Sitcom (1998)
8 Frauen (2002)
Swimming Pool (2003)




Sitcom
(Sitcom)
Frankreich 1998, 85 Minuten
Regie: François Ozon

Drehbuch: François Ozon
Musik: Éric Neveux
Director of Photography: Yorick Le Saux
Montage: Dominique Petrot
Produktionsdesign: Angélique Puron

Darsteller: Évelyne Dandry (Elaine), François Marthouret (Jean), Marina de Van (Sophie), Adrien de Van (Nicolas), Stéphane Rideau (David), Lucia Sanchez (Maria), Jules-Emmanuel Eyoum Deido (Abdu)

Voila !

„Ich wollte vor allem die Geschichte
einer Familie erzählen. Auf die Idee,
die Mittel einer Sitcom zu benutzen,
kam ich, weil ich darin auch andere
Genres, die ich mag, benutzen konnte,
wie Horrorfilme, Melodramen und
Komödien. Die Bedingungen unter
denen mein Film entstand, waren auch
eher die einer Sitcom: wenig Geld,
unbekannte Schauspieler, ein einziger
Drehort, kurze Filmdauer.” (1)

François Ozon war eigentlich immer für eine Überraschung gut. Man denke an „Unter dem Sand” (2000), „8 Frauen” (2002) oder zuletzt „Swimming Pool” (2003). 1998 drehte Ozon einen – ja soll man sagen makabren – Film, den er schlicht und ergreifend Sitcom nannte. Was eine Sitcom ist, dürfte inzwischen jeder wissen, zumal diese Art der Fernsehunterhaltung inzwischen die meisten Kanäle überschwemmt. „Sitcom” hingegen ist in mehrerer Hinsicht eben eine auf Spielfilmlänge ausgedehnte „normale” Sitcom und zugleich doch etwas ganz anderes. Ozon benutzt zunächst einmal die (mehr oder weniger) strengen Regeln dieses Fernsehvergnügens oder TV-Missvergnügens: Die Geschichte einer Familie in Episoden, streng genommen aber – entgegen der Sitcoms – eine Geschichte mit Abschluss, während die entsprechenden TV-Sendungen ja zumeist in Serie gedreht werden. Trotzdem ist nach dem bizarr anmutenden Schluss des Films eine Fortsetzung durchaus denkbar, wenn auch sicher nicht beabsichtigt.

Es geht um die „gutbürgerliche” Familie von Elaine (Évelyne Dandry) und Jean (François Marthouret) und deren Kinder Sophie (Marina de Van) und Nicolas (Adrien de Van). Daneben treffen wir noch auf die Haushälterin Maria (Lucia Sanchez), deren Mann Abdu (Jules-Emmanuel Eyoum Deido) aus Kamerun, der als Lehrer arbeitet, und auf Sophies Freund David (Stéphane Rideau). Elaine und Jean sind um die 50, die beiden Kinder, schon volljährig, wohnen noch zu Hause.

Der Film spielt ausschließlich im Haus der nachnamenlosen Familie. Schwung kommt ins Haus, als Jean, der in der medizinischen Forschung zu arbeiten scheint, eines Tages eine (natürlich gesunde) weiße Laborratte mit nach Hause bringt, vor der sich Elaine ekelt. Von dieser Ratte scheint ein gewisser Zauber auszugehen. Ein magischer Blick der Ratte scheint Nicolas zu veranlassen, beim abendlichen Diner, zu dem Elaine auch Maria eingeladen hat (die ihren Mann Abdu mitbringt), der versammelten Gemeinde zu gestehen, er sei homosexuell.

Von nun an spielt der Film sozusagen auf zwei Ebenen: einer „offiziellen” und einer „inoffiziellen”. Die „normale” Familiengeschichte spielt sich in den Bereichen des Hauses ab, die für alle zugänglich sind: Treppen, Gänge, Küche, Wohnzimmer: klassische Sitcom. Hinter den verschlossenen Türen, den Privatgemächern der Beteiligten jedoch, kommen Dinge zum Vorschein, von denen die TV-Sitcom nicht zu sprechen wagt.

„Die Sitcom könnte ein wunderbares
Experimentierfeld sein und heute die
gleiche Rolle spielen wie früher die so
genannten B-Filme. Doch um möglichst
viele Menschen anzusprechen, wirft man
oft alles aus der Sitcom raus, was
missfallen könnte. Der kleinste
gemeinsame Nenner wird angestrebt,
alles wird entschärft: bloß keine Grenzen
überschreiten! Mir dagegen macht es Spaß,
Konflikte aufzudecken und den Zuschauer
kräftig zu rütteln!” (1)

Elaine möchte, dass ein Unbeteiligter mit ihrem Sohn spricht. Abdu begibt sich in das Zimmer von Nicolas – und erweist sich selbst als Homosexueller, der dem jungen Mann nicht nur die Brust zeigt und fragt, ob ihn das errege – während die anderen bei Tisch über Homosexualität reden und Papa einen Vortrag über Homosexualität im alten Griechenland hält.

Nicht nur das: Sophie scheint mit ihrem Freund David in sexueller Hinsicht unzufrieden, legt sich auf das Sofa und lässt die Ratte über ihren Körper laufen und an äußerste empfindlichen Stellen schnuppern. Wenig später springt Sophie aus dem Fenster. Folge: Sie verbringt nach einer Zeit im Koma ihr Leben fortan im Rollstuhl.

Dieser abrupte „Zwischenfall” hat keine sichtbaren Ursachen. Aus welchen Gründen Sophie todessehnsüchtig ist, bleibt völlig offen. Ozon zeigt einmal mehr, wie „diktatorisch” ein Regisseur sein visuelles Anliegen vorträgt. Er lässt eine junge Frau aus dem Fenster fallen, einen Sprecher aus dem Off sagen „Einige Monate später” und kann dann zum nächsten übergehen. Dieser dramaturgische Kniff ist in „Sitcom” allerdings so offensichtlich und durchschaubar, dass er in gewisser Weise Kino als etwas (auch) Absurdes erscheinen lässt. Es kann uns in diesem Fall sogar egal sein, warum Sophie aus dem Fenster gesprungen ist. Fortan sitzt sie im Rollstuhl, mit zwei Haarknüsten rechts und links am Kopf und instrumentalisiert David für ihre Sexualität: Sadomaso ist angesagt, aber David versagt auch als „kleines Hündchen” und lässt sich im Bad von Maria auf besondere Art befriedigen – bis Sophie die beiden fotografiert, das Foto in die Hände von Abdu gerät, der es seinen Schülern zeigt, woraufhin er entlassen wird usw. usf. Abstrus!

Währenddessen ersinnt Elaine – immer noch verzweifelt über des Sohnes Schwulsein – die Theorie, durch Verführung des eigenen Sohnes diesen „umzupolen”. Gesagt, getan. Inzest versus Homosexualität. Nicolas bekommt einen Orgasmus in seiner Mutter – und bleibt schwul. Und Jean? Jean hält sich aus allem heraus, liest den Wirtschaftsteil der Zeitung und kommentiert fast alles mit einem Sprichwort. Den Beischlaf seiner Frau mit Nicolas kommentiert er auch: Sie sei eine sehr intelligente Frau. Und Abdu erweist sich als Schwuler, was Maria gerade recht ist, denn sie fühlt sich als Lesbe, und Sophie denkt über einen Beischlaf mit ihrem Vater nach.

Über allem scheint die immer noch namenlose Laborratte zu wachen – bis Elaine eine Entscheidung trifft: Die Familie muss in die Therapie. Was man dort wohl feststellen wird?

„Die Kulisse einer Sitcom, das sind drei
Wände. Ich wollte aber auch Decken
und Böden; ein Haus filmen wie ein
Puppenhaus, in dem Spielzeugfiguren leben.
Ich wollte eine Geschichte erzählen wie ein
Kind – diese unglaublichen Geschichten,
die man sich als Kind ausdenkt – und
keine Zensur auf mich ausüben, also die
niedrigsten Instinkte, Vulgäres, Lächerliches,
Gefühle ... alles ohne läuternde Absichten
zeigen. So gesehen ist ‚SITCOM’ der Film
eines – perversen – Kindes.” (1)

„Sitcom” mag man oder eben nicht. Man kann den Film für belanglos halten, für übertrieben in den sexuellen Anspielungen und Vorkommnissen, Phantasien usw., in der Selbstverständlichkeit, mit der alle auf den Inzest, die Sadomaso-Praktiken, den schwulen Zirkel, den Nicolas in seinem Zimmer gründet, reagieren. Oder mit einer cineastischen Bewunderung, wie ein Regisseur das Kino auf den Kopf und wieder auf die Beine stellt.

Ozon lässt das Haus, in dem sich alles abspielt, von solchen, nicht nur sexuellen, kindlichen, kindlich-erwachsenen Phantasien geradezu überschwemmen, eingebettet in eine „normale” Familiengeschichte, die eigentlich gar keine ist – und dann doch wieder. In diesem „Puppenhaus”, wie er das nennt, kann er sich austoben, können sich seine Figuren austoben, kann sich die Logik breit machen und zugleich die Unlogik, und das Unwahrscheinliche – die Ratte. Dieses Tierchen steht für das Paradoxon sowohl des „Genres” Sitcom, als auch für das des Kinos überhaupt: etwas auf die Leinwand zu zaubern, was von vorne bis hinten erstunken und erlogen ist – oder eben wahr. Die Ratte ist der dramaturgische deus ex machina, der Katalysator, der unwahrscheinliche Auslöser. Und jeder denkt: So ein Quatsch! Eine Ratte. Am Schluss setzt Ozon der Verführung des Zuschauers die Krone auf, indem er die Ratte zu dem macht, an was man eben nicht glaubt: den Magier.

„Sitcom” ist ein einziger Inzest, denn jede Sitcom ist es ebenso: ein sich ausschließlich selbst immer wieder und gnadenlos befruchtendes leeres Etwas, das nie über sich selbst hinaus kann – und man denke bloß nicht, das habe etwas mit Realität zu tun. Es ist diese vorgetäuschte Realität, die in ihrer mehr oder weniger perfekten Suggestion den Laden am Laufen hält (siehe „Lindenstraße” mit mehr 800 oder 900 Folgen). Ozons Film hätten alle für eine ganz normale Sitcom gehalten – und wahrscheinlich wären dann alle völlig enttäuscht aus dem Kino gekommen –, wenn er den Film nicht mit Unwahrscheinlichem, Vulgärem, Kinderphantasien, Erwachsenenphantasien, den Ängsten und den Leimruten für den Zuschauer gefüllt hätte, die das Kino und jede Sitcom ad absurdum führen. Und weil er das getan hat, gehen wir in den Film – wie in viele andere auch.

Und bei alldem ist „Sitcom” dennoch ein ernst zu nehmender Film – selbst was die Konflikte in der Familie um Jean und Elaine, Sophie und Nicolas angeht. Der merkwürdige, aber nichtsdestotrotz krönende und logische Schluss des Films ist eine von zwei möglichen Lösungen des „Falls” – und zugleich ein Happyend von der Sorte, bei der einem im Magen etwas mulmig zumute ist. Und zugleich ein Schluss, der einem Kriminalfilm angemessen wäre: Massenmord oder Rattenmord? Eins von beiden musste es sein. „Sitcom” ist zum Kotzen und zum Lieben – eben so ähnlich wie das Leben.

(1) François Ozon, zitiert nach: http://8mm.kinokiller.de/sitcom/



8 Frauen
(8 femmes)
Frankreich 2002, 103 Minuten
Regie: François Ozon

Drehbuch: François Ozon, Marina de Van, nach einem Theaterstück von Robert Thomas
Musik: Krishna Levy
Director of Photography: Jeanne Lapoirie
Montage: Laurence Bawedin
Produktionsdesign: Arnaud de Moleron

Darsteller: Catherine Deneuve (Gaby), Isabelle Huppert (Augustine), Emmanuelle Béart (Louise), Fanny Ardant (Pierrette), Virginie Ledoyen (Suzon), Danielle Darrieux (Mamy), Firmine Richard (Madame Chanel), Ludivine Sagnier (Catherine), Dominique Lamure (Marcel)

Il n’y a pas d’amour heureux

Ein prächtiges Landhaus, abgelegen und verschneit irgendwo im Frankreich der 50er Jahre. Die junge Studentin Suzon (Virginie Ledoyen) ist von ihrer Mutter Gaby (Catherine Deneuve), einer sehr auf Vornehmheit und äußeres Erscheinen achtenden Frau, vom Bahnhof abgeholt worden, um mit ihr und der Familie Weihnachten zu feiern. Beide werden von Gabys Mutter, die alle Mamy (Danielle Darrieux) nennen, empfangen. Mamy ist an den Rollstuhl gefesselt. Sie ist verarmt und wurde auf Drängen Gabys von deren Mann – dem einzigen Mann im Haus – aufgenommen, samt der exzentrischen, verbiesterten Schwester Gabys, Augustine (Isabelle Huppert). Anwesend ist auch Suzons jüngere Schwester, die 16jährige Catherine (Ludivine Sagnier), ein aufsässiger und erfahrungshungriger Teenager. Für das leibliche Wohl und sonstige Dienste zuständig sind die Haushälterin Chanel (Firmine Richard), die schon lange bei der Familie arbeitet und Suzon und Catherine großgezogen hat, sowie das Dienstmädchen Louise (Emmanuelle Béart), die auf Betreiben des Hausherrn Marcel (Dominique Lamure, der nur mit dem Rücken zum Publikum zu sehen ist) angestellt wurde und einen etwas geheimnisvollen Eindruck macht.

Marcel liegt im Bett. Als nach und nach alle anwesend sind, will man ihn wecken. Aber Marcel liegt auf dem Bauch im Bett mit einem Messer im Rücken. Selbstmord scheidet daher aus. Rasch begreifen die Anwesenden, dass der Mörder eine Mörderin sein muss. Denn niemand sonst hat das Haus betreten. Der Schnee macht es unmöglich, das Haus zu verlassen. Die Telefonleitung wurde von der Mörderin zerschnitten. Der Motor des einzigen Autos wurde absichtlich beschädigt. Jeglicher Kontakt zur Außenwelt ist unmöglich geworden.

Suzon beginnt, die anderen zu befragen. Was haben sie in der Nacht getan? Es kommt heraus, dass jede der Frauen zum Teil mehrmals nachts aufgestanden waren und teilweise auch mit Marcel gesprochen haben. Alle haben etwas zu verbergen und wollen nicht, dass es ans Tageslicht kommt. Die Lage spitzt sich zu, als es zwischen den beiden ungleichen Schwestern Augustine und Gaby zu einem Handgemenge kommt. Plötzlich steht Mamy aus ihrem Rollstuhl auf und kann zur Überraschung aller einwandfrei gehen. Ja, und dann spielen noch Aktien von Mamy, die verschwunden sind, das Gerücht, Marcel sei pleite gewesen, eine lesbische Beziehung, eine Schwangerschaft und einiges mehr an gut gehüteten Geheimnissen eine Rolle, die allesamt zutage befördert werden. Und die verstoßene Schwester von Marcel und Ex-Nackttänzerin Pierrette (Fanny Ardant) taucht wie aus heiterem Himmel auf und bringt weitere Verwirrung, Gerüchte und bittere Wahrheiten in die Szenerie ...

Ozon lässt seinen Film beginnen wie eine Douglas-Sirk-Schnulze: Ein romantisch verschneites Landhaus, ein Reh nähert sich, der herrschaftliche Eingang wird gezeigt. Suzon und Gaby kommen an ... Doch sehr schnell wechselt die Atmosphäre in ein bis zum Schluss enorm komödiantisches Familiendrama, in dem Ozon alle Register des Tragikomischen zieht. Die ganze Fassade des großbürgerlichen Scheins wird sehr schnell eingerissen – vor allem (aber nicht nur) exzellent durch Isabelle Huppert in der Rolle der alten Jungfer Augustine, mit ihrer schnippischen, bewusst verletzenden, zickigen und rücksichtlosen Art. Wenn Augustine die Treppe im Haus herunter kommt – das Zentrum des Geschehens –, sind Kampf und Enthüllung, Intrige und Verleumdung angesagt. Entscheidend jedoch ist, dass Ozon seine Figuren nicht in gut und böse einteilt, sondern durch ein ungeheures und gelungenes Maß an Humor und vor allem Sarkasmus hautnahe Sympathie ausstrahlen lässt. Die feuerspeiende, ekelhafte Augustine ist einfach – umwerfend (ich beginne zu schwärmen). Am liebsten würde ich in den Film hineinspringen, sie umarmen und garantiert heftig ihre Fingernägel zu spüren bekommen.

Aber Ozon enthüllt nicht nur auf eine ihm eigene Art die Familientragödie. Er lässt jede seiner Aktricen singen, wunderbare, traurige, aber auch lebenslustige Chansons, wodurch sie alle zugleich auch in den Kinohimmel versetzt werden, zu dem sie unweigerlich als Schauspielerinnen gehören.

Anders als Chabrol oder Buñuel, die den Schein, die Enge und die Verlogenheit, den diskreten Charme der Bourgeoisie in ihrer ganzen Tragik und Verächtlichkeit enthüllten, verquickt Ozon Komödie und Satire, Sarkasmus und Melodram, Agatha-Christie-Krimi und Musical zu einem wuchtigen Feuerwerk, das die ganze Falschheit, die Intrigen und Ränke, den Egoismus in der Familiengeschichte auf amüsante und doch zugleich deutliche Weise enthüllt, nicht ohne die Genre, die er bemüht, gleichzeitig und obendrein mit durch den Kakao zu ziehen.

Phänomenal (ich schwärme schon wieder, Vorsicht!)! Dem Film nach einem fast vergessenen Theaterstück von Robert Thomas merkt man seine Herkunft an und auch nicht. Ozon inszeniert Theater, aber so dicht und intensiv als Film, das man es kaum bemerkt. Die Schauspielerinnen – acht Größen des französischen Kinos, die hier auch wahrlich zu meisterlicher Größe aufsteigen und gefeiert werden – spielen Figuren und zugleich sich selbst. Sie spielen das Kino, die Kinogeschichte nach. Die Deneuve, die große Darrieux, die Huppert, sie sind auch alle sie selbst, die grande dames du cinéma, aufgebaut über Jahre oder Jahrzehnte. Ihre Garderobe, ihr Spiel, der Glanz, der sie umgibt, die Aura, die sie schaffen, das ist nicht nur Ausdruck dieses Films und Ausdruck in diesem Film – das ist die Welt des Kinos selbst, die Ozon für sie und uns inszeniert hat – eine Hommage, aber auch die Darstellung der Schattenseiten des Kinogeschäfts. Wenn sie sich am Schluss verbeugen, dann ist das nicht nur der Glanz, sondern auch die Einsamkeit und das Alter, die Schattenseiten des Geschäfts.

Wenn Louise vor dem Porträt Gabys ihre Dienstmädchen-Tracht ablegt, ihre blonden Haare fallen lässt und aussieht wie die junge Catherine Deneuve und Gaby das Foto der früheren Herrin Louises (ein Foto von Romy Schneider) zu Gesicht bekommt, dann kulminiert alles in einer Szene: Das sexuelle Domestiken-Verlangen Louises, sowohl Ausdruck der Abhängigkeit der Mimen vom Filmgeschäft, als auch der verborgenen und verdrängten Gefühle der Figuren im Film, die Reminiszenz an die Großen des Kinos (auch Romy Schneider) und das Altern der Stars, als Ausdruck der menschlichen Grenzen und Begrenztheit wie der Entwicklung des Kinos durch die, die kommen. Die Deneuve und die Béart reichen sich hier die Hände und wissen doch genau, dass das Kino nicht nur etwas Erhabenes, Schönes, nicht nur l’art pour l’art ist.

Wenn sich die Deneuve und die Ardant am Boden wälzen oder die Deneuve und die Huppert in die Haare geraten, dann ist das einmalig, unwiederholbar. Wenn die Huppert anfängt zu kreischen, zu schimpfen, zu verletzen, aber auch wenn sie plötzlich ihr hässliches-Entlein-Image ablegt und im (geborgten) Abendkleid ihrer Filmschwester die Treppe hinunter stolziert, dann werden die großen Momente des Kinos herbei zitiert: Hitchcock und Sirk, Hawks und Wilder, und all die anderen. „8 femmes” ist auch eine Hommage an die großen Zeiten des Kinos des 20. Jahrhunderts. Die Treppe ist Zentrum, Ausgangspunkt und Endpunkt der Geschichte. Hierher strömen sie und gehen wieder weg, hier spielen sich die Dramen ab, hier wird gestorben, gelebt, gebissen und geliebt.

Ozon nimmt „kein Blatt vor den Mund”. Die Familiengeschichte ist prall gefüllt mit allem, was man sich vorstellen kann und was das Leben so zu bieten hat: ledige Mütter, falsche Väter, lesbische Liebe, Voyeurismus, unterdrückte, aber heimlich gepflegte Bedürfnisse – und trotz alledem durchdringt den Film eine immer präsente Zuneigung für die Figuren hinter all den Katastrophen und Bosheiten.

Wenn zum Schluss die Grande Dame Danielle Darrieux ihren Part singt – „Il n’y a pas d’amour heureux” – dann ist alles gesagt, alles gelebt, alles geweint und alles gelacht, und das Leben geht ein bisschen anders weiter.

(Nicht zuletzt trug die deutsche Synchronisation zum Gelingen des Films bei, u.a. Ruth-Maria Kubitschek, Hannelore Elsner, Katja Riemann und Jasmin Tabatabai.)

Kino auf dem Höhepunkt, einem seltenen. Ozon bleibt Realist, verfällt nicht in Pathos oder Kitsch. Er fasst zusammen, was das Kino in seinen besten Zeiten ausmachte, und geht darüber hinaus. Einer der wenigen Filme, die ich mir mehrmals ansehen könnte, die nicht langweilig werden können und die – so wage ich zu behaupten – schon ein äußerst lebendiger Teil der Filmgeschichte sind.




Swimming Pool
(Swimming Pool)
Frankreich, Großbritannien 2003, 103 Minuten
Regie: François Ozon

Drehbuch: Emmanuèle Bernheim, François Ozon
Musik: Philippe Rombi
Director of Photography: Yorick Le Saux
Montage: Monica Coleman
Produktionsdesign: Wouter Zoon

Darsteller: Charlotte Rampling (Sarah Morton), Ludivine Sagnier (Julie), Charles Dance (John Bosload), Marc Fayolle (Marcel), Jean-Marie Lamour (Franck), Mireille Mossé (Marcels Tochter), Michel Fau (erster Mann), Jean-Claude Lecas (zweiter Mann), Emilie Gavois Kahn (Kellnerin im Café), Erarde Forestall (alter Mann), Lauren Farow (Julia)

Von wirklichen Dingen

Es gibt nichts Eindeutiges, keine letztendliche Lösung, keine vollkommen logische Erklärung, keine erleichternde, umfassende Zufriedenheit – schon gar nicht im Film, im Kino, und erst recht nicht bei François Ozon, der mit „8 Frauen“ (indem Ludivine Sagnier ebenfalls grandios auftrat) bereits mit dem Publikum spielte wie mit einem Tischtennisball. Ping-Pong zwischen dem, was wir so sauber auseinander halten: Wirklichkeit und Phantasie. Dabei liegen beide so eng beieinander, verschränken sich und lassen sich oft kaum voneinander trennen. Der analytische Verstand meint es zu können und katapultiert unsere Wahrnehmung, unser Empfinden und unser Denken in die öde Tristesse zerlegter Kategoriengebäude. Wirklichkeit kommt von „(be)wirken“ und „wirken“ im Sinne von produzieren. Phantasie heißt Vorstellungskraft.

Schein und Sein, „knallharte“ Realität und „Versponnenes“ und „Gesponnenes“ betten sich so dicht wie ein sich liebendes Paar, und zweifellos nicht nur bei der englischen Kriminalautorin Sarah Morton, Charlotte Rampling spielt sie mit einer selten zu sehenden Ausdruckskraft und Ausstrahlung. Sarah ist müde, abgespannt, ausgebrannt, vielleicht auch enttäuscht, trotz ihrer Erfolge als Schriftstellerin, leer, was das anbetrifft, was das Lebenswerte am Leben ausmacht. Sie wirkt fast englisch steif, aber schon dies ist eher ein Trugbild, denn die Rampling weiß sehr überzeugend zu vermitteln, dass diese Sarah von Sehnsüchten erfüllt ist, die sie „nur“ hinter einer Fassade aus Distanz zu anderen und mehr oder weniger deutlicher Verbitterung verbirgt. Kurzum, sie ist lustlos, ohne Lust, oder besser: Sie hat ihre Lust in sich versperrt, hält sie gefangen.

Da schickt sie ihr Verleger Bosload (Charles Dance) an die südfranzösische Küste, in sein Landhaus, in das mediterrane Klima, um sich zu erholen, um wieder schreiben zu können. Sarah packt aus, richtet sich ein, um sie herum Ruhe, Wärme, Licht. Sie setzt sich an ihren Laptop, schreibt, doch es mangelt ihr an Phantasie. Was ihr scheinbar überhaupt nicht fehlt, ist Julie (Ludivine Sagnier), die junge, gut aussehende Tochter Bosloads aus irgendeiner Beziehung zu einer Französin. Julie taucht wie aus dem Nichts auf, scheint zu stören, bringt das ganze Konzept Sarahs durcheinander, allein zur Ruhe zu finden. Julie scheint keine Grenzen zu kennen, was die Lust am Leben betrifft. Jeden Abend erscheint sie mit einem anderen Mann, mal jünger, mal älter. Sex am laufenden Band. Sarah stopft sich Stöpsel in die Ohren, aber sie schaut auch zu. Sie sieht in Julie Teile dessen, was ihr verloren gegangen ist. Eine junge Frau, die ihr Leben in vollen Zügen zu genießen scheint.

Der Swimming Pool vor dem Landhaus wird zum Zentrum von Lust und Unlust. Da liegt sie, wie in einer Werbebroschüre platziert, diese Julie, mal nackt, mal nicht. Das warme, anziehende Blau des Wassers wird zum vielleicht einzigen eindeutigen Symbol, das der Film kennt, zum einzigen Fingerzeig, der unumstößlich Wahres verkündet: Erfrischung, Lust, Sehnsucht, Tiefe. Julie lässt das Wasser ein, den Pool reinigen; ausgebreitet liegt er da, einladend.

Sarah gelingt es nicht, Julie in Schranken zu verweisen. Warum auch? Immer mehr fasziniert sie dieses junge, unverschämte Ding, das auf ihren Vater nicht gut zu sprechen ist. Sie wird neugierig, schnüffelt in ihrem Zimmer herum, findet Julies Tagebuch und schreibt daraus etliches ab. Die beiden Frauen kommen sich näher. Sie gehen zusammen essen. Sie tasten sich mit den Augen ab, sie beobachten sich. Als Julie aus dem nahe gelegenen Ort den Kellner Franck (Jean-Marie Lamour) anschleppt – einen muskulös gebauten Burschen, allein stehend –, regen sich Phantasien in Sarah. Die drei verbringen einen Abend mit Alkohol, und ein bisschen Drogen. Sarah schmeckt das Leben plötzlich wieder, sie geht an den Kühlschrank, isst gierig in sich hinein. Franck jedoch lässt sie in Ruhe.

Dann scheint sich das Blatt zu wenden. Sarah beobachtet, wie Julie Franck im Pool zu verführen sucht, unbändig. Sarah wirft etwas in den Pool, Franck merkt, dass sie beobachtet werden, weicht zurück, will gehen. Am nächsten Morgen ist er längst tot, liegt erschlagen im Gartenhaus ...

Die Kamera beginnt das Spiel der beiden Frauen. Langsam fährt sie an Julies Körper entlang, vor ihr steht Franck und ist erregt. Später zeigt sie uns das gleiche mit Sarah; vor ihr steht ein alter Mann, der den Pool gereinigt hat und ebenso geil auf Sarah ist wie Franck auf Julie. Dann wird ein Mord vertuscht, und es scheint, dass dieser Mord den Wendepunkt im Film darstellt. Aber dem ist nicht so. Es gibt keine Wendepunkte bzw. nur vorgetäuschte. Was einzig zu zählen scheint, ist die Rückkehr Sarahs zur Lebenslust, zur Gier, und das Verständnis zweier so scheinbar unterschiedlicher Frauen – und was an dieser Geschichte phantasiert ist oder „tatsächlich“ passiert, bleibt wiederum der Phantasie des Publikums überlassen.

Der Film beginnt als Komödie, setzt sich fort als Drama und Krimi und endet als Mysterium mit nicht nur einer Überraschung. Doch Überraschung ist vielleicht das falsche Wort. Denn der Schluss lässt jegliche Sicherheit vermissen, zwingt dazu, den Film noch einmal Revue passieren zu lassen. Man könnte „Swimming Pool“ – psychologisch gesehen – als eine Art Katharsis sehen, einen „Durchmarsch“ beider Frauen zurück zur Lebenslust. Auch Julie scheint nämlich nur als lebenslustig. Sie gesteht Sarah beim Essen, dass sie nur einmal wirklich verliebt war, der junge Mann jedoch Angst vor ihrer Liebe hatte. Sex ist bei Julie eher eine Art Surrogat für Lust, denn Lust selbst.

Aber auch dieser Sicht der Dinge mangelt es an der Unmöglichkeit – das macht wiederum der Schluss des Films deutlich –, was denn nun tatsächlich passiert ist. Und hier wäre eine Sicht des Films verkehrt, geradezu entstellt und „verrückt“, die nicht berücksichtigen würde, dass man im Kino sitzt und Ozon eben nicht nur Regisseur ist, sondern auch weiß, was Film ist. Wir schauen in Spiegel, in Augen, auf Körper, auf Handlungen, auf Gesten. Das voyeuristische Element ist das spielerische, mit dem Ozon immer wieder arbeitet. Im Film ist alles möglich. Der Regisseur konstruiert, führt uns an der Nase herum, und treibt damit dennoch „nur“ das Spiel, was wir im Alltag selbst betreiben. Was steht in Julies Tagebuch, welchen Roman schreibt Sarah (sicher keinen ihrer üblichen Krimis), warum muss Franck sterben, oder stirbt er nur in der Phantasie einer Schriftstellerin? Wer ist Julie? Lebt ihre Mutter an der französischen Riviera? Oder ist sie – wie Sarah irgendwann gesagt bekommt – bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen?

Alles scheint sich im Kreis zu drehen. Anfang und Ende sind nicht auszumachen. Die Logik hat und macht seltsame Sprünge. Erklärungen scheitern, weil jede von ihnen holprig erscheint, unausgegoren. In einigen Kritiken zum Film war die Unzufriedenheit, der leichte Zorn, die Enttäuschung herauszulesen, dass die Geschichte – wie es dann immer so schön heißt – „unrealistisch“ sei (was sich vor allem auf das Ende bezieht, über das ich hier natürlich nichts verrate), wobei derlei Äußerungen deren Urheber als Menschen ausweisen, die wüssten, was „real“ ist. „Swimming Pool“ ist in gewisser Hinsicht ein anti-aufklärerischer Film. Er zweifelt an einem entscheidenden Punkt an der Aufklärung: an der Illusion über die Kraft des analytischen Verstandes, der vorgibt, „die Wahrheit“ erkennen zu können, Letztendliches und Endgültiges zu postulieren. Dagegen hält Ozon – ja, man könnte fast sagen: das weibliche Prinzip, das Sondieren nach der Lebenslust, die sich nicht analytisch erschließt, die nicht in logischen Kategorien denkt, die nicht rational fassbar ist, weil sie dann, wenn sie das alles wäre, dem Tode gleichen würde. Ozon, so scheint mir, hält an der Unwägbarkeit des Lebens fest, das nicht planbar, voraussehbar ist. Er führt uns dies vor – und führt uns vor. Liebe, Hass, Eifersucht, Wut sind Dinge, die kommen und gehen, planen kann man sie nicht.

Vielleicht, möglicherweise, eventuell schreibt Sarah darüber einen Roman. Vielleicht.


 

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