Piñero
(Piñero)
USA 2001, 100 Minuten
Regie: Leon Ichaso

Drehbuch: Leon Ichaso
Musik: Kip Hanrahan
Director of Photography: Claudio Chea
Montage: David Tedeschi
Produktionsdesign: Sharon Lomofsky

Darsteller: Benjamin Bratt (Miguel Piñero), Giancarlo Esposito (Miguel Algarin), Talisa Soto (Sugar), Nelson Vasquez (Tito Goya), Michael Irby (Reinaldo Povod), Michael Wright (Edgar), Rita Moreno (Miguels Mutter), Jaime Sánchez (Miguels Vater), Rome Neal (Jake), Mandy Patinkin (Joseph Papp)

Kult statt Biografie

Der aus Puerto Rico stammende Miguel Piñero (1948-1988) beeindruckte in den 70er und 80er Jahren die Literatur-Szene in New York und später weit darüber hinaus durch sehr eigenwillige, experimentelle Gedichte und Bühnenstücke und wurde vor allem für die Latinos zu einer Art Kultfigur. Manchen gilt er sogar als einer der Wegbereiter von Hip-Hop und Rap. Piñero gründete 1975 zusammen mit dem Bühnenautor Miguel Algarin in der Lower East Side das »Nuyorican Poets Cafe«, in dem Jazzkonzerte stattfanden und Theaterstücke aufgeführt wurden. Das Café war eine Bruchbude, aber jeden Tag brechend voll. Größen wie William Burroughs, Allen Ginsberg und Gregory Corso waren hier Ende der 70er Jahre regelmäßig zu treffen.

Piñero, der etliche Male, meist wegen Klein- und Drogenkriminalität, in Sing Sing einsaß, schrieb im Gefängnis u.a. sein wohl berühmtestes Theaterstück »Short Eyes«, das – zunächst im Gefängnis von Mitgefangenen Piñeros eingeübt – später am Broadway zu einem Riesenerfolg wurde. Das Stück handelt von den Misshandlungen eines Häftlings, der wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt wurde, durch andere Gefangene. »Short Eyes« wurde 1977 unter der Regie von Robert M. Young (mit Piñero selbst) verfilmt. Piñero beschäftigte sich in seinen Stücken vor allem realistisch mit der kriminellen Gewalt in den Straßen von New York. Er spielte u.a. in dem Film »Fort Apache the Bronx« (1981, Regie: Daniel Petrie) an der Seite von Paul Newman und Edward Asner sowie in den TV-Serien »Baretta«, »Einsatz in Manhattan« und »Miami Vice«. Sein exzessiver Lebenwandel (u.a. Alkohol und Drogen) führten zu seinem frühen Tod 1988 (Leberzirrhose).

Leon Ichaso (»Ali: An American Hero«, 2000, und »Hendrix«, 2000, beide fürs Fernsehen) erzählt in seinem Film »Piñero« das bewegte Leben der Underground-Ikone. Die Filmkritik schwankt. Die »Süddeutsche Zeitung« schreibt: »Vielleicht ließe sich dieser Genet-Reinheits-Mythos sogar überzeugend ausmalen, aber Ichaso macht daraus ein simpel gestricktes Muster der Vorhersehbarkeit. [...] Jede Szene ist eine Wallfahrt zur Authentizität des Helden. Und eigentlich zeigt Benjamin Bratt sehr schön, wie dieses Authentische zur selbstgefälligen Pose und theatralischen Geste wird, aber der Film will gar nicht, dass man dieses Posenhafte durchschaut. Alle Figuren, die in sein Leben treten, bleiben schemenhaft: vorüber huschende Erinnerungsbilder, schön anzuschauen, aber es entsteht keine Neugier, sie kennen zu lernen.« Demgegenüber ist in der »Welt« zu lesen: »Er erklärt nicht, psychologisiert nicht, stilisiert Piñero nicht zum Revoluzzer, bastelt aus der papierenen Hinterlassenschaft des großmäuligen Poetry-Slam-Urahns kein Heiligenbildchen. Ständig ist sein Film in Bewegung, changiert zwischen grobkörnig, schwarzweißen Handkamera- und glatten, mattbunten Digitalsequenzen, hüpft zwischen den Zeitebenen hin und her wie Piñero zwischen seinen sexuellen Ausrichtungen. Ein Mosaik aus Geschichtenbruchstücken, ein Taumel.«

Also taumelte ich ins Kino.

Eine Inhaltsangabe des Films fällt schwer. Ichaso zeigt das Leben Piñeros nicht chronologisch, sondern wechselt beständig zwischen den frühen siebziger Jahren, den Jahren des Durchbruchs und der Zeit kurz vor dem Tod Piñeros 1988. Er zeigt Piñero – exzellent gespielt von Benjamin Bratt (zuletzt in »Traffic – Die Macht des Kartells« und »Miss Undercover«, beide 2000) – aus der Sicht Piñeros selbst bzw. wie sich Ichaso die Selbstsicht des Epigonen der Latinos vorstellt. Er zeigt seine Freunde, vor allem seinen Kollegen und wohl engsten Freund Miguel Algarin (Giancarlo Esposito), seine langjährige Freundin Sugar (Talisa Soto), deutet die Konflikte Piñeros aus dessen Kindheit und Jugend an. Seine Mutter (Rita Moreno), zu der Piñero ein liebevolles Verhältnis gehabt zu haben scheint, war mit den Kindern nach New York gegangen. Piñeros Vater (Jaime Sánchez) hatte die Familie verlassen, nachdem das fünfte Kind zur Welt gekommen war. Ichaso deutet ebenso sexuellen Missbrauch durch den Vater an, gibt Hinweise auf Piñeros Bisexualität (im Film in bezug auf Reinaldo Povod, gespielt von Michael Irby). Angespielt wird auch auf die für Piñero harten Anforderungen durch PR-Manager am Broadway, denen er kaum standhalten konnte. Als Piñero an Leberzirrhose erkrankt und weiß, dass er sterben wird, äußert er gegenüber Sugar, in seinem Leben sei nie etwas passiert, aber er habe gelebt.

Ein amerikanischer Filmkritiker schrieb über »Piñero«: »[..] we find ourselves watching a movie about making a movie about Piñero, not a movie about Piñero« (Desson Howe in der »Washington Post«). Das drückt viel darüber aus, wie ich diesen Film empfunden habe. Ichaso ergeht sich fast in Andeutungen, in seiner Sicht der Selbstsicht Piñeros. Er schlüpft in die Rolle seines Protagonisten, als ob er selbst die Drogen schnüffeln, die Kommentare abgeben, die Stücke proben würde, und man erfährt auf diese Weise über Piñero – fast nichts.

Was man erfährt, ist die aus anderen Quellen bekannte Tatsache, dass sich Piñero verbraucht hat, indem er kreativ war, und dass er kreativ war, indem er sich verbrauchte. Aber dieser Akt der Selbstzerstörung, des Sich-Selbst-Auffressens, die in seinem Fall für ihn letztlich destruktive Identität zwischen Leben und Werk, die permanente Nichtzugehörigkeit zu sich selbst und anderen – all das sind Dinge, die bekannt sind. Der Film vermittelt dies zumindest sehr gut. Es ist immer unterscheidbar, ob Piñero gerade spielt, probt, dichtet oder etwas anderes tut, aber die selbstzerstörerische Tendenz in dieser Einheit von Leben und Arbeit kann Ichaso mehr als deutlich darstellen – deutlich, aber eben ausschließlich. An diesem Punkt, an dem ein Film beginnen müsste, hört »Piñero« auf. Die Innenansicht Piñeros bleibt außen vor. Selbst wenn man sich den Film anschaut, ohne vorher jemals von Piñero gehört zu haben, bleibt ein erschreckend äußeres Bild der Geschichte einer Selbstzerstörung. Sicher, Benjamin Bratt verleiht dem Film-Piñero Ausdruck, Kraft, Sensibilität. Trotzdem fehlt dem Film eine wirkliche Innenansicht, die allein dazu führen könnte, emotionale Nähe zu dieser Person zu entwickeln.

Die a-chronologische Erzählweise, die Zeitsprünge, der Wechsel zwischen Schwarz-Weiß- und Farbaufnahmen, die hektische, ruhelose Erzählweise sind für sich genommen kein Argument gegen den Film. Im Gegenteil könnten sie die Ruhelosigkeit des Lebens Piñeros durchaus dramaturgisch unterstützen – wenn wirklich erzählt würde. Ichaso vermittelt viele Eindrücke, aber keine Innenansicht. Er baut Piñero zu etwas auf, was er längst ist: zur Ikone. Sein Film wirkt fast wie ein Traum, in dem die Figuren aufleuchten, bis das Licht ermattet – mal Wunschtraum, mal Alptraum, nichts Fassbares, nichts über die Zeit, die Umgebung, die anderen, z.B. Miguel Algarin, der lediglich als bester Freund Piñeros, aber nicht als eigenständiger Mensch auftaucht, oder Sugar, die offenbar nur Freundin Piñeros war. Usw.

Schade. Mal wieder: Schade. Auch wenn mir Benjamin Bratt und auch Talisa Soto und Rita Moreno sehr gefallen haben, ging ich aus dem Kino mit dem Gefühl, als sei in den letzten 100 Minuten nichts geschehen. Der Film ist das, was man unnahbar nennen könnte. Die Entwurzelung des Helden verbleibt innerhalb einer kulthaften Handlung des reinen Tributs gegenüber Piñero äußerlich und oft blass, anstatt erzählt zu werden.