Persona
(Persona)
Schweden 1966, 79 Minuten
Regie: Ingmar Bergman

Drehbuch: Ingmar Bergman
Musik: Lars Johan Werle
Director of Photography: Sven Nykvist
Montage: Ulla Ryghe
Produktionsdesign: Bibi Lindström

Darsteller: Bibi Andersson (Alma); Liv Ullmann (Elisabet Vogler); Margaretha Krook (Ärztin); Gunnar Björnstrand (Herr Vogler)

„Hier draußen in unserer Einsamkeit“

Statt eines Vorworts - ein Rahmen

Eine Kohlebogenlampe flammt auf und zeigt uns Leichen in einer Halle, Schlafende, eine Schaf wird geschlachtet, wir erkennen Hände, die ans kreuz genagelt werden u.a., bevor diese Lampe den Film verbrennt, der da zu laufen scheint - am Anfang wie am Ende. Bergman warnt uns vor - ich zeige Euch, scheint er uns zu sagen, einen Film und nicht die Realität, ich lasse Euch meine Phantasie spüren, wenn Ihr diese Geschichte nun anseht; also passt auf !

Die Lampe, die früher wie eine Art Scheinwerfer beim Film benutzt wurde, taucht am Ende des Films erneut auf. Passt auf ! Passt auf den Jungen auf, der - wie die Leichen - unter einem weißen Tuch liegt, dann jedoch sich hinsetzt und mit dem übergroßen Bild einer Frau konfrontiert wird.

Doch nicht alles in diesem Film, dessen Drehbuch der schwedische Regisseur während einer längeren, schweren Krankheit entwickelt hatte (Bergmann selbst bezeichnet diese Anfangssequenz als Ausdruck für seine Gefühle während dieser Krankheit), ist Schein und Phantasie.

Halten wir vorerst fest - obwohl wir die Handlung des Films noch gar nicht kennen ! -, dass der äußere Rahmen, die kurzen, sekundenlangen Sequenzen anfangs und am Ende des Films neben der Verarbeitung einer schweren Krankheit des Regisseurs selbst im Kontext des gesamten Films einen Rahmen eben auch dafür geben, dass Film in spezifischer Weise ein (im positiven Sinne gemeinter und oft wohlwollender) Betrug der Filmemachers darstellt - Betrug am sehenden Publikum. Andere nennen das: Der Regisseur will uns dies und jenes mitteilen. Es ist Vorsicht geboten, um die Zeichen zu erkennen; denn nichts darf man „einfach so“ für bare Münze nehmen. Oder doch? Sagen wir vielleicht lieber: Auch beim Ansehen eines Films kommt es entscheidend darauf an, ob sich der Betrachter nur berieseln lassen will oder - nachdenken.

Statt einer Handlung eine Gemütsverfassung

Plötzlich schweigt sie - ohne Vorwarnung, scheint es. Die Schauspielerin Elisabet Vogler (gespielt von der phänomenalen Liv Ullman) steht auf der Bühne und spielt die Elektra - also jene Frau der griechischen Mythologie, die ihrem Bruder Orest half, Blutrache an der Mutter und ihrem Stiefvater wegen der Ermordung ihres Vaters durch diese beiden zu nehmen, ihre Tötung zu planen und durchzuführen. Plötzlich schweigt Elisabet, spricht ab nun kein Wort mehr. Niemand ahnt oder weiß gar: warum?

Obwohl die Ärztin keine konkrete Krankheit bei Elisabet diagnostizieren kann, schickt sie die Schweigende zusammen mit der Krankenschwester Alma (die ebenso phänomenale und leider oft unterschätzte Bibi Andersson) in das Ferienhaus der Ärztin am Meer, um sich dort zu erholen. Während Elisabet weiter schweigt und lediglich durch Bewegungen, Kopfschütteln oder auch nur ein Lächeln auf Alma reagiert, erzählt die Krankenschwester fast ununterbrochen, vor allem auch aus ihrem eigenen Leben, im Speziellen über sehr persönliche Dinge, z.B. sexuelle Erlebnisse und eine Abtreibung. Alma glaubt, sie könne mit dieser ihr sympathischen Frau Elisabet befreundet sein - und alles sieht danach aus.

Dann allerdings findet Alma zufällig (was immer auch Zufall im Film heißen mag: eben doch wohl dramaturgisch gewolltes Ereignis!) einen Brief Elisabets an die Ärztin, in dem sich die Schweigende über Alma und ihre intimsten Erzählungen amüsiert. Alma rächt sich an Elisabet in ihrer Wut, und lässt sie in eine Glasscherbe laufen.

Bergman lässt diesen Teil der Geschichte mit einem „Filmriss“ enden.

Statt Elisabeth: Elisabet - Intermezzo

Vielleicht fällt dem einen oder der anderen auf, dass ich Elisabeth permanent ohne „h“ am Schluss schreibe. Das ist erstens kein Schreibfehler und zweitens nicht von mir, sondern von Bergman.

Der Name Elisabet geht zurück auf die Mutter von Johannes dem Täufer, deren Ehe mit dem Priester Zacharias zunächst kinderlos blieb, weil Elisabet unfruchtbar war - bis zu dem Tag als der Engel Gabriel beiden die Geburt eines Sohnes verkündete, den sie Johannes nennen sollten.

Statt zwei Personen nur eine … Bin ich du, bist du ich …

Vertrauen und Vertrauensbruch, Sympathie und Hass - Alma ist hin- und hergerissen. Verbale und physische Attacken bleiben nicht aus. Und trotzdem zeigt uns Bergman nun etwas ganz anderes. Er zeigt uns zwei Frauen in einer Frau, oder eine Frau in Gestalt von zwei Frauen. Was bedeutet das nun wieder?

Als Elisabets Ehemann in das Sommerhaus kommt, um seine Frau zu besuchen, spricht er Alma als seine Frau an, die sich nach anfänglichem Widerstand dieser scheinbaren Verwechslung hingibt.

Später erzählt uns Elisabet von ihrem Sohn - zuerst von der ungeliebten Schwangerschaft, dann von der nicht gewollten Geburt, von dem verhassten Sohn - jenem Jungen, den wir anfangs des Films in weiße Laken getaucht gesehen hatten. Nur, es ist nicht die schweigende Elisabet, sondern Alma, die uns diese Geschichte erzählt - auch von dem Wunsch Elisabets, ihre Sohn möge sterben.

Die Szene, in der die Gesichter beider Frauen zu einem verschmelzen, gehört zu den schönsten Szenen des Films, der in seinem Schwarz-Weiß durch die wunderbare Arbeit Sven Nykvists zahlreiche phantastische visuelle Momente aufweisen kann.

Statt einer Interpretation - Gedanken …

Der Zugang zu Bergmans Filmen dieser Zeit, die weiß Gott nicht jedermanns Geschmack sind, ist nicht immer ganz einfach, zumal bei diesem Film auch noch Bergmans Verarbeitung einer Krankheit mit hinein spielt (jedenfalls nach seiner eigenen Aussage).

Der Rahmen des Films verweist auf die Tatsache, dass jeder Film eine Konstruktion des Filmemachers und seiner Helfershelfer ist, eine Art krimineller Akt an der Realität, denn Fiktion ist letztendlich nichts anderes. Würde es Aufgabe des Films sein (oder überhaupt der Kunst im weitesten Sinn: Malerei, Theater, Literatur …), möglichst geschickt und gekonnt die Realität abzubilden (was sowieso im engeren Sinn unmöglich ist), würde sich der Film als Kunstrichtung selbst ad absurdum führen. Um Realität „zu haben“, benötigen wir keine Kunst. Film - selbst Dokumentarfilm - isst Fiktion, denn auch der Dokumentarfilmer greift nur die Aspekte seines Themas heraus, die er für wichtig hält (ein anderer würde es anders zeigen). Film ist Fiktion, Konstruktion, Betrug an der Realität - aber gerade darum und das ist das Paradoxe! -, wenn es gut gelingt, ein alternativer Weg zur Realität, eine Möglichkeit, Realität anders zu verstehen, den Blick zu weiten und die Gedanken um mehr kreisen zu lassen als ohne diese Fiktion.

„Persona“ nannte man im antiken Griechenland die von den Schauspielern im Theater verwendete Maske zur Typisierung ihrer Rolle. Die Geschichte, die Bergman erzählt und die eher die Darstellung einer Gemütsverfassung ist, betitelt er mit „Persona“, nicht mit dem Plural „personae“ - er erzählt also offenbar von einer Person. Alma und Elisabet können als zwei Seiten einer Medaille aufgefasst werden: einer Frau, die sich im Moment der Darstellung der Elektra (scheinbar plötzlich) verdoppelt, in eine Schweigende und eine Sprechende, in eine die die andere ausnutzt und ihr etwas vorspielt, und eine die schnell Vertrauen fasst, ausgenutzt wird und zwischen Rache und Nähe hin- und hergerissen ist.

Statt dem ewigen „Hier draußen in unserer Einsamkeit“

Ob man dies bereits als schizophrenen Zustand interpretieren sollte, sei dahingestellt. Auch die Ursache für diesen mentalen und Gemütszustand bleibt im Verborgenen - auch wenn man bei beiden Frauen annehmen kann, dass die ungewollte Schwangerschaft, also sozusagen das „Ja“ zum Leben, ursächlich für das Auseinanderdriften der Persönlichkeit sein könnte.

Könnte, ja. Aber da ist noch ein anderer Gesichtspunkt. Die Verdopplung der Elisabet in Elisabet und Alma könnte auch als „Versuchsanordnung“ gesehen werden, innerhalb der die Schauspielerin - und nicht umsonst ist sie Mimin - sich in der Einsamkeit einer Art Selbstvergewisserung hingibt. Sie schweigt öffentlich, d.h. sie hält inne, sagt „Halt!“, um mit sich selbst ins Zwiegespräch zu kommen. Sie macht ihr Recht auf Individualität geltend, um sich von der Öffentlichkeit vorübergehend abzuwenden und in sich einem quälerischen und reinigenden Prozess zu unterwerfen. Ein fast schon religiöser Akt des streng lutherisch erzogenen und mit dem Rohrstock geschlagenen Regisseurs, dessen Vater Pastor war. Man täusche sich allerdings nicht, denn in der „Selbstreinigung“ Elisabets steckt keine, aber auch so gar keine christlich-frohlockende Heilsbotschaft. Als die beiden Frauen zum Schluss das Sommerhaus verlassen, herrscht Schweigen zwischen beiden. Und es nichts anderes als die Abwesenheit Gottes und die Verlorenheit des Menschen, d.h. seine ausschließlich auf sich selbst bezogene Realität, die Bergman hier „gnadenlos“ entwickelt und begründet.

Während der Sohn der biblischen Elisabet ein Gottesgeschenk war (der Täufer), ein Wegbereiter Jesu Christi, ist für Elisabet / Alma ein Kind ein Objekt der Ablehnung. Wir wissen nicht warum, aber es gehört zu den quälenden Fragen, die Elisabet / Alma bewegen.

Ich werde es hier unterlassen, Bezüge zu aktuellen Ereignissen herzustellen. „Persona“ ist wie viele andere Filme Bergmans auch ein Mittel für den Betrachter, sich selbst Gedanken zu machen. „Bergman lädt ‚die Phantasie des Zuschauers ein, frei über das Material zu verfügen‘“, schrieb „Der Spiegel“ vom 28. August 1967 (Nr. 36/1967).

Wertung: 10 von 10 Punkten
© Ulrich Behrens 2014