektive Roadmovie streng nach den Regeln des Dramas inszeniert. Der Film ist, trotz seiner scheinbar minimalistischen Dramaturgie sozusagen „vollgepackt“ mit Themen, die uns alle bewegen: Erfolg und Scheitern, Hoffnung und Enttäuschung usw. – allerdings bereinigt um das gesamte inszenatorische Beiwerk und Flickwerk, mit dem man aus anderen Gegenden der Filmproduktion nur allzu häufig „verwöhnt“ wird.