Iwans Kindheit
(Ivanovo detstvo)
Sowjetunion 1962, 91 Minuten
Regie: Andrej Tarkowskij

Drehbuch: Wladimir O. Bogomolov
Musik: Wjatscheslaw Owtschinnikow
Director of Photography: Wadim Jussow
Montage: Ludmilla Fejginova
Produktionsdesign: Jewgeni Chernyayev

Darsteller: Nikolai Burljajew (Iwan), Walentin Subkow (Hauptmann Kholin), Jewgeni Sharikow (Leutnant Galtsev), Sergej Krylow (Hauptmann Katasonych), Nikolai Grinko (Oberstleutnant Gryaznov), Walentina Maljawina (Masha), Irma Raush (Iwans Mutter), Andrei Koncholovsky (Soldat), Dimitri Miljutenko (alter Mann)

Zerstörerisches

„Wir sind acht. Keiner ist
älter als 19. In einer Stunde
wird man uns erschießen.
Rächt uns.“

Mit Farbe auf den Rest eines Gemäuers gemalt künden die Worte von Verzweiflung, Tod und Wut, Rache und Krieg.

Sommer. Eine blühende Wiese. Schmetterlinge, ein Reh. Die Sonnenstrahlen blinzeln durch die wenigen Bäume am Rand der Wiese. Man hört einen Kuckuck. Ein lachender Junge durchstreift die Natur und genießt das Leben, den Geruch, die Wärme, die Geborgenheit, in der er lebt. Ein Schrei zerstört den Traum, die Erinnerung. Iwan (Nikolai Burljajew) erschrickt. Zerstörtes überall, Rauch von Kanoneneinschlägen, Leuchtraketen erhellen für kurze Dauer die Dunkelheit. Durch einen Sumpf schleicht Iwan durch feindliches Gebiet. Er will die andere Seite des Flusses erreichen, wo ihn Hauptmann Kholin (Walentin Subkow) und Oberstleutnant Gryaznov (Nikolai Grinko) schon erwarten.

Der breite Dnjepr durchzieht das weite Land. Noch mehr aber durchzieht der Krieg die Ukraine. Iwan ist 12 Jahre alt und arbeitet als Kundschafter für die Rote Armee. Ein Fluss bedeutet Leben, Nahrung, Erquickung. Jetzt aber, irgendwann in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts bildet er nichts weiter als die Grenze zwischen deutschen Invasoren und Roter Armee. Iwan erreicht das Ufer, meldet sich bei Leutnant Galtsev (Jewgeni Sharikow), der ihn nicht kennt und ihm nicht glauben will, dass der Junge für die Armee arbeitet. Kholin belehrt ihn eines besseren. Iwans neue Familie, „Bruder“ Galtsev, „Onkel“ Katasonych (Sergej Krylow), „Vater“ Kholin und Gryaznov, der Iwan auf eine Militärschule schicken will, um ihn vor den Risiken des Krieges zu bewahren – ein Wunder, dass es sie gibt.

Wieder ein Traum. Ein Brunnen, von unten gefilmt, in den Iwan hinein schaut. Seine Mutter (Irma Raush) auch. „Dort kann man einen Stern sehen“, sagt sie, wenn man nur lange genug hinunter schaue. Und Iwan klettert in den Brunnen. Das Licht spiegelt sich im Wasser, konzentriert, und wirkt wie ein leuchtender, Leben verheißender Himmelskörper. Ein Schuss. Iwans Mutter liegt leblos vor dem Brunnen. Iwan hat auch seine kleine Schwester durch die Deutschen verloren. Der Vater fiel als Soldat an einem Grenzposten. Iwan entfloh dem Waisenhaus, arbeitete für Partisanen und entkam mit knapper Not einem Todeslager der Deutschen. Er klammert sich an die Soldaten, die ihn schützen, sich um ihn sorgen. Und er flüchtet vor ihnen, als Gryaznov ihn in die Militärschule bringen will.

Er begegnet einem alten Mann (Dimitri Miljutenko), der zwischen den Resten seines Hauses zwischen grausamer Realität und Phantasie hin und her irrt. Immer wieder vermischen sich Traum, Alptraum, Wachtraum und Kriegsrealität zu einem dichten Ganzen, das die Überschrift „Iwans Kindheit“ trägt. Das IST Iwans Kindheit – ein Alptraum, nur ab und an durchbrochen von den herzlichen Gesten und der Zuneigung der Soldaten zu dem 12jährigen Jungen, der nur an Rache denkt, weil die Deutschen ihm seine Familie genommen haben, durchzogen aber auch von den wehmütigen Erinnerungen an Mutter und Schwester.

Galtsev und Kholin verstehen, warum Iwan nicht in die Militärschule will. Heimlich bereiten sie die Überfahrt auf einem Boot zum anderen Ufer vor, um Iwan dort abzusetzen, damit er weiterhin die Lage an der feindlichen Front auskundschaften kann. Dort am Ufer haben die Deutschen zwei von ihnen ermordete russische Soldaten, die Iwan nach seinem letzten Einsatz abholen sollten, hingehängt – Zeichen dafür, was sie auch mit allen anderen Rotarmisten vorhaben.

Iwan verschwindet im schützenden Dunkel der Nacht.

1945 erfährt Galtsev in Berlin, dass die Deutschen Iwan ermordet haben.

In Tarkowskijs erstem großem Spielfilm „Iwans Kindheit“ (nach vier kürzeren Filmen) spürt man schon die eigenwillige Erzählweise des russischen Regisseurs, die weit ab konventioneller Erzählstrukturen vom teilweise rapiden Wechsel von Szenen, die auf den ersten Blick entweder nicht viel miteinander zu tun zu haben scheinen oder zeitliche Brüche markieren, ebeno zehrt wie von außergewöhnlichen Bildkompositionen, in denen immer wieder der gewollt auch so inszenierte Gegensatz zwischen göttlicher Schöpfung respektive geheimnisvoller, aber friedlicher Natur einerseits und menschlicher Gesellschaft und menschlichen Obsessionen andererseits zur Sprache gebracht wird. So etwa in einer Szene, die in einem Birkenwald spielt, in dem ein Soldat Masha (Walentina Maljawina), die im Lazarett arbeitet, umwirbt, zwischen beiden aber kein wirklicher Kontakt zustande kommt, weil der Krieg alles überschattet. Durch diese Episode bekommen die Birken den Anschein des Bedrohlichen, des Schrecken Verkündenden. Konnte man sich früher hinter ihnen verstecken, war der Wald noch vor kurzer Zeit geheimer Ort der Begegnung zwischen Liebenden und für das Spiel der Kinder, so bekommt er jetzt durch das Menschlich-Unmenschliche die Maske des Grauens.

Tarkowskij zeigt Iwan als Kind ohne Kindheit, als Jungen dessen Höhepunkt im Leben der grausame Tod durch die Deutschen ist. Und obwohl er Iwan auch als Jungen zeigt, der sich Rache geschworen hat für den Mord an seinen Eltern und seiner Schwester, ist „Iwans Kindheit“ alles andere als ein Film, der Rache beschwört – im Gegenteil. Schon hier ist Tarkowskij auf der Suche nach den Geheimnissen der Menschlichen wie des Außermenschlichen. „Iwans Kindheit“, eine Geschichte, die Tarkowskij in Szene setzte, nachdem man den ursprünglichen Regisseur Eduard Abalov gefeuert hatte, ist im engeren Sinn sowohl ein Anti-Kriegs-Film, der jedes Pathos von Helden vermeidet, weil es – so zeigt der Film es auf nüchterne Weise – im Krieg keinen Platz für Pathos gibt, als auch für das in einem weiteren Sinne Zerstörerische und Selbstzerstörerische menschlicher Existenz. Tarkowskijs Vorliebe für „Naturaufnahmen“, für Aufnahmen, in denen aus dem Ästhetischen, Friedlichen, Phantasievollen, Lebengebendem der Natur etwas Bedrohliches, Dunkles wird, sobald das Zerstörerische im Menschen hervor kommt, spürt man schon hier. Erst in Filmen wie „Andrej Rubljow“ (1966/72)und besonders „Der Spiegel“ (1975), „Stalker“ (1979) und „Solaris“ (1972) wird diese Erzählweise in wundervollen, teilweise aber auch erschreckenden Bildern zur Vollendung gebracht werden.

Tarkowskij macht dabei kein Hehl daraus, dass er in der Natur etwas Schöpferisches, Mysteriöses, vielleicht auch Göttliches sieht, ohne dass damit schon religiöse Vorstellungen verbunden sein müssten – etwas Göttliches, das im Menschen immer wieder verloren geht. Im Verhältnis zwischen Iwan und den Soldaten – umgeben von Krieg – kommt dies wiederum zum Ausdruck: das väterliche, brüderliche Verhältnis zu dem Jungen erzeugt, abseits aller Schrecken, Wärme und Zuneigung, einen Raum, in dem das Grauen für Momente keinen Platz hat. Und es erweist sich – besonders in einer Szene, in der Iwan phantasiert –, dass die Rachegefühle in Iwan selbst von dem Gefühl überwogen werden, dass es ihm selbst seinen Feinden gegenüber schwer fallen würde zu töten.

Gerade diese emotionale Ebene des Films macht die Visualisierung brutaler Kriegsszenen im Film nicht nur überflüssig. Sie vermittelt zudem ein wesentlich eindringlicheres Bild einer verlorenen Kindheit, als es ein „Anti-Kriegs-Film“-Kriegsfilm je könnte.