Tess
(Tess)
Frankreich, Großbritannien 1979, 165 Minuten, andere Fassungen: zwischen 134 und 190 Minuten
Regie: Roman Polanski

Drehbuch: Roman Polanski, Gérard Brach, John Brownjohn, nach dem Roman von Thomas Hardy „Tess of the d’Urbervilles”
Musik: Philippe Sarde
Director of Photography: Ghislain Cloquet, Geoffrey Unsworth
Montage: Alastair McIntyre, Tom Priestley
Produktionsdesign: Pierre Guffroy

Darsteller: Nastassja Kinski (Tess Durbeyfield), Peter Firth (Angel Clare), Leigh Lawson (Alec d’Urberville), John Collin (John Durbeyfield), Rosemary Martin (Mrs. Durbeyfield), Carolyn Pickles (Miriam), Richard Pearson (Vikar von Marlott), David Markham (Reverend Mr. Clare), Pascale de Boysson (Mrs. Clare), Suzanna Hamilton (Izz), Caroline Embling (Retty), Tony Church (Parson Tringham), Sylvia Coleridge (Mrs. d’Urberville)

Schicksal ?

Die Bilder erinnern an Kubricks „Barry Lyndon”. Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die englischen Landschaft präsentiert uns Polanski in prächtigen, aber nicht übertriebenen Farben. Die Einfachheit des ländlichen Lebens hier, der Reichtum einiger weniger auf der anderen Seite – beides geht fast, aber auch nur fast, bruchlos ineinander über. Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Kirche und ihre Moralvorstellungen das Leben vieler bestimmen, die neue Zeit einer liberaleren Mentalität noch kaum zu spüren ist. Die Arbeit auf den Bauernhöfen ist hart, das restliche Leben auch.

Eine sehr junge Frau, Tess (Nastassja Kinski), sticht uns ins Auge, eine schöne Frau, eine begehrenswerte Frau, eine stille Frau, eine ernsthafte. Tess lebt mit ihrer Familie, dem alkoholabhängigen Vater John Durbeyfield (John Collin), der das Haus führenden Mutter (Rosemary Martin) und ihren Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen. Aber es geht ihnen etwas besser als vielen anderen. Als ein Pfarrer John Durbeyfield erzählt, dessen Familie habe adelige Vorfahren, kennt Tess Vater nur noch eines: Verwandte ausmachen, die möglicherweise Geld haben, die Familie unterstützen können. Man glaubt, in der Familie d’Urberville diese reiche Verwandtschaft gefunden zu haben. Man schickt Tess dorthin, und der Casanova und Sohn des Hauses Alec d’Urberville (Leigh Lawson) verschafft Tess eine Arbeit bei der Familie – allerdings nur, weil er Tess regelrecht besitzen will. Die junge Frau, die sich vergeblich gegen Alec wehrt, wird eines Nachts, als er Tess nach Hause bringt, von ihm vergewaltigt. Tess ist schwanger, doch das Kind stirbt nur wenige Zeit nach der Geburt, und der Pfarrer von Marlott verweigert dem toten Baby eine christliche Bestattung.

Tess geht von zu Hause weg, findet Arbeit auf dem Hof des sympathischen Crick (Fred Bryant). Und dort arbeitet auch der junge Pfarrerssohn Angel Care (Peter Firth), der sich in Tess verliebt und in den sich Tess verliebt, der ihr einen Heiratsantrag macht, den sie zunächst ablehnt, weil sie sich für das uneheliche Kind und die Vergewaltigung schämt. Sie schreibt ihm einen Brief, schiebt ihn jedoch versehentlich unter den Teppich, so dass Angel ihn nicht findet. Und erst nach der Hochzeit mit Angel erzählt sie ihm dann von der Vergewaltigung und dem toten Kind.

Angel reagiert abweisend, enttäuscht. Und er sieht nur eine Möglichkeit: Er schickt Tess nach Hause, während er selbst seinem Traum folgt und nach Brasilien reist, um dort sein Glück zu finden. Ihre Ehe, sagt er, müsse nur noch dem äußeren Schein nach existieren. Tess lässt sich nicht unterkriegen, arbeitet wieder auf dem Land, denkt aber nur an Angel. Als der nach Monaten aus Brasilien zurückkehrt, ist Tess Familie – der Vater ist gestorben – verarmt und Tess lebt bei Alec. Eine Katastrophe bahnt sich an ...

Polanski erzählt uns die Geschichte einer jungen Frau und eines jungen Mannes, die Geschichte einer Liebe und die Geschichte ihrer Zerstörung. Tess, dieses Sinnbild von Schönheit und Liebe, von Reiz und Anmut, von leiser Rebellion und Ehrbarkeit – exzellent gespielt von Nastassja Kinski – trifft auf eine Welt von Vorurteilen und Gewalt, von Ausgrenzung und Enttäuschung. Polanski legt zwei rote Fäden durch die Geschichte, die auf einem Roman von Thomas Hardy beruht: den Faden dessen, was man allgemein als „Schicksal” bezeichnet, und den Faden dessen, was man Desillusionierung in einer Welt der festen moralischen Vorgaben nennen könnte. Dieser zweite Faden lässt den ersten als Illusion, als Einbildung erscheinen.

Alles erscheint als Schicksal und wird doch zugleich durch die Art der Inszenierung als purer Schein entblößt. Tess, die mit den schrecklichen Erfahrungen der Vergewaltigung und des Kindstodes mehr schlecht als recht zu leben lernt, diese unschuldige Tess, die ihr Leben schon am Ende sieht, die sterben möchte, wenn sie nur den Mut zum Freitod hätte, trifft auf einen jungen Pfarrerssohn und glaubt, die Wende in ihrem Leben gefunden zu haben. Und auch Angel – dieser Engel von Mann, wie alle Frauen denken, die ihn haben wollen – fühlt ebenso. Tess und Angel – ein Traumpaar, zwei Liebende, zwei, die sich scheinbar bedingungslos lieben. Doch auch hier ist nur Täuschung. Angel hat die moralischen Vorgaben seiner Zeit internalisiert. Und obwohl er weiß, dass Tess keine Schuld trifft an dem, was ihr passiert ist, obwohl er doch wissen müsste, dass Tess – gerade weil ihr dies geschehen ist – Liebe und Zuneigung bräuchte, verlässt er sie – und stürzt die junge Frau erneut in ein schwarzes Loch, in den Abgrund der Verzweiflung und in die Position einer Verstoßenen. Alec sei „ihr natürlicher Ehemann”, sagt er Tess ins Gesicht; und: „Wie kann ich bleiben, solange dieser Mann (Alec) noch lebt.”

„Tess” handelt von der Macht der (falschen, erniedrigenden) Moral, der Gewalt der herrschenden Ideologie, die sich in den Geschlechterverhältnissen ebenso offenbart wie in jedem einzelnen, besonders in Angel. Und damit handelt er von der Zerstörung der Liebe, der Unmöglichkeit der Liebe in den Zeiten der „moralischen Cholera”. Und selbst Tess, die sich auf ihre Weise und mit ihren Möglichkeiten gegen diese überkommene Moral, die nur unterdrückt, wehrt, die die Kirche nicht mehr besucht, weil der Pfarrer ihr ein christliches Begräbnis ihres Kindes verwehrt, die sich gegen die Infamie von Alec, gegen dessen Zynismus und Doppelmoral zur Wehr setzt, scheitert. Wie lange hat sie auf Angels Rückkehr gewartet! Wie lange! Wie lange hat sie gehofft, der Geliebte käme zu ihr zurück, würde ihr verzeihen, obwohl es nichts zu verzeihen gibt! Wie lange! Und dann? Dann kapituliert Tess angesichts der Verarmung der Familie. Sie wird schuldig, schuldig nicht, weil sie am Schluss Alec tötet, nein, das ist nur die offizielle Schuld, die diese Gesellschaft statuiert, in der niemand wirklich versteht. Sie wird schuldig, weil sie aus Verzweiflung das mehr als zweifelhafte Angebot dieses reichen Zynikers annimmt und zu ihm zieht.

Obwohl „Tess” in einer Zeit spielt, deren falsche Moral und lebensverneinenden religiösen Vorstellungen wir alle längst hinter uns zu glauben meinen, ist „Tess” ein hochaktueller Film – gerade deswegen, weil er uns ermahnt in Bezug auf unsere eigene Hybris, unsere eigenen als fast schon natürlich empfundenen Überzeugungen und Werturteile.

Der Zynismus von Alec, seine Selbstsucht, seine Gewalttätigkeit, aber auch die falsche verinnerlichte Moral von Angel, sind „nur”, aber immerhin (!) Ausdruck einer Lebensgemeinschaft, die nicht fähig ist, mit Abweichung, Diskrepanz, Anderssein und bestimmten Konflikten umzugehen. Auch hier also ein aktueller Bezug. Die Schönheit der Bilder dieses Films – etwa dieses herrliche Bild, als Angel an einen Baum gelehnt Flöte spielt und Tess sich ihm nähert – steht oft in krassem Gegensatz zur Tragik der Geschichte, die nicht von „Schicksal” handelt, sondern von der Falschheit dieses Scheins, irgend etwas sei überhaupt Schicksal. Die Akteure sind gefangen in ihren Vorstellungen und Überzeugungen, und selbst Tess kapituliert am Schluss.

Die Körper und Seelen, die Herzen und der Verstand sind geradezu besetzt vom Gedanken des Todes, der Destruktion und des Leids. Das Prinzip der Macht – egal welcher – lässt fast nichts anderes zu – außer dem unechten Schein (!) einer lebensbejahenden Gesellschaft. Die Körper und die Seelen rebellieren dagegen, vor allem bei Tess, die ganz still und doch ganz bestimmt rebelliert, die nur ihre Liebe will. Aber gerade bei Angel kommt jede Rebellion zu spät. Der Mord an Alec wird so, bei Licht betrachtet, zu einer Verstrickung von Schuld, die sich auf die Konstruktionsprinzipien der Gesellschaft gründet. Alec hat sich schuldig gemacht, wird aber gedeckt durch die herrschende Moral. Angel hat sich schuldig gemacht, weil er Tess verstoßen hat. Die Familie von Tess ist ihr keine Hilfe, insbesondere nicht der Vater, der dem Suff verfallen ist. In der Mordtat selbst kulminiert diese Schuld. Tess wird zum verzweifelten, ausführenden Organ. Sie wird zum Täter-Opfer. Die Rebellin begeht in einem letzten Akt eine demonstrative Verzweiflungstat. Die Rebellion hat ein Ende. Die rächende Befreiung von Alec ist zugleich die Aufhebung der Rebellion: das Ende. Der Henker wartet. Auf was wir nicht warten können, ist die Aufklärung all dessen, das Sichtbarmachen all dessen in irgendeinem der Akteure. Nur wir sehen offenen Auges.

„Tess” ist, eben weil es die Zerstörung des Prinzips der Liebe als mögliches Konstruktionsprinzip von Gesellschaft durch das diametral entgegengesetzte Prinzip der Macht veranschaulicht, eben auch ein Film, der der Rekonstruktion des Prinzips der Liebe gewidmet ist. Polanski, heißt das, deutet durch das Tragische der Geschichte an, wohin wir gehen sollten und wohin nicht.

Neben Nastassja Kinski überzeugen Peter Firth und Leigh Lawson, aber auch viele Nebendarsteller. „Tess” ist eine dieser wundervollen „Gesamtkompositionen” in Bild, Handlung, Darstellern, Dialogen usw., die Kino wieder zu dem machen, was seine ureigene Aufgabe sein sollte: modernes Geschichtenerzählen.

© Bilder: Sony Pictures Home Entertainment.
Screenshots von einer TV-Aufnahme.