Solaris (1972)
Solaris (2002)





Solaris(Solyaris [Солярис])
Sowjetunion 1972, 169 Minuten
Regie: Andrei Tarkovsky

Drehbuch: Fridrikh Gorenshtein, Andrei Tarkovsky, nach dem Roman von Stanislaw Lem
Musik: Eduard Artemyev, Vyacheslav Ovchinnikov, Johann Sebastian Bach
Director of Photography: Vadim Yusov
Montage: Lyudmilla Feiginova, Nina Marcus
Produktionsdesign: Mikhail Romadin

Darsteller: Natalya Bondarchuk (Khari), Donatas Banionis (Kris Kelvin), Jüri Järvet (Dr. Snauth), Vladislav Dvorzhetsky (Berton), Nikolai Grinko (Kelvins Vater), Anatoli Solonitsyn (Dr. Sartorius), Olga Barnet (Mutter), Tamara Ogorodnikova (Tante Anna), Sos Sargsyan (Dr. Gibaryan), Georgi Tejkh (Prof. Messenger), Yulian Semyonov (Vorsitzender der wissenschaftlichen Konferenz), Olga Kizilova (Gybaryans Gast)

Wie aus heiterem Himmel ...

Andrei Tarkovsky (1932-1986) gilt als der bedeutendste russische Regisseur nach Sergej Eisenstein. Sein nach einem Roman von Stanislaw Lem gedrehter Film „Solaris“ gilt unter Kennern als Meisterstück, vergleichbar nur noch mit Kubricks „2001: A Space Odyssee“. Soderberghs Remake aus dem Jahre 2002, oder sagen wir besser: zweiter Versuch an Lems Stoff ist mit Tarkovskys Interpretation teilweise zu vergleichen, aber in seiner ganzen Inszenierung doch anders geartet. Im Gegensatz zu Kubricks stark zivilisationskritischer Tendenz, die von spärlichen Dialogen und dafür umso eindrucksvolleren Bildern und Montagen getragen wird, setzt Tarkovsky mehr auf die Frage, was Menschsein letztlich ausmacht und welche Umstände der Mensch selbst geschaffen hat, um die Substanz menschlichen Daseins zu gefährden.

Dass Tarkovsky damit der herrschenden marxistisch-leninistischen Ideologie und den weiterhin wirkenden Tendenzen des Stalinismus, Menschen nur als Funktion einer geschichtsphilosophischen Bestimmung (Geschichte als schematische Abfolge von Klassenkämpfen) gelten zu lassen, entgegentrat, sei nur am Rande erwähnt, ist für die Geschichte des russischen respektive sowjetischen Films allerdings nicht ohne Bedeutung. Tarkovskys Film ist eines derjenigen Werke, die viel Raum für Interpretation lassen, ein Streifen allerdings auch, in den man sich einfühlen muss, da ihm das gewohnte Tempo des konventionellen damaligen wie heutigen Kinos fremd ist.

Solaris – das ist etwas, was der herrschenden Nomenklatura in der Sowjetunion gerade noch gefehlt hätte: ein Planet, der aus einer Art „Ursuppe“ besteht, deren Farbe ständig wechselt, der einmal unstrukturiert erscheint und dann „wie aus heiterem Himmel“ Strukturen erzeugt, vor allem aber offenbar eine Art denkendes Etwas ist, eine Intelligenz, die jeder menschlichen Intelligenz (möglicherweise) spottet, ein Ozean der Gedanken, sprachlos, aber später dann doch zu Wort kommend in Gestalt materialisierter menschlicher Figuren (wie kann eine andere Intelligenz klüger sein als „die Partei“?). In der Nähe von Solaris befindet sich eine Raumstation, auf der merkwürdige Dinge passieren. Ein ehemaliges Mitglied dieser Station namens Berton (Vladislav Dvorzhetsky) hatte vor Jahren von diesen Dingen einer wissenschaftlichen Konferenz berichtet, die sich mit Solaristik befasste, also der Wissenschaft, die die Geheimnisse von Solaris erforschen sollte, aber nie irgendwelche besonderen Erkenntnisse zutage fördern konnte. Außer Professor Messenger (Georgi Tejkh) hatte Berton damals niemand geglaubt; man hielt seine Beobachtungen für Hirngespinste, Phantasien, die unter den besonderen Bedingungen eines langen Aufenthalts auf der Raumstation entstanden seien oder dem Einfluss des Planeten geschuldet sein mochten.

Jahre später geschehen jedoch wieder merkwürdige Dinge. Ein Wissenschaftler der Raumstation, Dr. Gibaryan (Sos Sargsyan), hat Selbstmord verübt. Berton berichtet dies dem Psychologen Kris Kelvin (Donatas Banionis), der sich irgendwo auf dem Land im Haus seines sterbenden Vaters (Nikolai Grinko) befindet. Kelvin ist skeptisch, was Bertons Beobachtungen und ihn selbst angeht, während sein Vater Kelvin dazu überreden will, den Vorschlag Bertons anzunehmen, sich auf die Raumstation zu begeben.

Dort angekommen trifft Kelvin auf die beiden letzten Besatzungsmitglieder, die Wissenschaftler Dr. Snauth (Jüri Järvet) und Dr. Sartorius (Anatoli Solonitsyn), die sich bedeckt halten, aber offenbar nicht wahnsinnig sind. Gibaryan hat eine Bandaufzeichnung zurückgelassen, in der er Kelvin kurz vor seinem Selbstmord den dringenden Rat gibt, Solaris durch radioaktive Bestrahlung zu zerstören. Kelvin begreift nicht, was auf der Raumstation passiert ist, auch nicht, wer der Zwerg ist, den Sartorius in seinem Labor zu verstecken sucht, und das Mädchen, das plötzlich durch die Raumstation wandert.

Fast verliert er den Verstand, als plötzlich eine Frau auftaucht, die wie Kelvins Frau aussieht, die sich vor Jahren umgebracht hatte, weil sie sich von Kelvin nicht geliebt fühlte, und die sich ebenfalls Khari (Natalya Bondarchuk) nennt und behauptet, seine Frau zu sein. Dr. Snauth, äußerlich gelassen, aber aufgerieben durch die Ereignisse an Bord, versucht Kelvin zu erklären, dass es sich bei Khari um eine Materialisierung seiner Erinnerungen an Khari handelt, die Solaris erzeugt hat. Khari hat Selbstbewusstsein, kann sich an manches erinnern, an manches aber auch nicht, insbesondere nicht an die wirkliche Khari, sie ist intelligent und stellt Kelvin Fragen zu dessen Frau und wie sie umgekommen ist. Zunächst ist Kelvin derart erschüttert, dass er die zweite Khari in einer Rakete ins All schießt, um diesem Horror zu entgegen. Doch dann muss er feststellen, dass seine in dieser Khari materialisierten Erinnerungen an seine wirkliche Frau immer wieder reproduziert werden.

Während Sartorius skrupellos dafür plädiert, Khari durch ein spezielles Verfahren zu liquidieren, verändert sich Kelvins Haltung zu ihr. Er beginnt, sich in die zweite Khari zu verlieben. Je mehr Khari selbst von einer „künstlichen“ zu einer „menschlichen“ Gestalt wird, desto mehr Angst bekommt sie und versucht sich zu töten. Kelvin ist entschlossen, Khari mit auf die Erde zu nehmen, doch Khari kann nur unter den Bedingungen auf der Raumstation, in der Nähe von Solaris, existieren ...

„Solaris“ ist dramaturgisch gesehen durch, nennen wir es: drei Stränge gekennzeichnet, die in Bild und Ton Ausdruck finden und immer wieder in Beziehung zueinander und in Gegensatz gebracht werden.

Der erste Strang ist der streng wissenschaftliche, die Solaristik, die zivilisatorische Tendenz, die nur auf „Fakten“ setzt, die nur „gesicherte“ Erkenntnisse zulässt, die skrupellos ihren Weg geht, der materialistische, auf handfesten Erfolg ausgerichtete Strang, verkörpert zum Beispiel durch Dr. Sartorius oder den Leiter der wissenschaftlichen Tagung über Solaris (Yulian Semyonov). Exemplarisch ist für diese Tendenz etwa auch Bertons Rückfahrt in die Großstadt, nachdem er wütend Kelvin im Haus von dessen Vater verlassen hat. In einer langen, vielleicht fünf Minuten dauernden Einstellung, sieht man Berton, im Auto sitzend und über breite Autobahnen fahrend. Die Umgebung ist trostlos, düster, bedrückend, grau, nur ab und zu durchbricht ein „Stück“ Farbe, etwa ein rotes Auto, die uniforme und konforme Umgebung. Die Szenerie ist kalt, der Ton, Motorengeräusche und andere Geräusche einer Großstadt werden immer stärker. Die Fahrt wirkt wie die Tour eines Verzweifelten durch die Hölle, das Leid, das Berton angesichts seiner Erlebnisse auf der Raumstation, die ihm niemand abnimmt, durchmacht. Ebenso kühl und grau ist die wissenschaftliche Konferenz, von der Berton Kelvin eine Bandaufnahme zeigt: ohne Emotion.

Den zweiten Strang repräsentiert u.a. und vor allem die Anfangssequenz des Films. Tarkovsky lässt die Kamera über den Teich vor dem Haus von Kelvins Vater fahren. Er zeigt: Natur, sicherlich schon menschlich veränderte Natur, aber dadurch eben auch die Rückbeziehung zu einem menschlichen Verhältnis, das mehr als den Menschen selbst einbezieht, umfasst, berücksichtigt. Dahin gehören auch die beiden Kinder und Kelvins Vater.

Die dritte Tendenz ist das Metaphysische, das Transzendente, repräsentiert durch Solaris, den „denkenden“ Planeten, die Ursuppe, die in Aussehen und Bewegung, Größe und Macht eine Rückbesinnung auf die Entstehung des Lebens, aber auch auf das Bewusstsein und das Gewissen verkörpert, musikalisch untermalt durch Bachs Chorale Prelude in F-Moll (BWV 639) „Ich ruf’ zu Dir, Herr Jesu Christ“, die sozusagen die „Verbindung“ zwischen Transzendenz und Natur aufrechterhält.

Man könnte auch sagen, dass alle drei „Tendenzen“ – Natur, Zivilisation, Transzendenz – im Wettstreit miteinander ringen. Doch sie drücken letztlich nur drei Seiten der gesellschaftlichen Entwicklung aus – und damit auch den inneren Kampf in jedem Individuum, wobei bei allen Figuren – Kelvin, Snauth, Sartorius, Berton – jeweils die eine oder andere Tendenz überwiegt oder – wie bei Sartorius – eine die Oberhand gewonnen hat. Natur, Zivilisation, Transzendenz: man könnte auch sagen: Geburt und Herkunft – Leben und Kultur – Vergänglichkeit und Tod, sowohl in gattungsgeschichtlicher wie individualgeschichtlicher Hinsicht.

In das Zentrum des Geschehens stellt Tarkovsky in diesem Kontext Kris Kelvin. Er hat seine Frau verloren, sein Vater ist todkrank, sein Freund Gibaryan hat Selbstmord begangen – und nun soll er, Psychologe, das Mysterium auf der Raumstation aufklären. Kelvin steht vor einem Scherbenhaufen; er fühlt sich für den Tod seiner Frau verantwortlich, weil er sich nicht wirklich geliebt hat. Als er mit ihrer virtuellen Verdopplung – aus Fleisch und Blut – auf der Raumstation konfrontiert wird, sieht er eine zweite Chance. Doch wieder ist es der Tod, der Kelvin einen Strich durch die Rechnung macht: Khari Zwei kann nur auf der Raumstation existieren, will aber nicht, dass Kelvin sein Leben auf dieser gottverlassenen Station mit ihr fristet.

Kelvin hat keine Macht, in diesem Konflikt wirklich zu handeln, zu entscheiden, die Richtung zu bestimmen. Solaris steht für das Schicksal. Die virtuelle Khari ist nur der Möglichkeit nach die Liebe, an der Kelvin zuvor gescheitert ist. Und aus dieser Perspektive heraus wird zweierlei deutlich: der durch die „geballte Macht“ des zivilisatorischen Prozesses „hinweggefegte“ Tod tritt wieder in das Bewusstsein. Die industrielle Gesellschaft – ob in Gestalt einer zentralen (diktatorischen) Zwangsverwaltungswirtschaft oder des so genannten freien Marktes – reproduziert sich ständig selbst in Gestalt der Waren und Dienstleistungen, die sie hervorbringt. Die Reproduktion erfolgt in Form von Geld und Kapital, und schon der alte Marx wusste zu berichten, dass Kapital keine wirklichen – weder räumliche, noch zeitliche – Grenzen kennt. Diese materielle Entgrenzung, die die modernen Gesellschaften kennzeichnet, scheidet den Tod aus dem Leben. Der Tod wird marginal, zum bedeutungslosen Ereignis im Leben einzelner. Ebenso verhält es sich mit der Transzendenz. Die Religion, soweit nicht herrschaftsstützend und in dieser Hinsicht bedeutend, wird zur subjektiven Nebensache. Und die Natur? Sie verkommt zum Objekt einer Kultur, die nur Nutzbarkeits- und Verwertbarkeitskriterien kennt. (Tarkovsky drehte 1972, in einer Zeit, in der der Rhein zum Beispiel an manchen Stellen einer Kloake glich und der Begriff „Umweltschutz“ – wohl auch in der UdSSR – einer staatsfeindlichen Kampfparole gleich kam.)

Man könnte „Solaris“ auch als eine Art Katharsis – besonders vom Ende des Films her betrachtet – verstehen, als eine Art reinigenden Traum, in den Kelvin gestoßen wird und in dem ihm die Grenzen menschlichen Daseins wie die Bedeutung des Lebens verdeutlicht werden, die weder in der Religion, noch in der Wissenschaft zu finden sind. Die Wissenschaft – hier die Solaristik – ist der Irrglaube, diese Grenzen überwinden zu können, die neue Ersatzreligion, wie Lem schreibt, „der Kontakt, das Ziel, dem sie entgegen strebt, ist ebenso nebelhaft und dunkel wie die Gemeinschaft der Heiligen oder die Herabkunft des Messias. Die Erkundung kommt einem in methodologischen Formeln existierenden Liturgie-System gleich; die demütigende Arbeit der Forscher ist das Warten auf Erfüllung, auf die Verkündigung, denn Brücken zwischen Solaris und Erde gibt es nicht und kann es nicht geben“.

Dem Weltall ist es – in anderen Worten – „unendlich gleichgültig“, wie Menschen leben, was sie denken, fühlen, wie sie handeln. Die Ereignisse auf der Raumstation sind eine Art Metapher für verquere menschliche Vorstellungen. Die „Wiedergeburt“ Kharis hat eben auch einen „Touch“ von Nekrophilie. Khari ist tot. Es sind Kelvins Erinnerungen an sie, die Gestalt annehmen, das heißt der Wunsch Kelvins, sie so wiederzubeleben, wie er sie sich wünscht, nicht wie sie war! „Und das Wort wird Fleisch“ schrieb Lem. Und die Wissenschaft? Sie ist die anmaßende Art des Menschen, Wahrheit zu schaffen, zu verkünden – und es war nicht selten unter Strafe verboten, ihren Erkenntnissen zu widersprechen. Nicht zuletzt wurden – nicht nur in der kirchlich-organisierten Religion, sondern auch in der Wissenschaft – Phänomene, die nicht in das Weltbild passten, der Zerstörung preis gegeben. Sartorius und Gibaryan plädieren für den radioaktiven Beschuss des Planeten Solaris. Die gläubige Wissenschaft erzeugt Angst. Angst erzeugt destruktive Wünsche.

Tarkovsky lässt seinem Helden, vor allem aber seinem Publikum nur die Rückbeziehung bzw. Rückbesinnung auf Humanität, nicht in einem abstrakten Sinn, sondern in der Bedeutung, was letztlich – ohne Dazwischenkunft von Zivilisation, Wissenschafts(gläubigkeit) und herrschaftsvermittelnder, kirchlich organisierter Religion – bleibt: die Fähigkeit des Menschen, zu leiden und zu lieben, und die Erkenntnis der eigenen Herkunft und des Todes als Teil des Lebens. Aber davon wollen die wenigsten etwas wissen.

„Solaris“ ist für mich nach Kubricks „2001: A Space Odyssee“ einer der besten Sciencefictionfilme – und beide Werke sind im eigentlichen Sinne und in erster Linie gar keine Sciencefiction.  Sie lassen uns für einen Moment innehalten, setzen – trotz Aufregung und Faszination – eine Art Ruhepunkt, um den plötzlich alles zu kreisen scheint.



Solaris
(Solaris)
USA 2002, 99 Minuten
Regie: Steven Soderbergh

Drehbuch: Steven Soderbergh, nach dem Roman von Stanislaw Lem
Musik: Cliff Martinez
Director of Photography: Peter Andrews (= Steven Soderbergh)
Montage: Mary Ann Bernard
Produktionsdesign: Philip J. Messina, Keith P. Cunningham, Steve Arnold

Darsteller: George Clooney (Dr. Chris Kelvin), Natascha McElhone (Rheya), Jeremy Davies (Snow), Viola Davis (Dr. Helen Gordon), Ulrich Tukur (Gibarian), John Cho (DBA Emissär 2), Morgan Rusler (DBA Emissär 1), Shane Skelton (Gibarians Sohn), Donna Kimball (Gibarians Frau), Michael Ensign, Elpidia Carrillo, Kent Faulcon, Lauren Cohn (Freunde)

„Und das Wort wird Fleisch“

„Die Solaristik [...] ist die Ersatzreligion
des Weltraumzeitalters, sie ist Glaube,
eingehüllt in das Gewand der Wissen-
schaft; der Kontakt, das Ziel, dem sie
entgegen strebt, ist ebenso nebelhaft
und dunkel wie die Gemeinschaft der
Heiligen oder der Herabkunft des
Messias. Die Erkundung kommt einem
in methodologischen Formeln exi-
stierenden Liturgie-System gleich;
die demütigende Arbeit der Forscher
ist das Warten auf Erfüllung, auf
die Verkündigung, denn Brücken
zwischen Solaris und Erde gibt es
nicht und kann es nicht geben.“
(Stanisław Lem, „Solaris“ [1])

Wissenschaftsgläubigkeit im Rahmen der sog. „exakten“ Wissenschaften ist sicherlich eines der Themen, die Stanisław Lem in seinem Sciencefiction-Klassiker „Solaris“ (1960) mit zum Teil bissigen Seitenhieben verarbeitet hatte. Aber man würde diesem viel diskutierten Roman nicht gerecht, wollte man die Breite seiner Thematik auf irgendeine Weise einzuschränken versuchen. Für mich war „Solaris“ immer auch ein Plädoyer für eine gewisse Bescheidenheit in einer Welt, in der sich die sog. zivilisierte Menschheit keine Grenzen mehr zu setzen scheint. Lems Geschichte wurde bereits von Andrei Tarkovksy (1932-1986) in „Solyaris“ 1972 in einem 165 Minuten langen Film adaptiert. Jetzt hat Steven Soderbergh („Oceans Eleven“, 2001; „Erin Brokovich“, 2000; „Traffic“, 2000, „Sex, Lies and Videotape“, 1989; „Kafka“, 1991) den Stoff in einer wesentlich kürzeren Fassung inszeniert.

„Und das Wort wird Fleisch.“
(Stanisław Lem, „Solaris“)

Der Psychiater Chris Kelvin (George Clooney) wird unterrichtet, dass auf einer Raumstation in der Nähe des Planeten Solaris merkwürdige Dinge vor sich gehen. Zwei der Astronauten, darunter Gibarian (Ulrich Tukur), haben Selbstmord begangen, die beiden anderen, Snow (Jeremy Davies) und Dr. Helen Gordon (Viola Davis), berichten von seltsamen Vorkommnissen, über die sie allerdings nichts Näheres sagen wollen. Kelvin wird gebeten, zur Raumstation zu fahren, um die Dinge aufzuklären. Als er Snow befragt, erklärt dieser, er könne ihm zwar die Wahrheit sagen, aber Kelvin würde das doch nicht verstehen.

Nach der ersten Nacht an Bord liegt plötzlich Kelvins Frau Rheya (Natascha McElhone) neben ihm. Nur, Rheya hatte sich vor einiger Zeit auf der Erde das Leben genommen. Helen warnt Kelvin: Es handle sich nicht um Rheya. Die Person, die so aussehe, sei nur eine Materialisation, die sich an Dinge aus dem Leben mit Kelvin erinnern könne. Rheya selbst erklärt Kelvin, sie erinnere sich zwar an vieles in ihrem gemeinsamen Leben, aber so, als ob sie dies nie erlebt hätte. Auch Helen und Snow berichten von ähnlichen „Mitreisenden“. Helen will diese Materialisationen aus Fleisch und Blut zerstören; sie befürchtet enorme Gefahren, zumal schon zwei Astronauten tot sind.

Kelvin hingegen ist erschrocken und fasziniert zugleich von der Vorstellung, wieder mit seiner Frau zusammen sein zu können. Er erinnert sich daran, wie er Rheya kennen lernte, ihr einen Heiratsantrag machte, aber auch an beider Probleme und schließlich an ihren Selbstmord. Als Rheya zu ihm sagt: „Ich habe mich umgebracht, weil du dich daran erinnerst, dass ich dies getan habe“, kommen ihm Zweifel, ob es richtig wäre, diese „Rheya“ mit zur Erde zurückzunehmen ...

„Es sah so aus, als sollte der Ozean
von einem weiteren Ozean aus Papier
zugedeckt werden.“
(Kelvin in Lems „Solaris“)

Da liegt er, der Planet, ruhig, mächtig, in einem Ozean aus Licht und Farbe. Einiges an Soderberghs Bildern erinnert an den zweiten Teil von Kubricks „2001 – A Space Odyssey“, auch thematisch. Solaris liegt ganz offen da, alles ist zu sehen oder könnte gesehen werden, und doch birgt der Planet Geheimnisse, die nicht gelüftet werden. Soderbergh verzichtet auf ausgedehnte special effects. „Solaris“ ist Sciencefiction, aber wie „2001 – A Space Odyssey“ ist das Genre eben nur Mittel zum Zweck. Im Mittelpunkt steht die Geschichte. Soderbergh (wie auch Lem im Roman) transponieren die Differenz zwischen der Welt „an sich“ und den Vorstellungen, Gedanken, Gefühlen, die wir über die Welt haben, in die Weiten des Raums. Die Erinnerungen der zwei noch lebenden Besatzungsmitglieder und Kelvins verkörpert eine unbekannte Kraft, die von Solaris auszugehen scheint, in Personen aus Fleisch und Blut, die aussehen wie diejenigen, an die sich die drei erinnern, es aber nicht sind. Sie haben zwar die Erinnerung ihrer Gegenüber, sind aber zugleich eigene Persönlichkeiten. Diese Grundidee des Films (wie des Romans), ist der relativ einfache Ausgangspunkt für eine Reihe, man könnte sagen, philosophischer Überlegungen. Allerdings wäre dies angesichts der Tragweite des Geschehens zu kurz gegriffen.

Warum der Planet oder wer auch immer auf dem Planeten den drei Menschen ihre Erinnerungen in physischer Gestalt vorführt, bleibt unerklärt. Welche Fragen Soderbergh aufwirft, liegt offen zutage. Eine Person, die einerseits selbstbewusst ist, andererseits mit den Erinnerungen eines anderen lebt, ist ein vertracktes „Ding“. Die „duplizierte“ Rheya formuliert dies ganz deutlich: „Ich bin nicht diejenige Person, an die ich mich erinnere. Ich kann mich nicht daran erinnern, diese Dinge erfahren zu haben.“ (Fremde) Erinnerung und (eigene) Erfahrung sind bei Rheya nicht identisch. Was für die Wissenschaft gilt, trifft auch uns selbst. Wir decken den Ozean des Lebens zu mit einem weiteren Ozean aus Papier (Wissenschaft), Theorien über das Leben, Vorstellungen, wie es sei usw. Lem zeigt die Diskrepanz zwischen der angeblich so „objektiven“ Wissenschaft, die sich ebenso angeblich „der Wahrheit“ immer weiter nähert, und der Welt, die wir nur durch unsere Augen, aber nie „als solche“ wahrnehmen, erkunden und erklären können. Und auch Soderbergh führt uns unsere Begrenztheit vor, die doch in Wirklichkeit eine Bereicherung ist oder zumindest sein kann: Jeder liest sein eigenes Buch. Unsere Vorstellungen über andere drücken nicht aus, wie diese „sind“, sondern „nur“, was wir über sie empfinden. Die alte Streitfrage nicht nur der Wissenschaft in bezug auf das Wahrheitskriterium (objektiv-subjektiv) ist lebendiger denn je, wenn man bedenkt, wie wir Menschen in der Zivilisation glauben, die Welt beherrschen zu können – und einiges mehr.

Genau in dieser Zwickmühle sieht sich Kelvin, als er eine Person sieht, die haarscharf so aussieht wie seine verstorbene Frau, aber nur mit seinen Erinnerungen lebt. Was soll er tun? Sie ist das Fleisch seiner Gedanken und Erinnerungen, nicht mehr und nicht weniger. Soll er sie mit zur Erde nehmen? Seine wirkliche, verstorbene Frau, war ein Mensch mit eigenen Gedanken. Die Materialisation seiner Gedanken aber sieht nur aus wie Rheya. Für kurze Zeit reizt Kelvin – vielleicht unbewusst – der Gedanke, seine Erinnerungen, Gefühle usw. könnten eins werden mit der Person, die ihm da von Solaris geschickt wurde – der alte und nicht ausrottbare Glaube an die Identität, an die Übereinstimmung im „Objektiven“. Soderbergh geht aber noch einen Schritt weiter, wenn er den Sohn Gibarians (Shane Skelton) erscheinen lässt, dessen Finger – Michelangelos Gott gleich, der den ersten Menschen erschafft – sich mit dem Finger Kelvins berührt. Wessen Imagination ist der Junge, denn Gibarian ist tot? Ist er überhaupt dessen Sohn?

In einer Szene sieht man Kelvin, als er sich in den Finger schneidet. Die Wunde schließt sich „wie von selbst“. Ist er vielleicht selbst nur die Verkörperung der Gedanken eines anderen?

Auf eine fast schon bizarre Weise ist „Solaris“ trotzdem kühl, fast kalt. Die Personen kreisen um sich selbst, man verspürt kaum Nähe, im Gegenteil eher eine Distanz, die man sich nicht erklären kann. Nur ab und zu, vor allem wenn Kelvin sich erinnert, der duplizierten Rheya und damit sozusagen sich selbst in die Augen schaut, kommt eine Ahnung, ein Hauch von Emotion auf.

„Solaris“ ist sicherlich eines der gewagtesten filmischen Experimente der letzten Jahre, fällt heraus aus der Serienproduktion Hollywoods, arbeitet mit einer ruhigen, auf manchen vielleicht behäbig wirkenden Inszenierung geradezu gegen Sehgewohnheiten und übliche Erwartungshaltungen. „Solaris“ ist keine zweite Auflage von Kubricks zivilisationskritischer „Odyssee“, und doch eine gelungene alternative Fortsetzung.

[1] Lems Roman ist als Taschenbuch im Heyne-Verlag erhältlich.


 

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