Raining Stones (1993)
The Navigators (2001)
Sweet Sixteen (2002)





Raining Stones
(Raining Stones)
Großbritannien 1993, 90 Minuten
Regie: Ken Loach

Drehbuch: Jim Allen
Musik: Stewart Copeland
Director of Photography: Barry Ackroyd
Montage: Jonathan Morris
Produktionsdesign: Martin Johnson

Darsteller: Bruce Jones (Bob), Julie Brown (Anne), Gemma Phoenix (Coleen), Ricky Tomlinson (Tommy), Tom Hickey (Pater Barry), Mike Fallon (Jimmy), Jonathan James (Tansey), Christine Abbott (May), Geraldine Ward (Tracey), William Ash (Joe), Matthew Clucas (Sean)

Da geht einer seinen Weg

Da ist so etwas wie Stolz und Unverbrüchlichkeit, ja Ehre in den Filmen des Briten Ken Loach („Riff-Raff“, 1990; „My Name is Joe“, 1998; „Bread and Roses“, 2000; „The Navigators“, 2001; „Sweet Sixteen“, 2002). Nicht jene hehren Prinzipien der oberen Klassen, die aus den predigtgleichen Verlautbarungen aller Art in Festreden und Elogen hervorquellen. Nein. Loachs Figuren gehören einer anderen Welt an, einer, in der über Stolz nicht geredet, kein Wort verloren wird. Stolz ist hier etwas, das mit Personen verbunden ist wie Arme und Kopf, etwas Gewachsenes, das in seiner Substanz kaum erschüttert werden kann.

Loachs Figuren sind keine Engel und keine Teufel; es sind reale Menschen aus der working class bzw. der „non-working class“, Arbeitslose, Arme, Labour-Anhänger der alten Sorte, die aber auf Labour nicht mehr viel geben, weil sich deren Funktionäre der neuen Linie einer Intelligenz verschrieben haben, Funktionäre, die mit den Lebensbedingungen in den Ghettos und Arbeitersiedlungen am Rande der großen englischen Städte kaum mehr etwas zu tun haben (wollen), Träumer einer heilen Welt, die das permanente Unheil ebensowenig kennen (wollen) wie die Lebendigkeit und die Chancen sehen, die in den Menschen schlummern, die hier leben.

Bob (Bruce Jones) ist so ein stolzer Mensch in einer jener nordenglischen Städte. Er ist arbeitslos, geht stempeln und bringt seine Familie – Frau Anne (Julie Brown) und Tochter Coleen (Gemma Phoenix) – mehr schlecht als recht über die Runden. Mindestens 80 Pfund kosten Kleid, Schleier, Schuhe für Coleens Erstkommunion. Woher soll er das Geld nehmen, wenn nicht stehlen? Der örtliche Pater Barry (Tom Hickey) rät ihm, gebrauchte Kleidung, die aber noch gut in Schuss ist, zu leihen. Doch Bob will, dass seine Tochter genauso schön in eigenen Kleidern die Erstkommunion begeht wie alle anderen Kinder auch. Anne ist schon verzweifelt. Wie will er das bezahlen, wenn die Familie schon so kaum über die Runden kommt und eine Rechnung sich auf die andere stapelt?

Ist Bob das Musterexemplar eines starrsinnigen Menschen, der wider alle Realität handelt? Nein, Bob besitzt das, was man Eigensinn nennt, Eigensinn, der sich erhält wider alle historischen und sozialen Entwicklungen. Bob ist nicht etwa realitätsfremd. Aber er ist auch keiner, der sich und seine Familie und Freunde verrät oder für ein paar Silberlinge verkauft. Diese Haltung liegt ihm sozusagen im Blut.

Bobs Freund Tommy (Ricky Tomlinson) geht es nicht viel anders. Auch er ist arbeitslos. Was er nicht weiß, ist, dass seine Tochter nicht, wie sie behauptet, Parfum und Cremes verkauft, sondern Rauschgift. Ein Hammel soll Geld bringen. Tommy und Bob stehlen ihn irgendwo auf einer Weide aus einer Herde heraus. Das bisschen Geld, das sie für das Tier bekommen, bringt beide nicht weiter. Und dann wird auch noch Bobs Wagen gestohlen. Er versucht sich als Rausschmeißer in einer Disco und verliert seinen Job gleich wieder, als er einen Dealer, den er mit Tommys Tochter gesehen hat, angreift. Die beiden Männer lassen sich für einen anderen Job anheuern: Rasenstücke stehlen auf dem Golfplatz der lokalen Konservativen.

All das bringt Bob keine 80 bis 100 Pfund. Und so leiht er sich schließlich Geld von einem örtlichen Wucherer namens Tansey (Jonathan James), der keine Skrupel kennt, um sein Geld samt hohen Zinsen wieder einzutreiben. Das bekommen Bobs Frau und Tochter zu spüren. Kurz nach Tanseys Besuch bei ihnen ist der Wucherer tot ...

Ken Loach ist „verliebt“ in seine Handlung. Der 90 Minuten lange Film vergeht „wie im Flug“, und hinterlässt in seiner Intensität und mit seinen eindrucksvollen, von Barry Ackroyd fotografierten Bildern eben doch viel an Emotionalität und Sympathie für seine Charaktere. Das hat seinen Grund auch darin, dass diese Charaktere weder überzeichnet sind, noch die Handlung theatralisch überhöht wirkt. Pater Barry zum Beispiel ist ein Mann, der über die Nöte seiner Kirchgänger genau Bescheid weiß und sich nicht hinter katholischer Dogmatik versteckt, um sich aus allem herauszuhalten. Im Gegenteil: Er hilft Bob in einer existentiellen Notlage genau so, wie der es braucht. Katholizismus ist für Barry in aller erster Linie Arbeit vor Ort und nicht Predigt hehrer Lehren.

Auch Tommy, Bobs Freund, wird von Ricky Tomlinson zwar als Zweckoptimist gespielt, der auf alle möglichen zum Scheitern verurteilten Ideen kommt, aber als einer, dem die Verzweiflung genauso im Gesicht geschrieben steht wie, dass er jedes Mal nach einer Niederlage im Kampf gegen die Verarmung wieder auf den Boden der Tatsachen zurückfindet. Die Solidarität zwischen den beiden Freunden wie die zwischen den Familien ist keine gespielte, aufgesetzte, sondern eine, die aus der Handlung, aus dem Leben der Figuren entwickelt wird. Zudem ist „Raining Stones“ keine bierernste Abhandlung über die Nöte englischer Arbeiterfamilien, im Gegenteil, ein (nicht nur) unterschwelliger Humor schwingt fast den ganzen Film über mit.



The Navigators
(The Navigators)
Großbritannien, Deutschland, Spanien 2001, 96 Minuten
Regie: Ken Loach

Drehbuch: Rob Dawber
Musik: George Fenton
Kamera: Mike Eley, Barry Ackroyd
Montage: Jonathan Morris
Produktionsdesign: Martin Johnson

Darsteller: Dean Andrews (John), Thomas Craig (Mick), Joe Duttine (Paul), Steve Huison (Jim), Venn Tracey (Gerry), Andy Swallow (Len), Sean Glenn (Harpic), Charlie Brown (Jack), Juliet Bates (Fiona), John Aston (Bill Walters), Graham Heptinstall (Owen), Angela Saville (Tracy), Clare McSwain (Lisa), Megan Topham (Chloe), Abigail Pearson (Eve)

„Zwei Tote pro Jahr“

„Heute redet man ja schon
von Solidarität, wenn sich
Blair und Schröder zum
Dinner treffen.“ (1)

Die Privatisierung der British Rail ist hochaktuell. Das von den Tories begonnene Spielchen mit Zunahme von Unsicherheit auf den Bahnstrecken, staatlich verordneter Arbeitslosigkeit, Unpünktlichkeit der Züge usw. verkaufen nun Tony Blair und Labour – auch wenn es Überlegungen zur Revision der Privatisierung gibt – als „dritten Weg“. Wohin? Der Drehbuchautor Rob Dawber war 18 lange Jahre selbst in der Abteilung Signale und Telekommunikation bei British Rail beschäftigt und schrieb seine Erinnerungen auf, als er sich im Urlaub bei einem Unfall am Meer die Sehne zerrte. Ken Loach („The Flickering Flame“, 1997; „Mein Name ist Joe“, 1998; „Bread and Roses“, 2000) setzte diese Erinnerungen in eine Geschichte der ihm eigenen Art um.

Mit der 90er Jahre werden – für die beteiligten Arbeiter unsichtbar wie über Nacht – die Pläne der britischen Regierung zur Privatisierung der britischen Eisenbahnen in die Tat umgesetzt. Die Bahnarbeiter in Yorkshire sehen eines Morgens, wie zwei Männer das Firmenschild der British Rail gegen ein andere austauschen. Der Vorarbeiter verkündet ihnen mir nichts dir nichts: „Ihr seid keine Bahnarbeiter mehr.“ Die Folge sind Entlassungen und das „Angebot“, bei einer Art Leihfirma ihren Beruf fortzusetzen. Diese Firma „vermietet“ ehemalige Bahnarbeiter für einzelne Aufträge. Wieder andere Arbeiter werden an die Privatfirmen vermittelt, die jetzt das Geschäft des Bahnverkehrs betreiben.

Der von neoliberaler Ideologie geleitete Absturz der Bahnarbeiter in ungeregelte, ungesicherte Arbeitsverhältnisse bei niedrigeren Löhnen führt nicht nur zu privaten Verwerfungen und Entsolidarisierung, da die Ex-British-Rail-Angehörigen jetzt zudem in Konkurrenz zueinander stehen. Er mindert zudem die Sicherheitsstandards sowohl hinsichtlich des Bahnverkehrs, als auch der Arbeitsbedingungen.

Als vier Bahnarbeiter den Auftrag erhalten, an einer Bahnstrecke im Auftrag einer Leihfirma Kabel an einem verschütteten Hang wieder freizulegen und die Schächte neu zu betonieren, fehlt der früher übliche Mann, der die Strecke beobachten musste, um Unfälle zu vermeiden. Der Vorarbeiter hatte den Männern schon angekündigt, von nun an dürfe die Zahl der Todesfälle „eine erträgliche Anzahl nicht überschreiten“. Da der Auftrag zur Tageszeit nicht zu erledigen ist, arbeiten die vier Männer bis in die Nacht. Es kommt, wie es kommen muss: Einer der Arbeiter wird, ohne dass es jemand bemerkt von einem Zug erfasst und liegt regungslos neben dem Gleis. Unter den anderen kommt es zum Streit, vor allem zwischen den beiden langjährigen Freunden Mick (Thomas Craig) und Paul (Joe Duttine), der sich von seiner Frau getrennt hat und bei Mick lebt. Während Paul sofort einen Krankenwagen rufen will, befürchten die anderen Entlassung und Strafanzeigen, weil sie die Sicherheitsvorschriften nicht beachtet haben. Man entschließt sich, den Verletzten vom Gleis weg auf die Straße zu transportieren. Gegenüber den Behörden behaupten die drei Männer, der Verletzte, der wenig später stirbt, sei von einem vorbeifahrenden Auto angefahren worden, als er an der Betonmaschine arbeitete ...

Ken Loach inszenierte „The Navigators“ (wie schon seine früheren Filme, die übrigens alle auch im englischen Fernsehen ausgestrahlt wurden) weder als klassenkämpferische Agitprop-Platitüde, noch als sozialromantische Verklärung des Arbeiterdaseins. Nomen es omen. Die Arbeiter navigieren durch ihr (Arbeits-)Leben, das von derart vielen Unwägbarkeiten geprägt ist, wie Matrosen durch das von Nebel bedeckte Meer, die sich fragen, ob ihr Kompass noch funktionier.

Loach lässt seinen Film als Groteske beginnen. Im Frühstücksraum der British Rail, die schon nicht mehr existiert, feixen die Bahnarbeiter über die von seiten ihres Vorarbeiters vorgetragenen neuen Pläne, deren Sinn sie nicht verstehen. Warum bleibt nicht alles beim Alten? Es hat doch wunderbar geklappt – die Zusammenarbeit, die Regelung der Konflikte mit den Vorgesetzten, die Sicherheit (seit langer Zeit hat es keinen tödlichen Unfall mehr gegeben). Und nun soll das alles über den Haufen geworfen werden? Unrentabilität ist das Zauberwort, das alle Verhältnisse umzustürzen scheint.

Aber Loach verfällt nicht in eine düstere, phlegmatische oder depressive Stimmung. Als die Schilder von British Rail abgehängt werden und einige Wochen später das Schild eines Privatunternehmens nochmals durch ein anderes ersetzt wird, wundern sich die Männer und fragen sich, wie oft diese Wechsel wohl noch stattfinden. Loach zeigt die Derbheit, den Sarkasmus, mit denen die Betroffenen die Veränderungen kommentieren, und den tief verwurzelten Humor, den sie sich nicht nehmen lassen.

Als ihr Vorarbeiter Harpic (Sean Glenn) verkündet, Todesunfälle müssten auf ein akzeptables Maß reduziert werden, fragt Gerry (Venn Tracey): „Was ist ein akzeptables Maß?“ Harpic: „Zwei pro Jahr.“ Gerry: „Aber niemand ist in den vergangenen 18 Monaten getötet worden.“ Jim (Steve Huison): „Melden sich Freiwillige?“ Keiner meldet sich. Was Harpic da ankündigt und die anderen mit Sarkasmus bedienen, ist die Schätzung der Firmenleitung über vermutete Todesunfälle angesichts der Folgen ihrer Preisgabe von Sicherheitsstandards.

Jeden Mittag holt einer der Arbeiter Essen bei einem nahe gelegenen Laden und behauptet, er würde jedesmal eine Dose Thunfisch umsonst dazu bekommen. Als ein Kollege, den die anderen so ein bisschen als Strecken-Clown behandeln und dem man ansieht, dass er gerne und viel isst, auch mal versuchen will, Thunfisch gratis zu bekommen, behauptet der Verkäufer in dem Laden, er führe keinen Thunfisch. Der Bahnarbeiter bleibt bei seiner Behauptung, wird leicht aggressiv, eine Kundin mischt sich ein, und die Kollegen, die sich vor dem Geschäft vor Lachen kaum halten können, müssen ihn davon abhalten, eine Schlägerei mit dem armen Verkäufer anzufangen.

Das alles ist nicht böse gemeint. Es ist Teil ihres Lebens wie die Solidarität – nicht die organisierte, konstruierte, oberflächliche, angeblich „objektive Interessen“ ausdrückende Solidarität, sondern eine, die ihr Leben, ihre Erfahrungen, ihr Zusammensein bei der Arbeit und zu Hause selbst schuf, sozusagen eine gewachsene, über die nicht viel geredet wird. Als dieser Zusammenhang zwischen ihnen verloren zu gehen droht, nachdem einer der ihren tödlich verunglückt, drückt sich in der Lügengeschichte vom angeblichen Autounfall immer noch so etwas aus wie Solidarität. Allerdings eine aufgezwungene. Denn die neuen Arbeitsbedingungen, bei denen von seiten der neuen Herren der Bahn auf Sicherheit der Fahrgäste und der Beschäftigten herzlich wenig Wert gelegt wird, zwingen die Arbeiter, sich auf neue Verhältnisse einzustellen. Wer arbeiten will, muss diese neuen Bedingungen auf Gedeih und Verderb akzeptieren.

Die Frage der Schuld am Tod des Kollegen ist komplizierter, verwickelter geworden. Sie sind in den Strudel der neoliberalen Veränderungen hineingerissen – und machen mit. Was sollen sie sonst auch tun?

Loach demonstriert am Beispiel dieser Männer in einem kleinen Ausschnitt der Arbeitsverhältnisse, wie eine ganze Gesellschaft nicht einfach von oben nach unten, sondern eben auch in die umgekehrte Richtung sich zum Teil prinzipiellen Veränderungen anpasst, anpassen muss, weil der Zug in diese Richtung abgefahren ist. Loach benutzt jedoch seine Figuren nicht als Helden, die über allem stehen. Er zeigt sie durchaus als wirkliche Menschen mit all ihren Schwächen. Sie navigieren nun in eine andere Richtung, weil ein anderer Kurs befohlen wurde – und stochern weiter im Nebel herum. Die Überschaubarkeit der Verhältnisse ist verloren gegangen, der Mut und eine enorme Gelassenheit sind die Grundpfeiler, auf denen sie auch künftig einen Weg für sich und untereinander finden werden und müssen.

Nur eines ist ihnen deutlich geworden: Der Kitt, der ihre verantwortungsvolle Arbeit zusammenhielt, die Sicherheitsstandards, sozusagen die ethische Durchdringung ihrer stupiden, aber dennoch so wichtigen Arbeit für sich selbst und vor allem für die Fahrgäste, ist zerbröckelt, zerstört worden. Die „Zugunglücke“, nicht nur in Großbritannien, zeugen von diesem produzierten Verlust. So spricht der Film auch Bände darüber, was es heißt, wenn Dienstleistungsbetriebe, in denen es auf Sicherheit, Verlässlichkeit usw. primär ankommt, privatisiert werden und Rentabilität zum alles beherrschenden Faktor solcher Unternehmen wird.

Loachs Filme sind keine Kassenschlager. Sie bieten kein Mainstream-Kino. Trotzdem lohnt sich der Blick in eine Welt, die im deutschen Kino schon lange nicht mehr existiert. Loachs „The Navigators“ ist ein dokumentarisch angelegtes tragikomisches Drama. Aber die Bilder, die Loach zeigt, betrügen nicht. Sie sind auf eine geradezu „leichte“ Weise zu entschlüsseln, weil sie ehrlich sind – ob man mit ihnen nun übereinstimmt oder nicht.

(1) Ken Loach in einem Interview in „Die Zeit“:
http://zeus.zeit.de/text/archiv/2002/42/200242_loach-interview.xml



Sweet Sixteen
(Sweet Sixteen)
Großbritannien, Deutschland, Spanien 2002, 106 Minuten
Regie: Ken Loach

Drehbuch: Paul Laverty
Musik: George Fenton
Director of Photography: Barry Ackroyd
Montage: Jonathan Morris
Produktionsdesign: Martin Johnson, Fergus Clegg

Darsteller: Martin Compston (Liam), Michelle Coulter (Jean), Annmarie Fulton (Chantelle), William Ruane (Pinball), Gary McCormack (Stan), Tommy McKee (Rab), Michelle Abercromby (Suzanne), Calum McAlees (Calum), Robert Rennie (Scullion), Martin McCardie (Tony), Jon Morrison (Douglas), Matt Costello (Polizist)

Süße Jugend?

Zerbrochene soziale Beziehungen hat Ken Loach schon immer gnadenlos in Szene gesetzt – gnadenlos denjenigen gegenüber, die er dafür verantwortlich hält. Seine Filme wie „Mein Name ist Joe“ (1998), „Bread and Roses“ (2000) und zuletzt „The Navigators“ (2001) sprechen hier Bände. Loachs Inszenierungen sind visuell eindeutig und kompromisslos, und seine Protagonisten nehmen kein Blatt vor den Mund. Auch mit seinem neuen Film ist das nicht anders. Ein junger Teenager namens Liam (Martin Compston, Laiendarsteller), ein Ausgestoßener am Rande der Gesellschaft, versucht, eine Familie zu rekonstruieren. Die Mittel, die ihm dabei bleiben, sind vorgegeben. Von freier Entscheidung oder individueller Wahl kann keine Rede sein. Die soziale Prägung seines Umfelds und seiner selbst sind zu stark, um Alternativen auszuloten. Wie soll jemand alternativ handeln, wenn er keine Erfahrungen in dieser Hinsicht hat?

Liams Mutter sitzt im Gefängnis. Jean (Michelle Coulter) war drogenabhängig, behauptet aber, sie sei jetzt schon Monate clean. Ihr Lover Stan (Gary McCormack), ein Schläger und Tunichtgut in jeder Hinsicht, sowie Liams Großvater Rab (Tommy McKee) wollen den Jungen zwingen, Rauschgift ins Gefängnis zu schmuggeln, um es bei einem Abschiedskuss seiner Mutter in den Mund zu schieben. Angeblich ist es nicht für sie, sondern andere Insassen. Doch Liam weigert sich und wird zur „Strafe“ von Stan brutal verprügelt. Stan und Rab schmeißen ihn aus der Wohnung, werfen seine Sachen vors Haus und zerstören Liams Teleskop.

Liam zieht zu seiner 17jährigen Schwester Chantelle (Annmarie Fulton, ebenfalls in ihrer ersten Rolle), die mit ihrem kleinen Jungen Calum (Calum McAlees) allein lebt. Chantelle hasst ihre Mutter, weil Jean sich nie um ihre Kinder gekümmert hat. Sie ist stets um Liam besorgt, der nicht zur Schule geht und geschmuggelte Zigaretten verhökert. Chantelle besucht einen Call-Center-Kurs, um in wenigen Wochen als Telefonistin Geld zu verdienen. Liam fasst nach dem Rausschmiss bei Stan und Rab einen Entschluss: Er will die Familie wieder zusammenbringen. Irgendwo an der Küste bei Glasgow findet er einen geräumigen und gut ausgestatteten Wohncontainer, den er kaufen will, um seine Mutter dort – weit von Stan und Rab entfernt – unterzubringen, wenn sie aus dem Gefängnis entlassen wird. Um das nötige Geld zu bekommen, entschließt er sich, Stan das Rauschgift zu stehlen, um es in kleinen Portionen zu verkaufen. Moralische Bedenken hat Liam dabei nicht; er selbst nimmt kein Rauschgift. Zusammen mit seinem rothaarigen Freund Pinball (William Ruane) beginnt er mit dem Verkauf. Einige Tausend Pfund müssen her, eine Anzahlung kann Liam bald tätigen.

Doch mit einem hat der junge Mann nicht gerechnet. Der örtliche Drogenboss Tony (Martin McCardie) ist entschlossen, jegliche Konkurrenz im Keim zu ersticken. Er zwingt Liam, für ihn zu arbeiten, weil er merkt, dass Liam gewillt ist, alles zu tun, um seiner Mutter den Wohncontainer zu kaufen. Diese Entschlossenheit will Tony für sich ausnutzen. Ab sofort arbeitet Liam für Tony. Nur Pinball geht dabei leer aus. Tony will den sprunghaften Kerl nicht beschäftigen. Pinball ist wütend, und aus Wut über Tony und Liam fackelt er kurzerhand den Wohncontainer ab, stiehlt Tonys Auto und fährt den Wagen in dessen Geschäft. Tony will, dass Liam „das Problem“ Pinball ein für allemal beseitigt, sprich seinen besten Freund ermordet ...

Loach drehte seinen Film überwiegend mit Laiendarstellern, wie in vorherigen Filmen auch. Das verschafft der Inszenierung eine überraschende Frische in der Darstellung der Figuren. Die Trostlosigkeit des Lebens der Personen in den Glasgower Vororten Greenock und Invercyde gewinnt durch die Laiendarsteller eine überzeugende und bedrückende Natürlichkeit.

Loachs Aussage scheint simpel, fast zu einfach, doch die Inszenierung verschafft dieser Aussage eine überzeugende Note. Liams Moral ist bedingt, relativ, den Lebensbedingungen angepasst. Er will nicht, dass seine Mutter Drogen nimmt und in das soziale, zerstörerische Umfeld zurückkehrt, in dem sie lebte. Er hat aber keine Bedenken, anderen Drogen zu verkaufen und damit dieses Umfeld wiederum zu stärken. Unmoralisch? Individuelles Verhalten und Bedingungen des sozialen Umfelds greifen hier ineinander, sind kaum voneinander zu trennen, wenn es um Schuld und Sühne geht. Loach macht gerade dies besonders deutlich.

Für Liam zählt nur der Glaube an eine Rekonstruktion seiner Familie, in die er seine Schwester einbeziehen will. Als Tony ihm eine gute Wohnung anbietet – wobei er zur Bedingung macht, dass Liam seinen Freund tötet –, plant Liam, seine Mutter und seine Schwester mit ihrem Kind dort unterzubringen. Wird er Pinball töten? Die Rekonstruktion der Familie jedenfalls scheitert. Erst nach einer folgenschweren Handlung am Schluss des Films begreift Liam, in welchem sozialen und politischen Kreislauf er sich befindet, gefangen ist. Erst jetzt empfindet er so etwas wie eine Mischung aus Trauer, Mitleid und begreift, dass er sich den Gesetzen eines Systems unterworfen hat, das ihm Handlungsrichtlinien vorgibt, die er für völlig normal gehalten hat. Er kann weinen.

Nicht nur Liam will eine Rekonstruktion sozialen Zusammenhangs auf einer anderen Ebene als in der Abhängigkeit von Stan und seinem Großvater Rab. Auch seine Schwester, die durch ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit 17 so erwachsen reagiert, wie manch andere, ältere Menschen es nicht vermögen, auch Chantelle will familiäre Bande. Nur, sie hat im Gegensatz zu Liam verstanden, dass beider Mutter in denselben Kreislauf von Abhängigkeit und Gewalt zurückkehren will, in dem sie sich vor der Haft befunden hatte. Jean sieht – trotz der Bemühungen ihres Sohnes – für sich kein anderes Leben. Dem Realitätssinn Chantelles steht die Illusion Liams gegenüber.

Loach präsentiert eine Reihe von Personen, deren mehr oder weniger starke Abhängigkeit von einem System deutlich wird, dem kaum einer von ihnen entkommt oder entkommen kann. Pinball zum Beispiel, der sich nicht nur ausgegrenzt fühlt, erfährt den Ausschluss von den „Geschäftsbeziehungen“ zwischen Liam und dem skrupellosen Drogenhändler Tony als zusätzliche Diskriminierung, nicht als Chance, sich dem entsprechenden Ambiente zu entziehen. Seine Antwort ist dem analog: Rache. Tony ist so etwas wie ein lokaler Mafia-Boss, der sich in seiner „Drogenpolitik“ durch das Prinzip von Gefälligkeiten leiten lässt – ganz ähnlich übrigens der Darstellung der Corleones in Coppolas „Paten“-Trilogie: Wohnung gegen Mord, Schutz gegen Verkaufserfolge usw.

Loach zeigt in „Sweet Sixteen“ seine Helden ernüchternd, hoffnungslos, ohne Chance, gefangen in einem System, das die Mehrheitsgesellschaft durch Ausgrenzung und Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen und Wünschen armer Schichten produziert und reproduziert. Die Tränen Liams am Schluss des Films weisen auf Chance wie Risiko: Liams Scheitern könnte eine Chance für ein anderes Leben sein; denn sein Wunsch nach sozialem Zusammenhang ist groß. Die Sanktionen, die er zu befürchten hat, könnten ihn allerdings auch in Einsamkeit und stärkere Einbindung in das System des kriminellen Milieus treiben. Der Film lässt das offen, muss es offen lassen.

Die oft zu hörende Predigt des „freien Willens“ jedenfalls, der „freien individuellen Entscheidung“ stößt in dieser Geschichte auf harte Grenzen, wird zum Großteil zur Illusion einer Mehrheitsgesellschaft. Was bleibt, ist dieser kleine Rest von Freiheit am Schluss des Films, diese Millimeter-Möglichkeit für Liam, aus seinen Erfahrungen etwas anderes in seinem Leben zu tun als bisher.

Loach gelang, wieder einmal, eine beeindruckende und bedrückende Studie, die noch dadurch gewinnt, dass die Sympathien des Regisseurs für seine Figuren offensichtlich sind. Es geht ihm nicht um Schuldzuweisungen oder Entschuldigungen. Es geht ihm darum, Verständnis zu schaffen.


 

Raining Stones-Filmplakat
Raining Stones-1
Raining Stones-2
The Navigators
The Navigators-2
The Navigators-1
Sweet Sixteen-Filmplakat
Sweet Sixteen-1
Sweet Sixteen-2