Lügen & Geheimnisse
(Secrets & Lies)
Frankreich, Großbritannien 1996, 142 Minuten
Regie: Mike Leigh

Drehbuch: Mike Leigh
Musik: Andrew Dickson
Director of Photography: Dick Pope
Montage: Jon Gregory
Produktionsdesign: Alison Chitty

Darsteller: Timothy Spall (Maurice Purley), Phyllis Logan (Monica Purley), Brenda Blethyn (Cynthia Rose Purley), Claire Rushbrook (Roxanne Purley), Marianne Jean-Baptiste (Hortense Cumberbatch), Elizabeth Berrington (Jane), Michele Austin (Dionne), Lee Ross (Paul), Lesley Manville (Sozialarbeiter), Ron Cook (Stuart)

Familienbande

Eigentlich passiert nichts Aufsehenerregendes in Mike Leighs Filmen („Hohe Erwartungen”, 1988; „Das Leben ist süß”, 1990; „Nackt”, 1994; „Topsy-Turvy”, 1999; „All or Nothing”, 2002). Alltägliches vermischt sich mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen, fast leise erzählt Leigh seine Geschichten aus der englischen Arbeiterklasse, auch wenn es hier und da einmal aufschreit, kracht oder man sich vor Lachen oder Rührung kaum halten kann. Leigh mutet dem Betrachter einiges zu. Über satte zwei Stunden erzählt er seine Geschichte um die Folgen von Adoption, Geheimnissen und Lügen rund um die Familie Purley.

Doch über diese lange Zeit ist jede Szene, ja jeder Augenblick voll von Erwartungen, Hoffnungen, Leid oder Freud, Humor oder Tragik. Mir jedenfalls geht es so. Als ob Leigh dem Genre des Actionfilms einen Kontrapunkt setzen wollte, füllt er jede Minute eben doch mit Aufregendem und Spannendem, aber nicht mit einer rein äußerlichen Energie, die schnell wieder verpufft, sondern mit einer Vitalität und Dynamik seiner Charaktere, die seinesgleichen sucht.

In „Secrets & Lies” erzählt Leigh die Geschichte der jungen schwarzen Frau Hortense Cumberbatch (Marianne Jean-Baptiste), deren Adoptivmutter gerade gestorben ist. Hortense weiß, dass da noch eine leibliche Mutter ist, seit sie sieben Jahre alt war, die sie nun suchen will. Über eine Sozialarbeiterin (Lesley Manville) erhält sie die entsprechenden Unterlagen über ihre Geburt und die Adoption. Ihr leibliche Mutter heißt Cynthia Rose Purley (Brenda Blethyn) und ist eine Weiße. Einige Zeit überlegt sie, ob sie überhaupt Kontakt aufnehmen soll, dann ruft sie Cynthia an.

Ein erstes Treffen. Cynthia ist entsetzt und neugierig, erschreckt und ängstlich, sie weint, sie hat ein schlechtes Gewissen. Aber beide Frauen finden zueinander.

So lernt Hortense Cynthias Familie kennen. Deren Bruder Maurice (Timothy Pall), einen Fotografen, dessen Frau Monica (Phyllis Logan), Cynthias knapp 21jährige Tochter Roxanne (Claire Rushbrook) aus der Beziehung zu einem anderen Mann und deren Freund Paul (Lee Ross.). Nur Maurice und Monica wissen, dass Cynthia mit 15 schwanger geworden war und das Kind sofort zur Adoption freigegeben wurde. Cynthia hatte das Baby nicht einmal gesehen. Roxanne hat keine Ahnung von ihrer Halbschwester. Aber noch andere Geheimnisse gibt es in der Familie Purley, etwa dass Monica keine Kinder bekommen kann, obwohl sie und Maurice sich immer welche gewünscht hatten.

Auf einem Familientreffen anlässlich des 21. Geburtstags von Roxanne platzt Cynthia mit der Wahrheit heraus, nachdem sie Hortense zunächst vor den anderen als Arbeitskollegin ausgegeben hatte. Und auch andere Lügen und Geheimnisse werden nun offenbart.

Leighs Filme sind sicherlich auch Milieustudien. Leigh bringt es vor allem fertig, ein homogenes Gesamtbild einer sozialen Umgebung zu visualisieren, in dem die Charaktere und deren Konflikte in ihrer ganzen Tiefe und Tragweite gezeigt werden. Man ist ganz nah dabei, wirklich hautnah am Geschehen. Es wäre kein Problem, Leighs Figuren ausführlich und eindringlich zu beschreiben. Der Facettenreichtum der Charakterdarstellung ist enorm.

Brenda Blethyns Cynthia zum Beispiel, eine verzweifelte, ja frustierte Frau knapp über 40, lebt mit ihrer Tochter Roxanne in einem jener typischen Reihenhäuser der working class in einem Vorort Londons. Cynthia ist vereinsamt, versucht noch ständig Roxanne zu erziehen, geht ihr über die Maßen auf die Nerven, heult, ist voll von Ängsten und Konflikten. Mit ihrer weinerlichen Stimme, ihrem ständigen „Schätzchen”, mit dem sie alle tituliert, ihrem Gequassel vertreibt sie nicht nur Roxanne, die als Straßenkehrerin bei der Stadt arbeitet. Auch Roxanne ist haltlos, kurz vor dem Absturz, wie die meisten Personen in Leighs Film. Ihre Beziehung zu dem eher stillen Paul ist schwierig. Sie treibt sich in Pubs herum und hat keine Perspektive.

Neben Brenda Blethyn glänzt auch (wieder einmal) Timothy Spall in seiner Rolle als Maurice, dem ruhenden Pol in der Familie, wie es scheint. Maurice hat es zu mehr gebracht als seine Schwester, die er seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat. Jetzt besucht er sie. Vor Jahren hatte er einem gewissen Stuart ein herunter gekommenes Atelier abgekauft und auf Vordermann gebracht, neue Kunden geworben. Doch auch wenn es ihm und seiner Frau finanziell gut geht, belastet der unerfüllte und unerfüllbare Kinderwunsch das Paar derart, dass die Ehe kurz vor dem Ende scheint. Dutzende von Ärzten hat man aufgesucht, aber überall dasselbe gehört: Monica kann keine Kinder bekommen. Sie beneidet Maurice Schwester um deren Tochter und sie projiziert ihre Verzweiflung in Form von Aggression auf Cynthia und Maurice.

In diese Situation platzt die junge Hortense, und es ist nicht ausgemacht, ob ihr Erscheinen die Familienmitglieder endgültig in den Ruin treibt oder aus der ganzen Scheiße herausholt.

Hier ist Leigh Optimist. Er weiß um die Kraft seiner Figuren, um die Solidarität, die sich trotz aller Konflikte und trotz allem aggressiven Verhalten in ihnen verbirgt. Er zeigt beispielsweise Cynthia eben nicht als völlig unsympathische Frau, von der man sich lieber abwendet. Er zeigt auch ihren Mut, den anderen Familienmitgliedern zu sagen, dass sie eine zweite Tochter hat. Brenda Blethyn leistet Enormes, um diese Cynthia überzeugend darzustellen; ähnliches gilt für Timothy Spall und auch die anderen Hauptdarsteller.

Leigh gelingt diese überzeugende Darstellung auch und vor allem dadurch, dass er seine Schauspieler in ungeschnittenen Sequenzen über etliche Minuten hinweg in einer Einstellung zeigt – beispielsweise das erste Treffen zwischen Cynthia und Hortsense. Die beiden Frauen sitzen nebeneinander in einem Café, Blickrichtung Kamera, und versuchen, mit der Vergangenheit fertig zu werden. Cynthia, weinend, verzweifelt, und doch einen Weg suchend, um ihre zweite Tochter zu akzeptieren. Cynthia, die zu Roxanne ein schwieriges Verhältnis hat, hofft, über Hortense das zu bekommen, was sie von Roxanne nicht mehr erwartet: gegenseitige Zuneigung. Ebenso beeindruckend ist die – ebenfalls in langen, ungeschnittenen Sequenzen, gezeigte – Szenerie des Familientreffens. Diese Szenen haben so etwas wie Live-Charakter.

Leigh zeigt zwar vor allem Menschen aus der englischen Arbeiterklasse. Doch das, was denen passiert, kann jedem von uns geschehen. Leigh benötigt keine affektierten Übertreibungen oder die Mechanismen des Sensationskinos. Seine Personen sind glaubwürdig, ebenso ihre Konflikte, ihr Verhalten – sie könnten in unserer Nachbarschaft leben.