Schule des Begehrens
(L’École de la chair)
Frankreich (Belgien, Luxemburg), 1998, 110 Minuten
Regie: Benoît Jacquot

Drehbuch: Jacques Fieschi, nach dem Roman von Yukio Mishima
Director of Photography: Caroline Champetier
Montage: Luc Barnier
Produktionsdesign: Katia Wyszkop

Darsteller: Isabelle Huppert (Dominique), Vincent Martinez (Quentin), Vincent Lindon (Chris), Marthe Keller (Madame Thorpe), François Berléand (Soukaz), Danièle Dubroux (Dominques Freundin), Bernard Le Coq (Cordier), Roxane Mesquida (Marine)

Auf verlorenem Posten

„Das ist das Herrliche an
jeder Freude, dass sie
unverdient kommt und
niemals käuflich ist.“ (1)

Blicke. Gegensätze, die sich anziehen. Eine Frau um die 40, gut situiert, anerkannt in der Pariser Modewelt sieht im Trubel einer Disko einen wesentlich jüngeren Mann, der an der Bar arbeitet und sich als Stricher zusätzlich Geld verdient. Er, halb lächelnd, halb grinsend, deutet ihr an, dass er bereit sei. Sie ist erstaunt über sich selbst, ohne es sich anmerken zu lassen, dass sie dieser junge Mann anzieht. Sie verkauft Mode, er verkauft sich selbst. Sie ist gehobene Mittelklasse, man könnte auch „gemäßigte Schickeria“ sagen, er Proletarier aus einer der Pariser Vorstädte. Sie lebt allein – wer weiß, wie lange schon. Er lebt allein, noch nicht so lange.

Blicke, Gegensätze, die sich anziehen. Isabelle Huppert ist meinem Empfinden nach die einzige Schauspielerin, die diese Dominique spielen kann – vor allem mit ihrem Gesicht, vor allem. Wie in ihrer Rolle als Klavierlehrerin Erika Kohut in „Die Klavierspielerin“ spielt die Huppert auf der Klaviatur ihrer Mimik – und das nahezu perfekt. Sie hat ein fast ebenso perfektes Gegenüber, Vincent Martinez, der den jungen Quentin spielt. Überhaupt wird die Geschichte der beiden in Blicken, Gesten und Worten erzählt, ohne Tamtam, ohne visuelle Spitzfindigkeiten, ohne rührseligen Schmus und mit fast trocken-sachlicher „Objektivität“.

Was treibt Dominique bereits am zweiten Abend in der Disko in die Arme Quentins? Ein tiefes Verlangen, ein Defizit? Liebe gar? Sex? Oder einfach nur innere Leere? Sie gibt ihm Geld, damit er das Zimmer im Hotel bezahlen kann, und sagt, er könne den Rest behalten. Quentin lehnt zunächst – halb entsetzt – ab, dann nimmt er das Geld doch. Sie kleidet ihn ein, sie will, dass er seinen Job an der Bar beendet, sie lässt Modefotos von Quentin machen. Schon zu Anfang ist da ein deutlich spürbarer Hauch von Macht, von Beherrschen-Wollen, von Besitzanspruch, alles Dinge, die Dominique als Befreiung Quentins aus der Gosse verkauft. Quentin andererseits besteht auf seiner Freiheit, tun und lassen zu können, was er will. Das bedeutet vor allem, dass er weiterhin auf den Strich gehen will, sei es mit Männern, sei es mit Frauen. Quentin hat nie nach dem Geschlecht gefragt, sondern nur, was es bringt. Das nennt er Freiheit. „Er ist immer der Freier oder die Nutte von irgend jemandem“, sagt der Transvestit Chris (Vincent Lindon) zu Dominique und rät ihr zu, „es“ mit Quentin zu versuchen.

So treffen wir auf zwei, die sich treffen in ihrem Drang zu herrschen und beherrscht zu werden. Die „Schule des Fleisches“ öffnet ihre Pforten. Das Fleischliche, das fleischliche Begehren wird zum Knotenpunkt der Beziehung der beiden, aber es steht nicht im Mittelpunkt ihrer Beziehung.

„Wenn man jemand
fürchtet, dann kommt es
daher, dass man diesem
Jemand Macht über sich
eingeräumt hat.“ (2)

Dominique will alles über Quentin wissen, und da er nicht viel sagt, nichts sagen will, fragt sie heimlich seinen Ex-Freund respektive Ex-Kunden Soukaz (François Berléand) aus. „In seiner tiefsten Seele ist er kalt“, meint Soukaz. Quentin wolle sich nicht binden, aber habe panische Angst, verlassen zu werden. Quentin boxt in seiner Freizeit. Und Angriff und Verteidigung machen auch den Rest seines Lebens aus. Er will seine Freiheit, aber er lässt sich auch von Dominique aushalten. Auch er sucht bei Dominique etwas, das er für sich allein haben will. Bei einem Urlaub in Marokko reagiert er eifersüchtig auf einen Mann, der sich ihr nähert. Auch Dominique reagiert mit Eifersucht und Wut darauf, dass Quentin weiterhin auf den Strich geht, sagt ihm, sie gebe ihm alles Geld, was er brauche, um ihn vom Strich zu holen. Vergeblich.

Alle Gefühle der beiden scheinen instrumentell auf das jeweils eigene Innere konzentriert – man könnte es Defizit nennen –, sind nicht authentisch auf den anderen bezogen. Ihre Sexualität scheint bloßer Vermittler der eigenen Machtbedürfnisse und beider Ohnmacht zu sein, die sich ausleben wollen. Dominique ist selbstbewusst und doch zugleich in höchstem Maße verletzlich, wenn es um ihren Machtanspruch gegenüber Quentin geht – ihre Art Ohnmacht. Auch Soukaz gibt Quentin immer noch Geld, und Dominique betrachtet dies als Untergrabung ihrer eigenen Stellung und Absicht, Quentin für sich allein haben zu wollen. Während für Dominique das Geld der entscheidende Hebel für ihre Machtbedürfnisse ist, sucht Quentin die Waffe, die ihm allein bleibt: der Strich und später dann die Ehe mit einer sehr jungen Tochter, namens Marine (Roxane Mesquida), aus „gutem Hause“. Quentin sucht eine eigene Machtstellung, um gegenüber Dominique „Waffengleichheit“ herzustellen. Und auch wenn diese Ehe nicht zustande kommt, weil Quentin wiederum um seine „Freiheit“ fürchtet, d.h. seine Unterordnung unter die Welt des Strichs, des Vorübergehenden, des Schwankenden, so flüchtet er dennoch vor Dominique, um seinen Stricher- und Hurenstatus zu erhalten – die einzige Lebensweise, die er gelernt hat und in der er sich sicher fühlt.

Dominique, die Geld hat, aber scheitert bei dem Versuch, es als Machtinstrument gegenüber Quentin einzusetzen, schläft mit einem älteren Mann namens Cordier (Bernard Le Coq). Sie glaubt, Quentin durch „Liebesentzug“ binden zu können.

Wie man sieht, ergänzen sich beide fulminant, aber eben nur zeitweise.

In der Umkehrung der Geschlechterrollen – die männliche Hure und der weibliche Freier – werden die Macht- und Ohmachts-Verhältnisse, die beider Beziehung völlig beherrschen, umso deutlicher. Keiner von beiden kennt den anderen wirklich, keiner weiß etwas über den anderen, seine Biografie, sein Werden. Was Dominique über Quentin erfahren will, soll nicht dazu dienen, ihn besser zu kennen und zu lieben, sondern ihn zu beherrschen. Quentin will über sie sowieso nichts wissen.

Benoit Jacquot erzählt diese Geschichte aus der respektvollen Distanz eines Beobachters, der nicht verurteilen, sondern verstehen will, und demonstriert das Wechselspiel gegenseitiger Macht- und Ohnmachtsgefühle in beeindruckender Weise bis zum „bitteren Ende“, als sich Dominique und Quentin nach Jahren wiedersehen – sie mit irgendeinem Mann, er mit einem kleinen Kind und fast schon entschlossen, die Mutter des Kindes zu verlassen, beide noch immer auf verlorenem Posten.

(1) Hermann Hesse: Lektüre für Minuten, Frankfurt am Main 1971, S. 189.
(2) Ebda. S. 57.