Samaria
(Samaria)
Südkorea 2004, 95 Minuten
Regie: Ki-duk Kim

Drehbuch: Ki-duk Kim
Musik: Park Ji, Ji-woong Park
Director of Photography: Sun Sang-Jae, Sang-jae Seon
Montage: Ki-duk Kim
Produktionsdesign: Ki-duk Kim

Darsteller: Yeo-reum Han (Jae-yeong), Ji-min Kwak (Yeo-jin), Eol Lee (Yeong-ki), Kwon Hyun-Min (Geschäftsmann), Oh Young (Musiker)

Verengende Perspektiven

Der Raum verdichtet sich, verengt sich, könnte man auch sagen. Die Lebenswelt konzentriert sich auf eine Art Traum oder Wunsch. Das Substrat, das bleibt, die Essenz, die übrig bleibt, abstrahiert von allem, was (angeblich?) das Leben ausmacht. Schule, Eltern, Freunde, Stadt, Umgebung – nichts von alledem scheint irgendeine Bedeutung zu haben. Zwei Mädchen, bestimmt nicht älter als 16 Jahre, sitzen in einem Bad, nackt, berühren sich und reinigen sich – eine rituelle wie körperliche Reinigung zugleich. Rituell, weil das Beschmutzte auch die Seele ergriffen hat, körperlich, weil es um Prostitution geht. Der Traum ist ein simpler, ein reiner, ein gewöhnlicher Traum. Die beiden Mädchen wollen nach Europa fliegen und haben kein Geld. Sie leben irgendwo in Seoul – Jae-yeong (Yeo-reum Han), die auf den Strich geht, und ihre Freundin Yeo-jin (Ji-min Kwak), die ihr Freier besorgt. Die erste hat kein Problem mit der Prostitution, die zweite hat nur Probleme damit.

Was geschehen ist und was geschieht, scheint durch keine Reinigung aus der Welt zu schaffen zu sein. Und Jae-yeong glaubt, wie Vasumitra zu sein, jene Hure, die durch Sex ihre Freier zum Buddhismus bekehrte. Das Unlautere, Schmutzige, Verfemte und doch allseits Vorhandene scheint auch seine guten Seiten zu haben. Aus dem Schmutz scheint die Reinheit zu wachsen. Yeo-jin allerdings sieht dies anders. Sie will aufhören. Und als sich Jae-yeong eines Tages aus Angst vor der Polizei aus dem Fenster eines Stundenhotels stürzt, in dem sie mit ihren Freiern, hauptsächlich Familienväter, Sex hatte, und kurz darauf mit einem Lächeln im Gesicht stirbt, ist Yeo-jin nicht nur verzweifelt. Sie hat auch Schuldgefühle. Sie will diese Schuld tilgen, sie will Erlösung. Und sie entscheidet, allen Freiern von Jae-yeong das Geld zurückzugeben. Sie schläft mit ihnen, deren Namen und Telefonnummern in Jae-yeongs Organizer fein säuberlich aufgeschrieben sind, und statt sich bezahlen zu lassen, bezahlt sie die Freier mit dem Geld, das Jae-yeong an ihnen verdient hat.

Diese Erlösungsgeschichte, die so gnadenlos und unverhüllt, manchmal fast gewollt dick aufgetragen, an christliche Erlösungsmythen erinnert, inszenierte Ki-duk Kim derart unsentimental, fast erdrückend nüchtern, dass man sich fragen muss, was daran „wahr” und wahrhaftig ist und was vielleicht sarkastisch. Ich kann dem Regisseur kaum abnehmen, dass er eine Heilsgeschichte im christlichen Sinne erzählen wollte, und dann muss ich es doch vermuten. Ich schwanke zwischen Glauben und Unglauben. Wie kann man etwas doch im traditionellen Glauben so Sensibles, Emotionales, Ergreifendes und Erhabenes so nüchtern realistisch erzählen? Die Bilder sprechen Bände, und doch: täuschen sie nicht auch etwas vor?

Die Strenge, mit der Ki-duk Kim die Geschichte schon formal inszeniert, indem er sie in drei Kapitel teilt – Vasumitra, Samaria (mit klarem Bezug zu: Samaritern) und Sonata –, hält sich durch in der Verdichtung des Raums der Handlung. Nicht einmal die Tatsache, dass sie sich in einer der größten Städte der Welt abspielt, scheint eine Bedeutung zu haben.

Als Yeong-ki (Eol Lee), der Vater Yeo-jins, Polizist, entdeckt, dass seine Tochter als Prostituierte arbeitet, ohne zu wissen warum, ist er nicht nur entsetzt, sondern auch entschlossen, diesem Treiben ein Ende zu machen. Aber er spricht nicht mit seiner Tochter, sondern verfolgt sie und versucht, die Freier davon abzuhalten, zu Yeo-jin zu gelangen. Dann geht er dazu über, sie zu stellen, betritt die Wohnung eines jener Familienväter und stellt ihn zur Rede – so dass der sich vor Scham aus dem Fenster stürzt. Wir hören nur den Knall aus dem Off und sehen, wie das Blut ins Bild läuft. Dann erschlägt er einen der Freier in einer öffentlichen Toilette.

Sonata. Es klingt, erklingt, es wird etwas zum Klingen gebracht. Der Vater nimmt seine Tochter, fährt mit ihr aufs Land, zum Grab der Mutter, wo er sich erbrechen muss, zerrissen von der immer noch währenden Trauer um seine geliebte Frau und der Geschichte seiner ebenso geliebten Tochter. Während Yeo-jin auf der Rückfahrt im Auto einen Alptraum hat, in dem ihr Vater sie erwürgt, bringt der ihr das Autofahren bei, bevor er kurz danach von Kollegen abgeholt wird wegen des Mordes an dem jungen Mann auf der Toilette.

Er entlässt seine Tochter ins Leben, nachdem er ihr den Weg gewiesen hat. Das Autofahren als Synonym für das, was Eltern ihren Kindern mit auf den Weg gegeben haben. Selten hat ein Regisseur so drastisch und sarkastisch zugleich sowohl die Brüche, die Defizite, die fehlende Kommunikation bebildert, als auch zugleich gezeigt, wie wenig uns Mythen helfen und doch zugleich notwendig scheinen, um das Unerträgliche erträglich erscheinen zu lassen.

Der Verlust soll zugleich ein Gewinn sein. Der Vater verloren, die Tochter kann Auto fahren. Die Geschichte endet wie sie begann: mit etwas allzu Banalem, einem Wunsch hier (nach Europa zu fliegen), einem Lernerfolg dort (Autofahren). Das alles erscheint allerdings eher beiläufig, als Katalysatoreffekt, wenn man bedenkt, was sich dazwischen abspielt. Denn trotz des meines Erachtens zweifellos implementierten Sarkasmus in Bezug auf Mythologisches ist es Ki-duk Kim mit dem Film durchaus in einem tiefen Sinne ernst. Die Kamera hält sich zurück, sie entblößt nichts, sie entkleidet niemanden, und der Regisseur ist der letzte, der seinen Figuren etwas Unmoralisches oder Verwerfliches vorhalten würde.

Das Mythologische, sei es nun christlich oder nicht, erkennt der Film letztlich nicht in einer übergeordneten Instanz, einer personifizierten Göttlichkeit oder ähnlichem, sondern in seinen Figuren selbst. Da erzählt der Vater seiner Tochter von Mutter Theresa und Jae-yeong ihrer Freundin von Vasumitra. Aber all dies ist nur Rückversicherung und Rückbeziehung auf das Eigene, das eigene Tun, die eigene Schuld, das eigene Zögern, den eigenen Weg. Eine junge Frau stirbt, weil sie die Konsequenzen ihres Tuns nicht völlig überschaut hat – wie sollte sie auch? Eine andere junge Frau sucht nach Reinigung und Erlösung, ohne ihr dazu gehöriges Tun in allen Konsequenzen zu durchschauen – wie sollte sie auch? Ein Vater will dem Treiben seiner geliebten Tochter ein Ende bereiten, indem er ihre Freier davon abhält, zu ihr zu gelangen, und das alles treibt ihn zum Mord, zu einem archaischen Mord, nicht mit der Pistole, nein, er erschlägt den jungen Mann. Auch er hat die Konsequenzen seines Tuns nicht erkannt – wie sollte er auch?

Wer von uns könnte schon behaupten zu wissen, zu welchen Konsequenzen es uns treibt – unser Handeln, unsere Entscheidungen, unser Zögern, unser Vorpreschen ... „Samaria” ist eben auch ein Film über das Ahnen, das heißt hier vor allem: die Angst, die damit verbunden ist – mit dem Ahnen, dem Vermuten. Und trotz oder gerade wegen der Strenge der formalen Inszenierung des Films, trotz oder gerade wegen der gewollten Distanz des Regisseurs zu seinen Protagonisten lässt der Film spüren, dass er eben doch etwas mit unserer „modernen” Lebensweise zu tun hat – vor allem mit der Sprachlosigkeit, dem Kommunikationsdefizit, ich würde sagen: mit dem in unserer Lebensweise oft implementierten Kommunikationsdefizit.

Yeo-jin kann den Tod ihrer Freundin auf keine andere Art und Weise verkraften, als die Geschichte zu wiederholen, sich den Freiern hinzugeben und ihnen das Geld zurückzugeben. Sie spricht mit niemandem darüber, und sie kann es auch nicht, schon gar nicht mit ihrem Vater. Der wiederum wird zum Rächer seiner Tochter, weil er von nichts weiß und weil er vor allem mit Yeo-jin nicht sprechen kann – schon gar nicht über ihr Tun. Und schon zu Anfang ist es Jae-yeong, die sich ihren Freiern hingibt, ohne auch nur artikulieren zu können, warum sie sich das Geld nicht auf andere Weise verschaffen kann als über Prostitution. Sie und Yeo-jin erscheinen als die besten Freundinnen; sie sind sich so nah – und doch zugleich so fern, dass kein wirkliches Sprechen miteinander möglich ist.

 

Es ist diese Verengung des Raums und damit auch der Perspektive, diese Produktion und Reproduktion des Unüberschaubaren als Konstitutionselement der Moderne, das allen als etwas Natürliches, nicht mehr Hinterfragbares erscheint, etwas, was das Bedürfnis nach Erlösung und Reinigung notwendig erscheinen lässt – sozusagen als Substitut für verloren gegangene „Worte”, fehlenden Konnex und abhanden gekommene Kontexte des Lebens. Das Einfache geht verloren in einem Wust von scheinbarer Komplexität, die doch nur künstlich, produziert ist. In Erlösungsmythen scheint ein Ersatz gefunden von scheinbarer Einfachheit mit der verlockenden Aussicht auf Erlösung.

Das Gnädige, was am Schluss des Films der göttlichen Weisheit geschuldet zu sein scheint, entpuppt sich jedoch als etwas Zwiespältiges. Das Kind, entlassen in die Erwachsenenwelt, hat immerhin den Vater verloren.

© Bilder: Rapid Eyes Movies.
Screenshots von einer TV-Aufnahme.