Memento
(Memento)
USA 2000, 113 Minuten
Regie: Christopher Nolan

Drehbuch: Christopher Nolan, nach einer Kurzgeschichte von Jonathan Nolan
Musik: David Julyan, David Bowie („Something In The Air“)
Director of Photography: Wally Pfister
Montage: Dody Dorn
Produktionsdesign: Patti Podesta

Darsteller: Guy Pearce (Leonard Shelby), Carrie-Ann Moss (Natalie), Joe Pantoliano (Teddy), Mark Boone Junior (Burt Hadley), Russ Fega (Kellner), Jorja Fox (Catherine Shelby), Stephen Tobolowsky (Sammy Jankis), Harriet Sansom Harris (Mrs. Jankis), Thomas Lennon (Doktor), Callum Keith Rennie (Dodd)

Wir sind Erinnerung

„Your coat and hat are gone
I really can't look at your little empty shelf
A ragged teddy bear
It feels like we never had a chance
Don't look me in the eye

We lay in each others arms
But the room is just an empty space
I guess we lived it out
Something in the air
We smiled too fast
then can't think of a thing to say.“ (1)

„Wir sind Erinnerung“ heißt ein Buch des amerikanischen Professors für Psychologie an der Harvard University (2) Daniel L. Schacter. In dieser Studie informiert Schacter nicht nur über die neuesten Ergebnisse der Gedächtnisforschung, sondern macht dem Leser auch bewusst, dass wir, unsere Identität, unsere ganze Individualität und unsere lebensgeschichtliche Kontinuität letztlich auf Erinnerung beruht, d.h. auf einem System von Bedeutungen, die wir Ereignissen in unserem Leben, die wir mittelbar oder unmittelbar erlebt haben, zumessen. Ein Mensch ohne Erinnerung, ohne Gedächtnis muss sterben, weil er sich mit seinem Gedächtnis verliert.

In dem Streifen „Memento“ beschreibt Christopher Nolan fast schon akribisch den Zustand des partiellen Gedächtnisverlustes, hier der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Leonard Shelby (Guy Pearce) kann sich an gerade geschehene Dinge, Gespräche, Ereignisse nur noch wenige Minuten erinnern; dann scheinen sie unwiederbringlich aus seinem Gedächtnis verschwunden zu sein. Nolan bezieht den Zuschauer in diesen Gedächtnisschwund zunächst mit ein. Man kennt aus Shelbys Leben nur Bruchstücke an Erinnertem, ohne jedoch zu wissen, ob diese Erinnerungen tatsächlichen Ereignissen entsprechen oder Shelbys Bedeutungen, die er diesen Ereignissen zumisst. Objektivität und Subjektivität, Wahrheit und Phantasie verschwimmen. Es scheint nur noch wichtig, ob etwas plausibel, nicht ob es wahr ist.

Shelby trägt teure Anzüge, fährt einen ebenso luxuriösen Jaguar und hat stets viel Bargeld bei sich. Er ist auf der Suche nach einem Mann, der seine Frau vergewaltigt und ermordet hat. Seit diesem Ereignis besteht Shelbys Gedächtnisverlust, hervorgerufen also wahrscheinlich durch einen Schock verbunden mit einem Schlag auf den Kopf. Jedenfalls glaubt Shelby fest daran, dass seine Frau tot ist. Sein Zustand ist ihm dabei durchaus bewusst. Und er versucht, mit Fotos aus einer Polaroid, auf die er Notizen schreibt über Personen, Ereignisse, mit Aufzeichnungen, Karteikarten, Skizzen und nicht zuletzt Tätowierungen, die er sich auf dem ganzen Körper anbringen lässt, den Verlust seines Kurzzeitgedächtnisses teilweise auszugleichen.

Nolan rollt nun in einer Art Retrospektive den Gang der Ereignisse rückwärts ab. Der Zuschauer erfährt auf diese Weise ein Brückstück nach dem anderen. Zuerst tauchen Personen und Orte in Shelbys Leben auf, deren Zusammenhang mit dem schrecklichen Ereignis auch dem Zuschauer verborgen sind. Vor allem sind das Teddy (Joe Pantoliano), der so tut, als kenne er Shelby schon immer, als sei er sein Freund, und Natalie (Carrie-Anne Moss), die Shelby angeblich aus Mitleid bei der Suche nach dem Mörder seiner Frau helfen will. Nach und nach erfährt man, dass Natalie und Teddy ihre eigenen Interessen verfolgen.

„But there's something in the air
Raced for the last time
Well I know you hold your head up high
There's nothing we have to say
There's nothing in my eyes
But there's something in the air
Something in my eye
I've danced with you too long
There's something I have to say
There's something in the air
Something in my eye
I've danced with you too long.“ (1)

Eingewoben in den retrospektiven Ablauf der Ereignisse sind in schwarz-weiß gehaltene bruchstückhafte Szenen eines Telefonats Shelbys mit einer zunächst unbekannten Person am anderen Ende der Leitung. Dieser Person erzählt Shelby, der für eine Versicherung arbeitete, immer wieder die Geschichte eines seiner Kunden, der ebenfalls sein Gedächtnis verloren hatte. Doch auch hier kann sich niemand sicher sein, ob Shelby die Geschichte seines Ex-Kunden wirklich erinnert. Erinnerung gerät in dem Film zu einer unsicheren Angelegenheit, die nach Kriterien von wahr und falsch nicht mehr zu beurteilen ist. Gab es diesen Kunden und wird sein Fall von Shelby richtig erinnert oder misst Shelby dieser Geschichte „nur“ eine Bedeutung zu, die für die Lösung seines Problems bzw. die verzweifelten Versuche der Rekonstruktion seines Lebens plausibel erscheinen?

Auch für den Zuschauer, der – im Unterscheid zu Shelby – jedenfalls immer mehr Bruchstücke geliefert bekommt, um zumindest zu versuchen, seine Geschichte zu rekonstruieren, bleibt in jeder Phase des Films eine Situation, in der er die Geschichte Shelbys neu interpretieren bzw. modifizieren muss. Selbst am Ende des Films bleiben nur Bruchstücke eines Mosaiks von Bedeutungen, Ereignissen, Handlungsabläufen, ohne dass der Ablauf der Ereignisse hundertprozentig rekonstruierbar wäre. Doch im Unterschied zu Shelby besitzt der Zuschauer sein Gedächtnis und kann rekonstruieren, sich an die rückwärts erzählte Geschichte im Film erinnern.

Umso erschreckender ist nach Ablauf des Films die Vorstellung, in welcher Situation sich Shelby zu Anfang des Films befand, der Anfang, der ja das vorläufige Ende seiner Suche nach Erinnerung darstellte: in einer, Shelby selbst gar nicht bewussten, für den Zuschauer aber verzweifelten Situation des Nicht-Wissens, der Nicht-Identität. Selbst die zahlreichen Fotos, Skizzen, Aufzeichnungen usw. helfen ihm nur begrenzt. Sie sind der verzweifelte Versuch, lebensgeschichtliche Kontinuität wiederherzustellen.

Ein Lob noch an Guy Pearce, der die Rolle des Shelby in all seiner Verzweiflung, aber auch in seinem unermüdlichen Kampf sicher und überzeugend spielt und verdeutlicht, dass der letzte Sinn in Shelbys Leben nichts anderes mehr ist als diese unermüdliche, aber zwecklose Suche nach der Wiedererlangung seines Gedächtnisses. Es bleibt letztlich nur die geringe Hoffnung, dass er es durch einen Schock oder ähnliches wiedergewinnt.

(1) Auszüge aus: David Bowies „Something in the Air“.
(2) Daniel L. Schacter: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit, Reinbek bei Hamburg 2001 (Originalausgabe: New York 1996), 649 Seiten mit ausführlicher Bibliografie und gutem Register, DM 29,90 (rororo 2990).

Zu Schacters Buch:

Im Mai 2001 erschien bei Rowohlt ein Taschenbuch, das ich jedem empfehlen möchte, der sich für Gedächtnisforschung interessiert. Geschrieben wurde es von dem amerikanischen Professor für Psychologie an der Harvard University, Daniel L. Schacter. Gedächtnisforschung hat in den letzten Jahren in Psychologie und Neurophysiologie einen beträchtlichen Aufschwung genommen. So erschien u.a. im Dezember 2000 auf deutsch das Buch »Einsicht ins Gehirn. Wie Denken und Sprache entstehen«, geschrieben von den beiden Amerikanern William H. Calvin (Neurophysiologe) und George A. Ojemann (Neurochirurg) (Erstveröffentlichung 1994, erschienen bei dtv, DM 26,50). Beide Veröffentlichungen sind populärwissenschaftlich geschrieben und sehr spannend geschrieben, ohne dass dadurch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Gedächtnisforschung verloren gingen.

Schacter räumt mit einigen (Vor-)Urteilen über die Funktionsweise des Gedächtnisses auf, vor allem mit der landläufigen Meinung, das Gedächtnis funktioniere ähnlich wie ein Computer. Er zeigt auf, das Erinnern alles andere ist als das »Sammeln von Momentaufnahmen unseres Lebens im zerebralen Fotoalbum«. Gedächtnis, so Schacter, sei mit der Aufgabe betraut, »lebensgeschichtliche Kontinuität herzustellen und damit so etwas wie Identität, Persönlichkeit«. Erinnerungen sind keine gesammelten Informationen über das eigene Erlebte, keine Daten-Bits, sondern im Gehirn codierte, d.h. mit Bedeutung versehene Erfahrungsfragmente, aus denen wir unsere Lebensgeschichte konstruieren: »Das Gedächtnis spielt eine zentrale Rolle im Versuch des Gehirns, die Erfahrung zu verstehen und zusammenhängende Geschichten über sie zu erzählen. Mehr als diese Geschichten haben wir nicht über unsere Vergangenheit, daher bestimmen sie ganz wesentlich, wie wir uns sehen und was wir tun« (S. 496).

Entscheidend ist aber nicht nur, dass wir unsere Erfahrungen und Erlebnisse im Gedächtnis codieren, sondern auch die Frage, wann wir uns warum an etwas und wie erinnern. Dies ist die Frage nach dem auslösenden Ereignis, dass es an etwas erinnern lässt. Dabei geht es nicht nur um einen äußerlichen Reiz, der uns etwas ins Gedächtnis ruft, sondern auch und vor allem darum, wie dieses auslösende Ereignis strukturiert ist. Schactner zeigt an mehreren Versuchen, die mit an Gedächtnisschwund leidenden Patienten (nach Schädigungen durch Unfälle, Schlaganfällen, oder bei Vorliegen von Alzheimer oder Epilepsie) gemacht wurden, welche Regionen des Gehirns im einzelnen bzw. in »Zusammenarbeit« für welche Gedächtnisleistungen verantwortlich sind und wie wir uns z.B. auch als gesunde Menschen in unseren Erinnerungen völlig täuschen können.

Schactner zeigt, dass die Art und Weise, wie wir uns erinnern, sehr eng mit der gegenwärtigen Lebenssituation zusammenhängt. Es ist durchaus möglich, dass wir ein Ereignis im Jahr X ganz anders erinnern als im Jahre x+10.

Weiter geht es in dem Buch auch um Fragen wie: Kann Erinnerung von außen »produziert« werden (eine wichtige Frage z.B. im Zusammenhang mit Zeugenaussagen nach suggestiver Befragung etwa in Kindermissbrauchs-Fällen)? Wieso erinnern wir uns beim Autofahren nicht ständig daran, wie wir es gelernt haben? Wieso haben wir Fertigkeiten, von denen wir möglicherweise gar nicht mehr erinnern können, wie wir sie erworben haben? Was bedeutet Verdrängen?

Die Vermutung liegt nahe, dass die in diesem Buch enthaltenen Erkenntnisse und Fragestellungen auch erheblichen Einfluss auf erkenntnistheoretische Voraussetzungen in den Sozialwissenschaften haben. So muss man sich beispielsweise erneut die Frage stellen, wie man Ergebnisse von Interviews oder anderer Befragungen etwa im Rahmen von Oral History oder Biografieforschung bewerten kann.


Vgl. dazu auch meine unter “In eigener Sache” zu findende Arbeit:
Erinnern, Vergessen und Gedächtnis.
Zur biologischen Strukturdeterminiertheit unserer Erkenntnis
und den erkenntnistheoretischen Grundlagen
von erinnertem Erlebten (2000)

 

Memento-3
Memento-4