Tanja - Life in Movement
Kinodokumentarfilm, Australien 2011, 80 Minuten)
D
VD: 2014, € 19,90, Verleih Karin Kaper Film Berlin
Regie: Sophie Hyde, Bryan Mason

Engl. Originalfassung
mit dt. Untertiteln
Musik: Dj TRiP, Jason Sweeney, Jules Maxwell

Darsteller: Tanja Liedtke (1977-2007) sowie: Lloyd Newson, Garry Stewart, Kristina Chan, Paul White, Solon Ulbrich, Amelia McQueen, Julian Crotti u.a.

„Ein Blitz aus heiterem Himmel“

„Die Tänzer hatten jemand gefunden, den sie
niemals in Frage stellten. Wir hatten die
Lichtgestalt und mussten uns keine Sorgen mehr
machen. Das wird dir genommen. Das wiegt
schwer, es geht um den ganzen Weg. Und um
den gesamten Sinn, der ohne Tanja vermisst
wird. Viele fürchten, am nächsten Felsen
zu zerschellen oder keinen anderen
Leuchtturm mehr zu finden“ (Solon Ulbrich)

Was hat das Leben zu bieten? Freude, Schmerz, Kummer, Glück, Verzweiflung, Liebe, Hass, Wut, Freundschaft, Feindschaft, Lust und Angst - und was sonst nicht noch alles. Das Leben hat zu bieten, was wir uns leisten und was mit uns versucht wird zu tun - im Guten wie im Bösen. Das Leben ist Reflexion und Selbstreflexion, Philosophie, es drängt uns, es lässt uns, manchmal auch allein. Und das Leben ist auch Tod.

Was hat der Ausdruckstanz zu bieten? All das ! All das, was das Leben auch zu bieten hat. Wie jede künstlerische Äußerung ist auch der Tanz eine Inszenierung. Der Choreograph „schreibt“ den Tanz (so die wortwörtliche Bedeutung des Begriffs). Er und sie schreiben ihn in den Raum, den ungestalteten oder gestalteten Raum, in die Tiefe. Tanz ist immer dreidimensional und schreibt sozusagen das Leben auf die Bühne. Aber wie in anderen Kunstrichtungen auch ist Tanz noch mehr. Er ist eben auch Ausdruck des Tänzers und der Tänzerin, das heißt seines und ihres Lebens. Er ist also mehr als das Leben selbst, nämlich das Leben und dessen Darstellung im Ausdruck der Tänzer.

Was hatte die Tänzerin und Choreographin Tanja Liedtke (1977-2007) zu bieten? Nach allem, was ich gesehen habe, sehen konnte (nämlich auf dieser DVD), all das in exponentiellem Wachstum. Und das ist kein billiges Kompliment, keine fade Eloge auf eine leider so früh durch einen Verkehrsunfall in Sydney umgekommene Tänzerin. Es ist mein ehrlicher Eindruck nach dem Genuss dieser DVD - denn eines ist auch klar: Ein begeisterter Fan des Tanztheaters war ich nie. Jetzt wird das möglicherweise etwas anders.

Auch der Film über Tanja Liedtke ist kein äußerliches Jubelwerk oder gar ein Stück weinerlicher Rückschau. Im Gegenteil haben Sophie Hyde und Bryan Mason einen ernsthaften und auch gelungenen Versuch der Annäherung an einen Menschen gewagt, der ausschließlich durch Interviews, ältere Aufnahmen von der Tänzerin und Proben bzw. Ausschnitte aus Aufführungen diesen Schritt zu Tanja Liedtke für diejenigen wagt, die sie nicht kannten, aber auch für die, die sie einmal auf der Bühne gesehen haben. Die Regisseure ersparen sich dabei jeglichen eigenen Kommentars - und das ist nicht nur gut so. Denn die Bilder und die Worte der Beteiligten - Familie wie Kollegen und Kolleginnen u.a. - sprechen für sich.

Zu Wort kommen u.a. Solon Ulbrich, Tänzer, Choreograph und Lebensgefährte von Tanja Liedtke, der zusammen mit anderen Ensemble-Mitgliedern der Truppe um Tanja Liedtke 18 Monate nach deren Tod mit ihren Werken auf Welttournee ging, weiterhin Kristina Chan, eine seit über elf Jahren international tätige Tänzerin, der australische Tänzer Paul White sowie deren Kollegen Julian Crotti und Amelia McQueen. Auch Tanja Liedtkes beiden Brüder und ihre Eltern wurden interviewt.

Eine kurze Biographie

Die in Deutschland geborene Tanja Liedtke tanzte seit ihrem achten Lebensjahr, zunächst in Spanien, dann an der Elmhurst Ballett School im englischen Surrey, graduierte 1995 an der Ballett Rambert School in London und bildete sich 1996 weiter fort an der Dance Academy in Sydney in Australien, wo sie seitdem lebte. Später tourte sie mit dem Australian Dance Theatre unter der Leitung von Garry Stewart weltweit zwischen 1999 und 2003. Bekannt wurde Tanja Liedtke u.a. durch ihr Engagement beim DV8 Physical Theatre in London, etwa mit dem Stück „The Coast of Living“, das auch vom britischen Fernsehen in einer überarbeiteten Fassung große Erfolge hatte.

Tanja Liedtke war allerdings nicht nur Tänzerin; sie erhielt etliche Aufträge als Choreografin, u.a. in Australien, Deutschland, Brasilien, Taiwan und Schottland.

Ihr erstes eigenständiges Werk „Twelfth Floor“ aus dem Jahr 2004 wurde in ganz Australien gezeigt und erhielt den „Australian Dance Award for Outstanding Achievement in Choreography“. So schrieb Jill Sykes im „Sydney Morning Herald“ zu diesem Stück:

„Twelfth Floor could be a physical lockup or a state of mind. Either way, this brilliantly incisive and perceptive dance work is disturbing, laugh-aloud funny and tragic. In turns and at the same time.

As I write, tears are filling my eyes. That is how strongly it affected me - then, now and, I expect, for a long while to come. […] In Twelfth Floor, she has created an extraordinary dance work for our times, one that can be interpreted in many ways. My only disappointment is its short season.” (27.5.2006)

Ihr weiteres Stück „Construct“ hatte am 11.5.2007 im Purcells Room im Southbank Centre in London Premiere und wurde danach in mehreren Theatern Englands gezeigt. „Bolt from the blue“ - wie ein Blitz aus heiterem Himmel - schrieb der „Times“-Kritiker Allen Robertson über Tanja Liedtke anlässlich der Aufführung von „Construct“. Auch für diese Choreography erhielt Tanja Liedtke einen Preis, den Helpman Award for Best New Choreography 2008.

Kurz nachdem Tanja Liedtke im Mai 2007 zur künstlerischen Leiterin der Sydney Dance Company bestellt worden war, wurde sie am 17. August bei einem Verkehrsunfall getötet.

Zur DVD

Der Film, der nun auch bei Karin Kaper Film auf DVD erschienen ist, zeigt in eindrucksvoller Weise etliche Elemente neuer Ausdrucksformen des modernen Tanzes und Tanztheaters. Liedtkes oft fast ungestüme Emotionalität, ihre kräftige Sprache, die in fast jeder Bewegung zum Ausdruck kommt, ihre Versunkenheit in die Verschränkung eigener Stimmung mit dem Tanz selbst - all das fügt sich zu einem künstlerischen Werk, in dem Tanz und Theater zu einem fast neuen Ganzen werden. Gerade die im Film oft gezeigten Ausschnitte aus „Twelfth Floor“ und „Construct“, bei Proben und Aufführungen, aber auch die älteren Aufnahmen, in denen Tanja Liedtke „vor sich hin probt“, teils in schnellen, sichtlich anstrengenden Bewegungen, teils in fast deprimierend wirkenden kurzen Übungen, zeigen eben auch den großen Verlust, den das moderne Tanztheater durch ihren tragischen Tod erlitten hat. Dies können die im Film zu Wort kommenden Kolleginnen und Kollegen Liedtkes so gut vermitteln, dass der Film insgesamt zu einem beachtlichen Erlebnis wird.

In sechs zusätzlichen Bonustracks kommen u.a. nochmals Tanja Liedtkes Eltern und ihre Brüder zu Wort (Familiengeschichte, 4 Min.). Der Tänzer Theo Clinkard erzählt über Tanja Liedtke und tanz zu ihren Ehren (8:30 Min.). Zwei weitere Features zeigen Proben zu „Construct“ (6:20 Min.) und „Twelfth Floor“ (7:00 Min.) und die beiden letzten Tracks handeln über Tanja Liedtkes Zeit beim Australian Dance Theatre (8:00 Min.) sowie die letzte Station der Welttour unter Leitung von Solon Ulbrich in Stuttgart (4:00 Min.) Kristina Chan erzählt uns in diesem letzten Feature über Tanja Liedtke und die Proben zu „Twelfth Floor“.

Ein achtseitiges Heft über Tanja Liedtkes Leben rundet die gelungene DVD-Edition ab.

Weitere Informationen unter:

Offizielle Homepage
Karin Kaper Film
Tanja Liedtke Stiftung

Wertung: 10 von 10 Punkten.
© Ulrich Behrens 2014