Marseille
Deutschland 2004, 95 Minuten
Regie: Angela Schanelec

Drehbuch: Angela Schanelec
Director of Photography: Reinhold Vorschneider
Montage: Bettina Böhler
Produktionsdesign: Ulrike Anderson, Felicity Good

Darsteller: Maren Eggert (Sophie), Emily Atef (Zelda), Alexis Loret (Pierre), Marie-Lou Sellem (Hanna), Louis Schanelec (Anton), Devid Striesow (Ivan)

Freiheit ...

„Alle meine Filme beruhen auf
dem Gedanken, dass ein Großteil
des Lebens undurchschaubar,
voller Missverständnisse und
dem Zufall überlassen ist. Die
Figuren leben im Widerspruch
zu diesem Ausgeliefertsein,
und dem mehr oder weniger
ständigen Versuch, sich dagegen
aufzulehnen.”
(Angela Schanelec)

Wenn ein Film gegen alle eingeübten visuellen Gewohnheiten des Mainstream-Kinos gedreht wurde, dann gehört Angela Schanelecs „Marseille” sicherlich dazu. Der Film entzieht sich darüber hinaus aber auch allen gängigen Deutungsversuchen, psychologischen Erklärungen und gängigen Erwartungshaltungen. Gerade letzeres ist bei einer ersten Sicht des Films deutlich spürbar.

Zwei Frauen fahren durch Marseille, halten, gehen in eine Wohnung, die sehr spartanisch eingerichtet ist und in der kaum so etwas wie personelle Identität zu spüren ist. Sophie (Maren Eggert) aus Berlin und Zelda (Emily Atef) haben für einige Zeit die Wohnungen getauscht. Die Frauen stehen in der Wohnung, tauschen die Schlüssel, Zelda rückt noch ein Bett zurecht und geht. Sophie steht allein in der Wohnung, fast wie angewurzelt, fast.

Sophie ist Fotografin. Sie streift durch die ihr unbekannte Großstadt. Überall ist es laut, wimmelt von Menschen und Autos. Sie kauft ein. Sie fotografiert die Straßen. Sie läuft ziellos durch die Stadt, fährt Bus, schaut sich um, bleibt stehen. Man könnte meinen, Sophie sei traurig, ja depressiv. Aber Angela Schanelec und ihre Hauptdarstellerin Maren Eggert geben zunächst nicht viel preis über die junge Frau. Schanelec zeigt, in geradezu minimalistischer Manier, Alltägliches und das Gesicht einer Frau, das nicht wirklich viel offenbart.

Sophie streift mehrmals an einer Autowerkstatt in der Nähe der Ferienwohnung vorbei, bis sie den Mann, der dort arbeitet, fragt, ob er ihr ein Auto für einen Tag vermieten könne. Er kümmert sich darum. Am Abend gibt sie das Auto zurück, trifft Pierre (Alexis Loret), der ihr das Auto besorgt hatte, wieder in einer Bar. Die beiden kommen ins Gespräch – auch ohne etwas Wirkliches zu offenbaren. Und doch ist dieses Gespräch und der nachfolgende Besuch in einem Tanzlokal so etwas wie eine Offenbarung, jedenfalls für Sophie, die plötzlich zart lächelt.

„Darin besteht die ganze verschwiegene Freude
des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm.
Sein Fels ist seine Sache. Ebenso lässt der
absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt,
alle Götzenbilder schweigen. Im Universum,
das plötzlich wieder seinem Schweigen
anheimgegeben ist, werden die tausend
kleinen, höchst verwunderten Stimmen der
Erde laut. Unbewusste, heimliche Rufe,
Aufforderungen aller Gesichter bilden die
unerlässliche Kehrseite und den Preis des Sieges.
Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muss auch
die Nacht kennen lernen. Der absurde Mensch
sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr.” (1)

Ein harter Schnitt zeigt Sophie wieder in Berlin, ihren Wohnungsnachbarn, dann ihre Freundin Hanna (Marie-Lou Sellem) und deren kleinen Sohn Anton (Louis Schanelec), später Hannas Freund Ivan (Devid Striesow), ebenfalls Fotograf. Sophie passt auf Anton auf, während Hanna als Schauspielerin am Theater arbeitet und Ivan seiner Arbeit nachgeht. In zwei langen Sequenzen zeigt Schanelec Hanna bei einer Theaterprobe mit zwei Schauspielern und Ivan, wie er in einer Fabrik Arbeiterinnen fotografiert. In einer weiteren Szene zeigt sie Hanna und Sophie im Schwimmbad mit Anton und wie Hanna von ihrer Unzufriedenheit mit Ivan erzählt und Sophie Vorwürfe macht, an Ivan nichts Kritikwürdiges zu finden.

Gerade diese Sequenzen in Berlin sind zunächst etwas verwirrend. Sophie scheint aus dem Blickfeld zu geraten, die Theaterszene wird aufgrund der Anweisungen des Regisseurs dreimal wiederholt; Hanna spielt eine Hausangestellte, die das Gaslicht anzünden soll und von der Hausherrin gehasst wird. Die Szene in der Fabrik zeigt zunächst mehrere Arbeiterinnen, auf einem Stuhl sitzend, etwas unsicher, wie sie sich verhalten sollen, dann Ivan mit seiner Assistentin beim Fotografieren.

Doch diese Verwirrung, diese Unsicherheit, die außergewöhnliche Szenenfolge bekommen ihren Sinn, wenn man erfährt, dass Sophie – unausgesprochen – Ivan liebt. Und wenn man langsam zu spüren beginnt, dass die Akteure, und besonders Sophie, in einer ebenso unausgesprochenen Art und Weise der Realität ausgeliefert sind. Fast alle Akteure wirken fast abwesend, manchmal in sich gekehrt, weit weg, einem „Spiel” unterworfen, in dem sie nicht Regie führen. In einer Szene kommt Hanna nach Hause, trifft dort Ivan, wirkt aggressiv, entschuldigt sich, aber kann nicht artikulieren, was in ihr vorgeht. Ivan reagiert nüchtern, fast trocken, fast skrupellos. Und als Sophie ihn fragt, ob er Hanna überhaupt liebe, bekommt sie keine Antwort, jedenfalls keine verbale.

Immer wieder ist der Widerstand gegen das Hineingeworfensein der Akteure und ihre Abhängigkeit, ihre innere Unfreiheit, zu spüren, aber nicht jene Form der offenen, blanken Rebellion, des plakativen Protests, oder gar der radikalen Feindseligkeit. „Marseille” ist auch ein Film über die Großstadt, über das Überbordende, Unüberschaubare, nicht Kontrollierbare des städtischen Dschungels, dessen Gesetze die Akteure verinnerlicht haben, und den inneren Widerstand dagegen. Dabei wirkt die Kommunikation der Akteure zwar spärlich, geradezu manchmal nichtssagend, minimalistisch zurückhaltend und gebrochen. Und trotzdem handelt gerade Sophie vor dem Hintergrund dieser Miniatur-Kommunikation entschieden, ohne dass es zunächst visuell so erscheinen würde. Das hat seinen Grund vor allem in der angesprochenen Minimalistik der Inszenierung, dem sozusagen inneren Widerstand gegen das Mainstream-Kino, das einem nicht nur Probleme, sondern auch deren Lösungen wie auf einem Silbertablett servieren will.

„Wenn es ein persönliches Geschick gibt,
dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal
oder zumindest nur eines, das er unheilvoll
und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß
er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem
Augenblick, in dem der Mensch sich wieder
seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der
zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten
Drehung betrachtet er die Reihe
unzusammenhängender Taten, die sein
Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung,
die in seiner Erinnerung geeint ist und durch
den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt von
dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen,
ist er also immer unterwegs – ein Blinder, der
sehen möchte und weiß, dass die Nacht
kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.” (1)

Der innere Widerstand Sophies gegen das fremdbestimmte Eingebundensein korreliert mit dem Widerstand der Inszenierung gegen das Eingebundensein in die gängigen visuellen Regeln. Das macht einem manchmal das Zusehen „schwer”, was nicht gegen den Film spricht, sondern dafür, die eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten zu hinterfragen.

Man könnte auch sagen: Immer wenn man aufgrund des visuellen Eingeübtseins „etwas” erwartet, „enttäuscht” Schanelec den Betrachter und führt einen mit „harten” Schnitten zu etwas anderem. Es mag sein, dass der Zufall, der hier auch inszeniert wird (und damit ja ein inszenierter und damit kein Zufall mehr ist), der Zufall der, laut Schanelec, vieles in unserem Leben bestimmt, die Verunsicherung auslöst, das Verwirrende. Aber letztendlich ist „Marseille” in einem strengen Sinn formal durchkomponiert.

Sophie kehrt nach Marseille zurück. Und dies ist weniger eine Flucht, als Ausdruck ihrer Widerspenstigkeit. Dass sie am Schluss in der französischen Stadt überfallen wird, kurz nach ihrer Ankunft, ihre Kleider an den Mann, der sie überfiel, abgeben muss und auf der Polizeiwache in einem Verhör, zuerst stockend, dann flüssig erzählt, dann weint, ausgestattet mit einem gelben Kleid, das ihr die Polizei zur Verfügung stellte, mag man nun nicht mehr – wie das in einer gängigen Inszenierung üblich wäre – als tragischen Schlusspunkt interpretieren. Die Kamera zeigt Sophie, wie sie im gelben Kleid durch Marseille geht, zum deutschen Konsulat – und in einer langen Einstellung sehen wir Sophie am Strand von Marseille spazieren gehen. Die Kamera entfernt sich immer weiter von ihr, nur ein gelber Punkt in der herannahenden Dunkelheit ist noch zu sehen. Die Regisseurin lässt Sophie allein – aber nicht im Sinne von „jemanden, der Hilfe braucht, allein lassen”. Sophie hat sich jetzt in gewisser Weise durch ihren Widerstand und ausgelöst durch den Überfall weitgehend dem Ausgeliefertsein entzogen.

„Marseille” dekliniert auf eine unaufdringliche Weise diesen Weg in die innere und weitgehend auch äußere Freiheit.

(1) Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg 1992 (rororo 12375) (Original: Paris 1942), S. 100 f.

© Bilder: Peripher Filmverleih