Lucia und der Sex
(Lucía y el sexo)
Spanien, Frankreich 2001, 128 Minuten
Regie: Julio Medem

Drehbuch: Julio Medem
Musik: Alberto Iglesias
Director of Photography: Kiko de la Rica
Montage: Iván Aledo

Darsteller: Paz Vega (Lucía), Tristán Ulloa (Lorenzo Àlvarez), Najwa Nimri (Elena), Daniel Freire (Carlos / Antonio Castillo), Elena Anaya (Belen Lozano), Javier Cámara (Pepe), Silvia Llanos (Luna), Diana Suárez (Manuela Lozano), Juan Fernández (Boss)

Gegen den Text unserer Kultur

Manche machten diesen Film Medems als mehr oder weniger offen verkappten Porno nieder, der sich hinter einer intellektuell verbrämten Psychostory verstecke. Tatsächlich enthält „Lucía und der Sex“ in der ersten Hälfte etliche „offene Sex-Szenen“ und eine dementsprechend deutliche Sprache. Medem selbst äußerte in einem Interview in der Zeitschrift „La gran ilusión“: „Der Sex kommt in einer Zwischenform von Porno und Werbung vor, es gibt keine schön fotografierten Körper. Nur schöne lyrische oder grausame Szenen“. Mir ging der Film jenseits solcher Bewertungen tief ins Herz.

Die Kellnerin Lucía (Paz Vega) beobachtet den bisher nicht sonderlich erfolgreichen Schriftsteller Lorenzo (Tristán Ulloa), der des öfteren das Café gegenüber dem Restaurant besucht, in dem sie arbeitet. Sie weiß, wo er wohnt, hat sich in ihn verliebt. Als er mit seinem Freund Pepe (Javier Cámara, zuletzt in Almodóvars „Hable con ella“ zu sehen) wieder einmal in dem Café sitzt, gesteht sie ihm ihre Liebe. Lorenzo ist völlig konsterniert. Bald aber sind beide ein leidenschaftliches Liebespaar. Beider sexuelle Begierde auf den anderen lässt sie ein Paar werden. Lorenzo fängt wieder an zu schreiben, Lucía liest seine Manuskripte am Computer.

Nach etlicher Zeit jedoch hat sich Lorenzo verändert. Er ist in sich gekehrt. Lucía bekommt nichts aus ihm heraus. Schließlich ist er verschwunden, hinterlässt ihr einen Zettel. Darauf teilt er ihr mit, dass es in seiner Vergangenheit etwas gebe, was er ihr nicht erzählen könne, was ihre Beziehung unmöglich mache. Das Telefon klingelt. Ein Polizist teilt Lucía mit, Lorenzo habe einen Unfall gehabt. Lucía knallt den Hörer auf. Sie glaubt, Lorenzo sei tot.

Hals über Kopf lässt sie alles hinter sich und fährt nach Formentera, der Insel, von der Lorenzo immer erzählt hatte, um in der Abgeschiedenheit zu trauern und zu vergessen. Sie lernt Elena (Najwa Nimri) kennen, die dort Zimmer vermietet, und Carlos (Daniel Freire), den einzigen Gast außer Lucía, der taucht und Lucía erzählt, man befinde sich eigentlich auf keiner Insel, es gebe keine Verbindung zwischen der Insel und dem Meeresgrund, die Insel sei eher ein Floß. Was Lucía nicht weiß: Vor sechs Jahren hatte Elena auf Formentera eine kurze, leidenschaftliche Affäre mit Lorenzo. Elena wurde schwanger. Luna (Silvia Llanos) wurde geboren. Und Carlos hieß früher einmal Antonio und war der Geliebte von Belen (Elena Anaya), dem Kindermädchen, das Elena für Luna eingestellt hatte.

Lorenzo seinerseits hatte Luna gesucht und hatte dabei Belen kennen gelernt. Belens Sucht nach Sex führte sie mit Lorenzo zusammen. Für einen kurzen Moment unbeaufsichtigt führte dies zum Tod Lunas ...

Medem erzählt in „Lucía y el sexo“ eine Geschichte, bei der nie klar und deutlich wird, was Fiktion und was Realität ist, verstärkt durch eine starke Symbolik in Bildern und die Diskrepanz zwischen schriftstellerischer Phantasie und wirklichem Leben, die zusehends verschwimmt. Die Geschichte könnte von ihren „Fakten“ her – also der entsprechenden Verwicklung der Personen und ihres schicksalhaften Zusammentreffens – durchaus passiert sein, sie könnte in ihren wesentlichen Bestandteilen aber auch phantasiert sein – und zwar noch dazu von unterschiedlichen Figuren: Lucía und Lorenzo. Sie könnte ab einem gewissen Punkt auch allein Lucías Phantasie entsprungen sein. Medem taucht den Betrachter in diese Wirrnis zwischen Fiktion und Realität völlig ein und besonders die Schlussszene macht dies mehr als deutlich. Nichts ist sicher in Medems Film, außer dass sich die Liebenden am Schluss wiederfinden.

Diese Reise durch eine phantastische Welt führt auf eine lichtdurchflutete, sonnige Insel, einen Ort der Zuflucht, des Asyls vor einer Vergangenheit, die als Verfolger auftritt, der Wärme, der Zuneigung Elenas, die den Tod Lunas vergessen will und nicht kann, die doch zugleich Rückkehr, Wiederholung des Vergangenen für beide Frauen ist. Auch Carlos ist des Vergessens wegen hier. Er hüllt sich in Schlamm und erklärt Lucía, der Schlamm sauge alles Scheußliche auf und im Wasser könne man es dann abschütteln.

All dies ist jedoch auch Teil der Geschichte, die Lorenzo aufgeschrieben und Elena unerkannt über das Internet zugesandt hat. Inwieweit ist diese Geschichte erfunden? Was davon ist wahr?

Medems Filme schwanken zwischen Melodrama und Kriminalfilm. Beide Genres sind Formen, hinter denen sich die Suche nach Sinn, Zusammenhang und Bestimmung verbirgt, gegen die die Liebenden letztlich aufbegehren. Die Geschichte selbst ist auch melodramatisch, nicht im Sinn der Filme eines Douglas Sirk, auch anders als bei Almodóvar, jedenfalls dramatisch bis in die tiefsten Winkel der seelischen Verfassung der Handelnden und ihrer Verstrickung. Die tiefe Zuneigung zwischen Lucía und Lorenzo wird durch die Vergangenheit, das Schicksalhafte der Biografien, von denen wir nur wenig erfahren, gestört und verstört (in anderen Filmen Medems auch zerstört). Luna heißt Lorenzos Tochter und der Vollmond steht über Madrid und Formentera wie ein stiller und stummer, aber unzerstörbarer Zeuge der Liebe und der Störungen dieser Liebe. Medem fragt nach dieser Liebe, nach dem Erfunden-Werden, dem Kern des Erotischen, das sich in Sex wie Schriftstellerei manifestiert, durch Vergangenes aber gefährdet scheint. Die Darstellung des Sexuellen „in einer Zwischenform von Porno und Werbung“, zwischen grenzenloser, pornografischer und auch tödlicher Phantasie und der „Reklame“ für die Vollkommenheit der Liebe, löst Medem in der zweiten Hälfte schlicht und einfach auf. Am Schluss steht die „gewollte“ Vereinigung von Lucía und Lorenzo. Das ist stark konstruiert wie der ganze Film – wie jeder Film! Es fällt nur deshalb stark auf, weil dieses Ende gegen die tragischen Erwartungen einer tragischen Geschichte gesetzt wird.

Letztlich jedoch entziehen sich Medems Filme einer logischen, äußeren Erklärung, einer „wissenschaftlichen“ Interpretation im engeren Sinn. Man muss sie genießen können, man muss unter ihnen leiden können, man muss mit einem Stich im Herzen das Kino verlassen können. Wenn man das nicht kann, sagen einem solche Filme nichts. „Lucía und der Sex“ trifft entweder auf einen Erfahrungshorizont, eine spezifische emotionale Grundstimmung, eine konkrete Gefühlswelt, oder eben nicht – so, wie das mit fast allen Filmen ist. Es ist weder tragisch, sie nicht zu mögen, noch ein besonderer Vorteil, sie zu verinnerlichen. Es ist weder „verdächtig“, sie zu mögen, noch sie nicht zu mögen.

Medem schreibt für mich gegen den Text, den unsere Kultur schreibt, gegen die gewohnte und als völlig selbstverständlich hingenommene Wahrnehmung unserer Zeit im kulturellen Kontext dem wir alle – auch Medem – verhaftet sind. Ein erfolgloses Unterfangen? Das mag ich nicht beurteilen. Das Gefängnis unserer Kultur ist zumindest nicht völlig abgeschottet; das wäre Stillstand auf der ganzen Linie. Die biografischen Muster unseres Lebens sind geprägt durch die Bedeutungen, die wir erinnerten Ereignissen und Erfahrungen zumessen, auch durch das Vergessen von „Dingen“, denen wir keine Bedeutung gaben oder geben. Diese unsere Subjektivität ist individuell verschieden und zugleich kulturell geprägt. Sie erschwert in gewisser Weise das Verständnis füreinander und prägt wiederum Erwartungshaltungen in bezug auf das Gegenüber. Luna bzw. ihr tatsächlicher oder scheinbarer, erfundener Tod stehen in gewisser Hinsicht eben auch für diese Störung, sind ein Einschnitt, ein tiefer Schnitt zwischen den Personen.

Medem lotet in „Lucia und der Sex“ aus, inwieweit sich durch das gegenseitige „Erfinden“ beider Personen im Akt der Innigkeit der Liebe (nicht einfach nur der Sexualität) ein Kontrapunkt gegen den Text der Kultur, ein rebellischer Akt gegen die scheinbar so natürliche Wahrnehmung unserer Zeit, ein innerer „Revolutionär“ finden ließe, der Glück versprechen könnte. Immerhin.