Marie-Line
Frankreich 2000
Regie: Mehdi Charef

Drehbuch: Mehdi Charef
Musik: Bernardo Sandoval
Director of Photography: Alain Levent
Montage: Kenout Peltier
Produktionsdesign: Dominique Douret

Darsteller: Muriel Robin (Marie-Line), Fejria Deliba (Meriem), Valérie Stroh (Bergère), Yan Epstein (Léonard), Gilles Treton (Paul), M’bembo (Lagos), Aïssa Maïga (Malika), Selma Kouchy (Marnia), Antonia Malinova (Maïna), Veronica Novak (Sara), Sydney Kabran (Fathi), Noémi Thomas (Lila), Fernand Guiot (M. van Link), Eminé Oztoprak (Larissa), Cylia Malki (Laurence)

Gelebte Solidarität

1985 überraschte Regisseur Mehdi Charef mit seinem Film „Tee im Harem des Archimedes“, in dem es um die Probleme jugendlicher Arbeitsloser in einer tristen französischen Vorstadt ging und der gegen Rassismus die Solidarität von Outsidern proklamierte. Im Jahr 2000 kam er mit einem Film über den alltäglichen Rassismus in Frankreich ins Kino, der sicherlich nicht nur mit der Situation von Einwanderern in Frankreich in Verbindung gebracht werden kann.

In einem Kaufhaus ist Marie-Line (Muriel Robin) Leiterin einer Putzkolonne, zu der nicht nur Meriem (Fejira Deliba) und Bergère (Valérie Stroh) gehören, sondern auch etliche Asylbewerberinnen, illegale Einwanderinnen aus arabischen, afrikanischen Ländern oder auch Albanien. Die illegale Beschäftigung der billigen Arbeitskräfte wird vom Kaufhausleiter immer solange geduldet, bis die Ausländerpolizei ihre regelmäßigen Kontrollen macht. Entweder Marie-Line bekommt es hin, die Illegalen gut zu verstecken oder sie werden abgeführt und ausgewiesen.

Ihren Job verdankt Marie-Line der „Front National“; dafür musste sie Mitglied werden wie ihr Mann auch. Sowohl ihr unmittelbarer Vorgesetzter wie der Besitzer des Kaufhauses sind Mitglieder von Le Pens rassistischer Partei.

Marie-Line führt ein strenges Regiment: Sie treibt die Frauen, die auch für das bisschen Geld,  was sie für die Putzarbeiten bekommen, ordentlich an und lässt sie an allen Ecken und Enden spüren, was sie von Ausländern, Schwarzen, Arabern und ihrer Herkunft und Kultur hält. Außerdem rechtfertigt sie ihr Verhalten vor sich selbst und den anderen damit, dass ihre Putzkolonne schließlich wieder – zum dritten Mal – den heiß begehrten Titel „Putzstaffel des Jahres“ erlangen will.

Marie-Lines Ehe ist mehr oder weniger kaputt; sie hat nur noch ihre Tochter und ihr Enkelkind. Marie-Line ist unzufrieden, unzufrieden mit ihrem ganzen Leben, ihrer Ehe, ihrer Arbeit, den fremden Menschen, mit denen sie nicht zurecht kommt. Sie projiziert ihren ganzen Hass gegen ihre Kolleginnen.

Aber Marie-Line ist kein Unmensch, auch wenn sie das nicht gerne zugibt. Als die Polizei mal wieder eine illegale afrikanische Arbeiterin erwischt, nimmt sie deren zwei kleine Kinder heimlich bei sich auf. Sie fährt mit ihren Kolleginnen an einem Tag, als der Vorgesetzte nicht anwesend ist, ans Meer, statt das Kaufhaus zu putzen. Sie bemüht sich bei einer Nachbarin, die Lehrerin ist, um einen Platz für die beiden aufgenommenen Kinder in der Schule.

Als sie erfährt, dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer anderen Frau hat, beschließt sie, ein anderes Leben zu führen. Aber wie? ...

Es ist wirklich erstaunlich, mit welchem Einfühlungsvermögen Mehdi Charef eine alltägliche, tausendfach vorkommende Situation, die von Vorurteilen, Hass, Wut und mehr als genug Problemen gekennzeichnet ist, in einer nahezu akribisch-dokumentarischen Weise dem Zuschauer nahe bringen kann. Da droht kein multikultureller Zeigefinger der sog. „Ausländerfreundlichkeit“; Charef erzählt die Geschichte einer Frau und die Geschichte der Beziehungen dieser Frau, vor allem zu anderen Frauen. Er erzählt von Marie-Line, die in ihrer Gefühlswelt zwischen Hartherzigkeit und Mitgefühl von Anfang an schwankt, immer wieder auf sich selbst zurückfällt, aber doch immer stärker wahrnimmt und empfindet, dass sie von Menschen umgeben ist, die ihr Mitgefühl nicht nur verdienen, sondern die auch Mitgefühl für sie haben – trotz ihrer Strenge und zurückweisenden Haltung.

„Marie-Line“ ist ein Film der Annäherung zwischen Menschen, die sich ähnlicher sind, als sie zunächst glauben. Charef zeigt vor allem Marie-Line, aber auch ihre Kolleginnen in ihrer ganzen Blöße als Menschen, die sich letztlich näher stehen, als sie anfangs glaubten. Nur Meriem war das von Anfang an bewusst. Sie schweigt zu vielem, zu anderem setzt sie Marie-Line klare Grenzen. Sie weiß, dass ihre Chefin anders ist, als sie sich in ihrer Enttäuschung, Wut und Unzufriedenheit verhält.

Muriel Robin spielt die Hauptrolle mit einer selten gesehenen Hingabe, ja Sympathie für einen Menschen, der sich aus sich heraus wandelt, in wahrer Begeisterung für die Aufgabe, die das Drehbuch ihr vorschreibt. Ich kann nur sagen: Spitzenklasse! Fejria Deliba und Valérie Stroh als ihre ständigen Kolleginnen sind mit ihren Rollen derart realistisch verwachsen, dass man sie wirklich für das hält, was sie spielen. Ähnliches gilt für Aïssa Maïga, Selma Kouchy, Antonia Malinova und Veronica Novak.

„Marie-Line“ ist kein Film der „Multi-Kulti“-Ideologie, bei der „Ausländerfreundlichkeit“ oft nur die andere Seite der Medaille „Ausländerfeindlichkeit“ ist. „Marie-Line“ ist ein „praktischer“, kein Theorie-überfrachteter Streifen. Hier stimmt die Floskel: „aus dem Leben gegriffen“ oder besser „voll ins Leben hineingegriffen“, hingeschaut, ohne rosa-rote Brille, hineingeschaut, mitgefühlt und miterlebt. Charef erzählt, erzählt, erzählt mit einfachen und doch so intensiven Bildern – ohne Schnörkel, ohne Lehrhaftigkeit, aber mit aller und aller ehrlichen und offenen Sympathie für seine Figuren, einschließlich Marie-Line. Das Ende der Geschichte ist ein Anfang – und überwältigend schön, ohne unrealistisch zu sein. Es ist der Anfang einer wahren Freundschaft zwischen Frauen. In gewisser Weise ist „Marie-Line“ auch ein Frauenfilm, voller Sympathie, gelebter Solidarität und Liebe.

© Bilder: Alamode Film