Süßes Gift
(Merci pour le chocolat)
Frankreich 2000, 99 Minuten (DVD: 97 Minuten)
Regie: Claude Chabrol

Drehbuch: Claude Chabrol, Caroline Eliacheff, nach einem Roman von Charlotte Armstrong
Musik: Matthieu Chabrol
Director of Photography: Renato Berta
Montage: Monique Fardoulis
Produktionsdesign: Ivan Niclass

Darsteller: Isabelle Huppert (Marie Claire „Mika“ Muller), Jacques Dutronc (André Polonski), Anna Mouglalis (Jeanne Pollet), Rodolphe Pauly (Guillaume Polonski), Brigitte Catillon (Louise Pollet), Michel Robin (Dufreigne), Mathieu Simonet (Axel), Isolde Barth (Pauline)

Wille zur Macht

„Ich habe einen unheimlich starken
Willen. Alles ist Berechnung.“
(Mika zu André)

Ist es Siegesgewissheit, Überlegenheit, Ausdruck der Überwindung von Unsicherheit? Das Gesicht einer Frau strahlt, aber wohl nicht vor so etwas wie Freude. Erhobenen Hauptes steht Marie Claire Muller (Isabelle Huppert), die alle Mika nennen, Tochter eines Schokoladenfabrikanten in Lausanne, dessen Betrieb sie seit dem kürzlichen Tod des Vaters führt, vor dem Standebeamten, um den berühmten Pianisten André Polonski (Jacques Dutronc), einen in sich gekehrten und nur der Musik verpflichteten Mann, zum zweiten Mal zu heiraten. Die erste Ehe mit ihm war vor etlichen Jahren gescheitert – wohl deswegen, weil Mikas Vater in André nicht den standesgemäßen Schwiegersohn sah. Inzwischen war André mit der schönen Lisbeth verheiratet, lange Jahre, und aus dieser Ehe stammt Guillaume (Rodolphe Pauly). Mika war der Familie Polonski immer verbunden. Und als Lisbeth bei einem Autounfall ums Leben kam, stand sie André zur Seite.

Ein weiteres Mal zauberte Claude Chabrol mit „Merci pour le chocolat“ eine düster-sarkastische Studie über eine gutbürgerliche Familie, dieses Mal am Genfer See spielend, wohin er die Geschichte, die auf einem Roman Charlotte Armstrongs basiert, verlegte. Und kaum jemand anders als Isabelle Huppert konnte diese geheimnisvolle Mika spielen, eine Frau, die stets Kontrolle über sich hat, die stets beherrscht und freundlich ist, hilfsbereit, zuvorkommend. Und doch, von Anfang an umgibt Mika eine Aura des seelisch Abgründigen, des Mysteriums. Die Huppert wirkt nicht so sehr über Worte. Sie spielt mit ihrem Gesicht, und wenn Roger Ebert in seiner Besprechung des Films schreibt: „Isabelle Huppert has the best poker face since Buster Keaton. She faces the camera with detached regard, inviting us to imagine what she is thinking“, so gibt dies einen in Worten nur schwer fassbaren Hauch dessen wieder, wie die Huppert mit ihrer Mimik mehr zu sagen weiß, als jedes Drehbuch es in Worte fassen könnte.

Mika führt den Betrieb ihres Vaters mit leiser, aber umso eindeutiger und strenger Hand. Auch von dem alten Freund ihres Vaters und Mitglied des Aufsichtsrats der Firma, Dufreigne (Michel Robin) lässt sie sich in ihrer Geschäftspolitik nicht beeinflussen. Mika scheint am Ziel ihrer Träume angekommen zu sein. Sie leitet den Betrieb und sie hat André wieder geheiratet. Sie hilft, wo sie kann, sie fordert scheinbar nichts. Sie hält sich scheinbar zurück. „Ich bin glücklich, wenn ihr es seid“, sagt sie während der Hochzeit zu André und Guillaume. Aber hat Mika überhaupt „Ziele“, verfolgt sie „Zwecke“? Alles scheint jedenfalls nun in einer Mika genehmen Ordnung, bis ...

„Das Gute wendet sich von mir ab.
Je mehr ich das in mir spüre, desto
mehr Gutes will ich. Ich gebe und
gebe und gebe und kann niemals
um etwas bitten. Ich habe nicht
einmal um mein Leben gebeten.“
(Mika zu André)

... ja bis eines Tages eine junge Frau vor der Villa Andrés steht und sich Einlass verschafft. Jeanne Pollet (Anna Mouglalis) ist jung, schön und begabt. Sie will Pianistin werden. Doch sie hat von einer Freundin ihrer Mutter Louise (Brigitte Catillon), die als Gerichtsmedizinerin arbeitet, erfahren, dass es kurz nach ihrer Geburt beinahe zu einer Verwechslung mit dem am selben Tag geborenen Guillaume gekommen sei. Man habe André im Krankenhaus Jeanne als sein Kind gezeigt. Doch nicht nur Louise, sondern auch André versichern Jeanne, dass nicht sie, sondern Guillaume Andrés Kind sei. André allerdings findet Gefallen an der jungen Frau, die begabt zu sein scheint, und er bietet ihr an, mit ihr für einen Wettbewerb in Budapest zu üben. Fortan ist Jeanne Gast im Haus Andrés. Und beide üben den Trauermarsch von Franz Liszt.

Für Mika scheint Jeanne ebenfalls eine Bereicherung ihres Lebens. Nur Guillaume befallen Zweifel an seiner Herkunft.

Und dann beobachtet Jeanne im Spiegel zufällig, wie Mika absichtlich Kakao verschüttet, den Mika jeden Abend Guillaume als Schlaftrunk zurecht macht. Jeanne erzählt dies ihrem Freund Axel (Mathieu Simonet), der bei einer Analyse von Jeannes Pullover, auf dem ein bisschen von dem Kakao verschüttet wurde, feststellt, dass sich darin Reste eines Schlafmittels mit dem Wirkstoff Benzodiazepin befinden. Axel tippt auf das Schlafmittel Rohypnol, das André jeden Abend vor dem Schlafengehen einnimmt.

Dann erzählt Guillaume Jeanne, bei der Obduktion der Leiche seiner Mutter Lisbeth habe man ebenfalls Rohypnol im Blut gefunden ...

„Ich weiß, was ich bin, ich bin
ein Nichts ... Ich war immer
überflüssig.“
(Mika zu André)

Chabrol inszenierte „Merci pour le chocolat“ in einer ruhigen, ja fast stillen und bedächtigen Art und Weise, woraus sich angesichts der an sich tragischen Geschehnisse eine enorme Spannung ergibt. Die Diskrepanz zwischen dem gutbürgerlichem Äußeren, den kriminellen Aktivitäten Mikas und den Geheimnissen der Familiengeschichten der Polonskis und Pollets, die der routinierten und eingeübten, traditionsbewussten und scheinbar unangreifbaren Lebensweise der Familien eine Art Dolchstoß zu versetzen scheinen, durchzieht die ganze Inszenierung. Mika flößte Lisbeth ein Schlafmittel in einen Drink, der zum tödlichen Unfall führte. Jetzt ist es Guillaume, der Rohypnol verabreicht bekommt – und am Schluss sind es er und Jeanne, die – als sie André nachts das Schlafmittel aus einer Apotheke holen wollen, weil Mika es angeblich vergessen hat zu kaufen – deswegen einen Autounfall haben.

Aber nicht nur Mika „meistert“ die Situation mit einer ihr eigenen Selbstbeherrschung – bis zum Schluss, als ihr einen Moment lang – nachdem André ihr Treiben entdeckt hat – Tränen die Wange hinunter fließen – um man nicht weiß, ob dies Trauer oder Entsetzen über das eigene Tun ist oder Enttäuschung darüber, dass der Tod Jeannes und Guillaumes ihr nicht geglückt ist, weil beide den Unfall ohne Schaden überleben. Auch André, der in die klassische Musik versunkene, ja geradezu in sie fliehende Pianist, für den keine andere Wirklichkeit zu existieren scheint, ist zwar entsetzt über Mikas Tun. Aber auch dieses Entsetzen ist auf eine seltsame Weise kontrolliert, beherrscht. Er ruft nicht die Polizei an, er reagiert nicht emotional, geschweige denn, dass er ausrastet. Er sagt Mika, Jeanne und Guillaume würden demnächst gesund wieder nach Hause kommen.

Und auch Jeannes Mutter Louise reagiert kontrolliert auf jede Situation. Nur um Jeanne nicht im Glauben zu lassen, sie könne die Tochter Andrés sein, erzählt sie ihr, dass ihr Vater zeugungsunfähig war und Jeanne ein Produkt künstlicher Befruchtung ist.

Wie absolute Gegensatzpaare prallen die Dinge in dieser Geschichte aufeinander: die erhabene, reine Musik hier, das Gift dort, das wohlgeordnete Leben der Familien hier, die verschwiegenen Wahrheiten dort. Jegliche Unruhe, die entstehen müsste, wenn die Tragik und die Geheimnisse ans Tageslicht kommen, wird im wahrsten Sinn des Wortes überspielt: durch die Musik, das heimlich verabreichte Gift, die gelernte Beherrschtheit in jeder Situation, die Emotionslosigkeit oder die kontrollierten Gefühle. Mika, die Verbrecherin, die Giftmischerin, ist noch – so paradox das klingen mag – die ehrlichste Figur in diesem Fassadenspiel. Obwohl Jeanne nach und nach die Geheimnisse Mikas entdeckt und obwohl sie Guillaume und Axel dies erzählt, schweigen doch alle auf eine denkbar merkwürdige Weise. Das Furchtbare wird in das Bürgerliche integriert; es ist integriert.

Das Tun Mikas, der Giftmischerin, verkörpert dabei – und deshalb ist sie auf eine verschwiegene Art ehrlich – sozusagen die krankhafte Form dessen, was das Handeln aller letztlich bestimmt: Eigentum, nicht allein und vor allem in seiner physischen Existenz, im Streben nach Besitz oder im Verteidigen dieses Besitzes, nein, Eigentum in Form einer psychischen Disposition, die Mika völlig beherrscht, und vor allem der vermeintliche Nicht-Besitz von Eigentum – „Ich bin ein Nichts“ sagt sie am Schluss zu André – bestimmt ihr Handeln, ihr Denken und ihr Fühlen. Diese Form ihrer „Selbstbesichtigung“ als etwas Wertloses, bei der Mika feststellt, sie sei nichts, und dass sie nur anderen helfen wolle, nur Gutes tun wolle, je mehr das Gute sich von ihr abwendet, korrespondiert mit einer im Lauf der Jahre gewachsenen Allmachtsphantasie, aufgrund derer sie sich für berechtigt, ja geradezu auserkoren sieht, „das Gute“ herbeizuführen. Dieses Recht, über das Leben anderer zu bestimmen, hat keinen sichtbaren Ursprung, scheinbar keine Legitimationsbasis. Es „ist“ einfach. Es „ist“ so, wie Mika nicht nachvollziehen kann, warum sie „ist“.

Die Ermordung Lisbeths ist für Mika etwas Gutes, weil nur sie die richtige Frau an der Seite Andrés ist. Die beabsichtigte Ermordung Jeannes ist für sie „das Gute“, weil Jeanne eine Bedrohung für André darstellt. Und letztlich steht für Mika auch fest, dass Guillaume, der Spross aus der Verbindung mit Lisbeth, eine Bedrohung darstellt.

So reproduziert sich in Mika Eigentum als das konstituierende Element unserer Gesellschaft wie als psychische Disposition. Eigentum ist in dieser Hinsicht – wie gesagt – mehr als eine physische Erscheinung, ein Zentrum, um das alles kreist. Es ist Gefühl, Denken, Struktur, Organisationsprinzip, gesteuert im Fall von Mika durch Rohypnol, das ihre Opfer in einen tranceartigen Zustand versetzt, eine Droge, die einschläfernd zum Tode führen soll. Alles ist Eigentum, auch Mikas menschliche Umgebung, letztlich auch André. Und wenn Mika am Schluss André sagt, sie sei ein Nichts, so doch ein bestimmtes Nichts, ein Nichts, das zu etwas werden wollte, ein Nichts mit einem starken Willen, ein berechnendes, in jeder Situation kalkulierendes Nichts, das sich die Fassade des Bürgerlichen zunutze macht, weil es selbst durch und durch bürgerlich sein will, aus einem defizitären Gefühl heraus aber nicht sein kann.

Chabrol untermalt im wahrsten Sinn des Wortes diese Geschichte mit den phantastischen Bildern Renato Bertas, der das Schöne, das Ästhetische, das Reine – ob in den Landschaftsaufnahmen oder in den Bildern des Interieurs in der Villa Andrés – zur Sprache der bürgerlichen Fassade bringt, zum Schein, der alles zu verdecken hat. Gleichfalls tragen die Musik Matthieu Chabrols und Liszts Trauermarsch genau dazu bei, diesen Schein zu reproduzieren. Neben Huppert glänzen Jacques Dutronc in der Rolle des weltfremden und doch im richtigen Moment die Spielregeln des bürgerlichen Daseins erkennenden André sowie Anna Mouglalis als willensstarke Jeanne.

© Bilder: Concorde Home Entertainment
Screenshots von der DVD