Roter Satin
(Satin Rouge)
Tunesien, Frankreich 2002, 91 Minuten
Regie: Raja Amari

Drehbuch: Raja Amari
Musik: Nawfel El Manaa
Director of Photography: Diane Baratier
Montage: Pauline Dairou
Produktionsdesign: Kaïs Rostom

Darsteller: Hiyam Abbas (Lilia), Hend El Fahem (Salma), Maher Kamoun (Chokri), Monia Hichri (Folla), Faouzia Badr (Nachbarin), Nadra Lamloun (Hela), Abou Moez El Fazaa (Le patron), Salah Miled (Béchir)

Lilias Sieg

Wieder einmal ein Film ganz am Rande des üblichen Mainstreams, gedreht von der tunesischen Regisseurin und Absolventin der Pariser Filmhochschule FEMIS Raja Amari: Die Geschichte einer Frau, die zwischen Tradition und Emanzipation einen Weg sucht, findet in der hiesigen Filmkritik kulturchauvinistischen Kommentare. Die immer am Ohr des Fortschritts lauschende taz erläutert, wie wichtig der „orientalische Bauchtanz, das Sich-Winden, das Wackeln, das Zucken und Wogen, der stilisierte Geschlechtsakt, die Vereinigung mit dem Raum“ für die Befreiung der tunesischen Frau sei. War der Autor S. Weidner in einem Porno? Will man Frau Lenssen von der „Zeit“ Glauben schenken, erzählt der Film, „wie der Eintritt in die verbotene Welt ihrer Heldin Lilia die Entdeckung der eigenen Sinnlichkeit ermöglicht“, „ganz selbstverständlich, geradezu vertraut für europäische Augen und Ohren“. So, so. Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass hier von relativ weit oben (Deutschland) nach relativ weiten unten (Tunesien) herabgeschaut wird.

Lilia (Hiyam Abbas) ist verwitwet und lebt mit ihrer Tochter Salma (Hend El Fahem) zusammen. Lilia ist Hausfrau. Sie hat sich mit dem Dasein als Witwe, die ihren Mann betrauert, mit seinem Bild redet, scheinbar abgefunden. Ihre einzige Sorge gilt Salma, die ab und zu spät nach Hause kommt oder auch einmal bei einer Freundin nach einer Party übernachtet. Lilia will, dass Salma ihre Schulausbildung ordentlich abschließt.

Eines Tages sucht sie ihre Tochter, um zu sehen, was Salma in ihrer Freizeit unternimmt. Denn die Nachbarin (Faouzia Badr) hat ihr Angst gemacht, Salma könne vom Pfad der Tugend abkommen, wenn sie nicht auf sie aufpasse. Doch anstatt Salma zu finden, steht sie plötzlich vor dem Nachtclub „Satin Rouge“. Vorsichtig betritt sie das Etablissement, aus dem Musik zu hören ist, und steht plötzlich zwischen klatschenden und beschwingten Männern, Musikern und Bauchtänzerinnen. Das ist zu viel für ihre Nerven; sie fällt in Ohnmacht. Die Bauchtänzerinnen sind besorgt, legen sie auf eine Couch und warten, bis Lilia wieder aufwacht.

So lernt Lilia die schon etwa ältere Bauchtänzerin Folla (Monia Hichri) kennen, eine überaus freundliche und zuvorkommende Frau, mit der sich Lilia anfreundet. Lilia ist hin- und hergerissen. Einerseits wehrt sie sich gegen die Zurschaustellung der Frauen vor den Männern im „Satin Rouge“, andererseits fasziniert sie der Tanz, die Musik, der Zauber und die Verlockung, die von der Atmosphäre im Nachtclub ausgehen.

Immer öfter kehrt sie heimlich nachts, wenn Salma schon schläft, in den Nachtclub zurück. Eines Abends, als Folla gerade auftritt, zieht Lilia eines von Follas Kostümen an, die sie beim Bauchtanz trägt, und tanzt selbst vor dem Spiegel. Als Folla ihren Auftritt beendet hat, beobachtet sie Lilia, nimmt sie an der Hand, obwohl Lilia nicht so recht will, und tritt zusammen mit ihr auf. Die Männer im „Satin Rouge“ sind begeistert von der „Neuen“. Der Clubbesitzer (Abou Moez Fazaa) allerdings will, dass Lilia eine richtige Ausbildung im Bauchtanz erhält. Folla übernimmt dies, und fortan tritt Lilia – heimlich, ohne Kenntnis ihrer Tochter, Nachbarn oder Verwandten – im „Satin Rouge“ auf.

Salma hat sich schon länger in den im Nachtclub spielenden Musiker Chokri (Maher Kamoun) verliebt und verbringt mit ihm heimlich ihre Freizeit. Doch Chokri ist unentschlossen. Salma ist jung, von ihrer Mutter abhängig. Ohne zu wissen, dass Lilia Salmas Mutter ist, verliebt er sich in Lilia und schläft mit ihr. Salma will Chokri ihrer Mutter endlich vorstellen, mit den Heimlichkeiten Schluss machen. Und eines Tages taucht sie mit Chokri bei Lilia auf ...

Raja Amaris Film spielt in der hellen Welt des Tageslichts mit seinen strengen Regeln der tunesischen Gesellschaft und der dunklen Welt der Nacht, den Heimlichkeiten, den geheimen Bedürfnissen und Wünschen, die Lilia am Tag nicht leben kann und die sie sich erst in der Nacht zugesteht. Ihrer Tochter ergeht es ähnlich. Sie sehnt sich nach Liebe und Zuneigung, muss sie aber vor ihrer Mutter verstecken. Salma ist vor ihrer Mutter diejenige, die die Regeln bricht, die zu ihrer Liebe zu Chokri steht und dies offen bekennt, ohne zu wissen, das auch Chokri ein Geheimnis hat. Er ist der Repräsentant der Männerwelt, der Männer, die nach Sex dürsten und denen es nicht darauf ankommt, einer Frau treu zu sein, sondern darauf, alle besitzen zu können. Lilia dagegen entdeckt sich als Mensch. Der Bauchtanz ist nur das äußere Mittel, um sich als Frau, als ganzer Mensch zu entdecken und dies – zumindest in der Nacht – zu leben.

Die anderen Bauchtänzerinnen leben in Abhängigkeit von der Männerwelt: dem Patron, dem der Nachtclub gehört, und den Männern, die ihnen zuschauen, Geld zustecken, wenn sie gut sind, und eben keines, wenn sie nicht gut sind. Folla weiß dies; ihr ist bewusst, dass sie bald gehen muss, entlassen wird, weil der Patron junge Tänzerinnen einstellen will. So sei das Leben nun einmal, meint Folla.

Raja Amari erzählt die Geschichte dieser Menschen vor allem in Bildern, in Mimik und Gestik. Wenn Worte fallen, herrschen zumeist die Regeln, die Regeln z.B. für Witwen, die keinen Körper, keine Seele, keine Gefühle zu haben scheinen, die nur eines sollen: trauern um den verstorbenen Mann, Geschlechtsneutren, deren Leben dem Tode schon sehr nahe ist. Lilia bricht diese Regeln. Auch wenn sie anderen verheimlicht, dass sie nachts Bauchtänzerin ist, hat sie letztlich kein schlechtes Gewissen, sondern höchstens Angst vor Sanktionen. Sie lebt sich. Der Tanz und die Musik, der Tanz mit Folla und den anderen Frauen ist für sie dieses Sich-Entdecken; die zuschauenden Männer sind nicht so wichtig, eher Hindernis, unumgängliche Beigabe.

Und Lilia siegt über diese Männerwelt. Sie erringt einen scheinbar kleinen Sieg, aber für sich einen enorm großen.

Als Lilia Salma durch das Fenster mit Chokri kommen sieht, erkennt sie, dass sie und ihre Tochter mit demselben Mann geschlafen haben. Chokri ist entsetzt, ohne auch nur irgend etwas sagen zu können. Sie erkennt, welche Auswirkungen die Gesetzes der Männerwelt haben – und nimmt ab jetzt das Ruder in die Hand: Sie verheiratet Salma mit Chokri. Auf der Hochzeitsfeier tanzt sie vor dem sitzenden Brautpaar, vor allem vor Chokri. Diese Szene deutet weder darauf hin – wie einige Filmkritiken nahe legen –, dass Lilia weiterhin Anspruch auf Chokri erhebt (dann würde sie gegen ihre Tochter, die sie liebt und der sie nie bewusst schaden würde, handeln), noch darauf, dass sie zu ihrer keuschen Witwenrolle zurückfindet. Diese Hochzeit ist ihr Sieg über die patriarchale Männerwelt in Gestalt Chokris. Sie hat ihn in der Hand: Wenn er nicht gut zu ihrer Tochter ist, sie nicht liebt, sie nicht beschützt, dann wird sie das Geheimnis preisgeben, dass Lilia und Chokri verbindet. Lilia schlägt die Männerwelt mit deren eigenen Waffen – geboren mehr aus einem Zufall als planmäßig betrieben. Lilia ist frei. Sie zeigt Chokri im Tanz bei der Hochzeit, dass sie zu sich, zu ihren Wünschen und zu sich als ganzem Menschen stehen kann, ohne dass Chokri Einfluss darauf nehmen kann. Lilia hat die Erfahrung gemacht, dass sie mehr ist als die Rolle, die man ihr aufgezwungen hatte, und sie kann für ihre Tochter erreichen, dass sie nicht unter der Knute der Regeln der Männerwelt leben muss. Ob das gut geht, lässt der Film natürlich offen.

Raja Amari gelang ein beeindruckender, in farbenprächtigen und lebhaften Bildern inszenierter Film mit einer exzellenten Hauptdarstellerin, der dokumentiert, dass manche „europäischen“ Antworten auf arabische Verhältnisse mehr über kulturelles Hegemoniedenken, als über die wirklichen Schwierigkeiten von Frauen in arabischen Ländern aussagen. „Roter Satin“ ist keine Schwarz-Weiß-Malerei, keine Floskel, keine ideologische Besserwisserei, keine plakative Antwort. Auch Chokri oder der Nachtclubbesitzer oder die anderen Männer werden nicht in Feindbildern stilisiert. Raja Amari dokumentiert, zeigt auf – vor allem übrigens auch die innige Solidarität zwischen Frauen (Pedro Almodóvars Filmen hier in vieler Hinsicht ähnlich). Es ist zu befürchten, dass auch dieser Film am Rande des Mainstream nicht sehr viel Publikum anziehen wird.