Vaya con Dios
Deutschland 2002, 106 Minuten
Regie: Zoltan Spirandelli

Drehbuch: Zoltan Spirandelli
Musik: Stefan Hansen, Detlef Petersen
Director of Photography: Dieter Deventer
Montage: Magdolna Rokob
Produktionsdesign: Harald Turzer

Darsteller: Daniel Brühl (Arbo), Michael Gwisdek (Benno), Matthias Brenner (Tassilo), Chiara Schoras (Chiara), Traugott Buhre (Abt Stephan), Heinz Trixner (Pater Claudius), Christel Peters (Tassilos Mutter), Bettina Zimmermann (Beate)

Kloster und Moderne: exzellenter Road Movie

Der Cantorianer-Orden ist ein Relikt aus alter Zeit, erzählt der Film, bestehend aus Mönchen, die keine Kirche benötigen, sondern nur den Klang, die Musik, in denen sich der Heilige Geist offenbart. Sie sind die letzten ihres Ordens, deren Mitglieder von der katholischen Kirche als Ketzer verfolgt worden waren. Und nun müssen sie durch das Leben hindurch, von dem sie sich bislang abgewandt haben, auf dem Weg zu ihren letzten Glaubensbrüdern in Italien ...

... denn ihr Abt Stephan (Traugott Buhre), ist gestorben, halb wohl auch aus der Verzweiflung über die schon Jahre dauernde missliche finanzielle Situation des Klosters, dessen Eigentümerin die Mönche nun hinausschmeißt. Doch Benno (Michael Gwisdek), der sich vor Jahren von den Jesuiten im Streit getrennt hatte, Tassilo (Matthias Brenner), der seit seinem 14. Lebensjahr im Kloster lebt, und der junge Arbo (Daniel Brühl), der im Kloster von klein auf erzogen wurde und keine andere Welt kennt, haben ihrem Abt versprochen, die Brüder in Montecerboli aufzusuchen, um ihnen die „Regula Cantorianorum“, das heilige Buch des Ordens, zu bringen und dort zu leben.

Auf ihrem Weg jedoch werden alle in „Versuchung“ geführt. Tassilo glaubt, wieder auf dem Bauernhof leben zu müssen, den seine alte Mutter allein bewirtschaftet. Arbo lernt zum ersten Mal in seinem Leben eine junge Frau kennen, Chiara (Chiara Schoras), die die drei Mönche ein Stück mitnimmt, und verliebt sich in sie. Benno, der Hüter der „Regula“, trifft auf dem Weg nach Italien Pater Claudius (Heinz Trixner), der dem Jesuitenorden in Karlsruhe vorsteht und Benno mit der Ordnung der riesigen Bibliothek mit Schriften, Musikpartituren und anderem lockt, um an die „Regula“ heranzukommen, die seiner Meinung nach ketzerisch sind.

Doch als Arbo dann nach einem wenig heiteren Aufenthalt in einer Disco merkt, dass er von seinen engen Freunden verlassen wurde, kennt er nur noch ein Ziel: Tassilo und Benno zurückzuholen, um ihr Versprechen einzulösen und die Regula nach Montecerboli zu bringen ...

Spirandelli schuf mit „Vaya con Dios“ einen Road Movie der besonderen Art. So unrealistisch erfunden die drei Mönche im Vergleich zum Leben von Mönchen in heutigen Klöstern auch erscheinen mögen, es geht eigentlich um etwas anderes. Alle drei wollen das Mönchsleben bewahren, also relativ umfassende und strenge Regeln. Gleichzeitig werden sie dem ausgesetzt, was sie aus ihrer Sicht als „Versuchungen“ des weltlichen Lebens deuten, also dem „da draußen“: Musik, Weiblichkeit, Erotik, Sexualität, Abenteuer, Streit, nicht durch enge Regeln bestimmte Lebensweisen usw., also die Vielfalt des Lebens.

Alle werden „schwach“, wie sollte es auch anders sein. Tassilo wird (vorübergehend) Bauer, Benno lässt sich vom heiligen, aber heuchlerischen Schein des Jesuiten Claudius blenden, Arbo  verliebt sich in Chiara und glaubt dadurch, sein bisheriges Leben zu verraten.

Spirandelli kontrastiert die Werte des Ordens mit den Werten, die in der Gesellschaft wie Schubladen bereit stehen – nicht die Schubladen, in die man jemanden allzu schnell einordnet, sondern mit denen des Beliebigen und scheinbar beliebig Wählbaren. Während in früheren Zeiten Menschen in ein „wohl geordnetes“ Regelwerk – wie die Mönche – hinein sozialisiert wurden, mit festen, starren, fast unverrückbaren Strukturen, darf man seine Identität heute aus einem schier endlosen Fundus zusammensetzen. War ich gestern Vegetarier und passt mir das heute nicht mehr, werde ich ab sofort fleischessender Gourmet. Man darf Geschmack und Gesinnung, Mentalität und Überzeugung  wechseln, wie man will, ohne schlechtes Gewissen, ohne Rücksicht auf andere nehmen zu müssen, die es genauso machen.

Beide Welten lässt Spirandelli auf eine unaufdringliche und zugleich humorvolle Art aufeinander prallen, mit allen zweifelhaften, aber auch mit allen überzeugenden Attitüden und Regeln. Durch diesen Kontrast werden aus der Sicht jeder der beiden Welten die Vorzüge und Nachteile der jeweils anderen an vielen Stellen deutlich. Als Arbo Chiara mit einer Polaroid fotografieren soll, weiß er nicht, wann er abdrücken soll: „Wie kann ich einem bestimmten Augenblick den Vorzug vor einem anderen geben?“ Denn Gott hat ihm ein Leben als Ganzes geschenkt, in dem jeder Augenblick – sei er von Freude oder Trauer, Glück oder Unglück geprägt – zählt. Als er dann doch knipst, sagt er über das Bild zu Chiara: „In diesem Augenblick war ich ganz bei dir. Das sieht man (auf dem Foto) aber nicht.“ Besser könnte man die Gegenüberstellung der beiden Welten kaum diagnostizieren: Der Fotoapparat hält einen Moment äußerlich fest, aber das „Innere“ des Augenblicks – weder des Fotografen, noch des Fotografierten – kann er nicht fixieren. Mag sein, dass Chiara auf dem Foto lacht oder traurig aussieht, warum, sagt kein Foto.

Chiara ist von Arbo angetan, fasziniert gerade über solche Aussagen, die ihr etwas verraten, was ihr bislang nicht bewusst war – so wie Arbo von dieser jungen, hübschen, lebendigen Frau fasziniert ist, von der Weiblichkeit, die ihm bisher verborgen war.

Tassilo, der gerne und gut und viel isst, drängt es dazu, Bauer zu sein. Doch als Chiara ihn anruft, er solle Arbo helfen, damit Benno den Jesuitenorden wieder verlässt, beweist er seine tief verwurzelte Freundschaft zu den beiden anderen. Die Enge, die er in den klösterlichen Mauern verspürt hatte, löst sich am Schluss für ihn positiv.

Benno dagegen lernt die Verführungen der Pracht und Macht der Kirche kennen. Doch auch er muss erkennen, dass dies nicht das Leben ist, was er für sich sucht. Denn der Jesuitenorden versteckt, ja sperrt die Gefühle, die Bedürfnisse der in ihm lebenden ein.

Der Weg zum Kloster in Italien ist für alle, auch für Chiara, eine Art existentielle Erfahrung, keine Suche nach dem Sinn des Lebens, denn das, was alle scheinbar suchen, ist schon in ihnen, nur verborgen, begrenzt durch einseitige Reglementierungen oder vielseitige Regellosigkeit, die letztlich auch nur ein verkapptes Regelwerk darstellt. Der Weg vom Kloster hier zum Kloster dort repräsentiert eine Veränderung des Erfahrungshorizonts der Beteiligten, in dessen Verlauf sie die Vielfalt ihrer inneren Möglichkeiten entdecken – etwas, was in ihnen schlummert und geweckt wird.

„Vaya con Dios“ arbeitet nicht mit einem Patchwork-Reglement, wie es heute so modern geworden ist (etwa in „The Royal Tenenbaums“), nach dem Motto: „Ich nehme mir hier ein bisschen und dort und vielleicht noch von dem, ja, und das könnte auch zu mir passen.“ Fertig ist meine unverwechselbare Identität (die ich aber morgen schon wieder durch einen Akt meines „freien Willens“ ändern kann). Patchwork-Biografien arbeiten nach dem Marktmuster: Man kauft sich Äpfel; Birnen? nein, aber Lauch und ... Zutaten-Biografien, die, oft unbewusst, vor allem viel auf Äußerlichkeiten geben, auf die Objektwelt abstellen, zu der dann Gesinnungen, Geschmacksrichtungen, Sprach- und Redegewohnheiten, Moden und vieles mehr hinzutreten Patchwork-Biografien gleichen einem Selbstbedienungsladen, der scheinbar jedem ganz weit offen steht, in dem sich scheinbar jeder bedienen kann, wie er will.

Doch „Vaya con Dios“ verdeutlicht etwas fundamental anderes: Es gleicht die „bedingte Diktatur“ der Ideologie der festen, fast naturwüchsig daherkommenden, scheinbar unverrückbaren Sozialstrukturen gegen die „bedingte Diktatur“ der nur scheinbar extrem liberalen Patchwork-Ideologie ab, ohne in ein Diktat der Verurteilung abzusinken. Mag sein, dass dies manchmal allzu konstruiert erscheint und mit allzu leicht erzieltem Erfolg aufwartet. Aber gerade durch die Überspitzung in der Darstellung der Fronten beider Welten  – die ja in Wirklichkeit nur zwei Seiten einer Welt sind – bzw. Weltbilder wird deutlich, dass der Akt der Vereinseitigung einer der Welten einem Prozess der Ideologiebildung gleichkommt.

Sicher! Die Auflösung der Starrheit schichtspezifisch festgeklopfter Gesellschaften (Vater Maurer, Sohn Maurer; Mutter Hausfrau, Tochter Hausfrau), die, wenn man sie historisch analysiert auch nicht so starr waren, wie es in unserer Abgrenzung zu ihnen manchmal erscheint, und die Liberalisierung über soziale Grenzen hinweg mit dem Modernisierungsschub Mitte / Ende der 60er Jahre war ein notwendiger und befreiender Akt. Man sollte sich allerdings davor hüten, in der Vereinseitigung der durch den proklamierten „freien Willen“ angeblich vollziehbaren Total-Individualisierung einer anderen Ideologie auf den Leim zu gehen. Bei genauerem Hinsehen sind es nämlich vor allem Bedürfnisse einer globalisierten und globalisierenden Ökonomie, die dem „freien Willen“ begrenzten Auslauf lassen – trotz aller individuellen Chancen, die sicherlich damit einhergehen.

Arbo legt seine klösterliche Erziehung nicht ab wie eine Schlange, die sich häutet. Er „nimmt mit“, was daran für ihn befreiend war, was seinem Dasein als bestimmter Mensch in einer bestimmten Zeit entspricht. Chiara lässt ihren Freund mit Mops sausen und allein nach Rio fliegen und wird versuchen – so kann man vermuten –, jeden Augenblick ihres künftigen Lebens zu genießen, jedenfalls bewusster zu erleben. Auch sie tauscht ihr bisheriges Leben nicht mit einem anderen, so als ob sie statt Jeans zur Arbeit nun das kleine Schwarze ins Konzert anzieht.

Daniel Brühl spielt einen von Anfang an sehr sympathischen jungen Mann, der sehr viel über sein Leben und die „Welt da draußen“, wie sie ihm zunächst erscheint, nachdenkt. Michael Gwisdeks trockener Humor ergänzt sich durch Matthias Brenners gemütliches Komödiantenspiel; beides gerät nie in Gefahr, in Klamauk auszuarten. Chiara Schoras war für mich eine Entdeckung; sie spielt so überzeugend wie die drei Klosterbrüder.

Ein überzeugender, auf humorvolle Art kritischer, dabei jedoch nicht bösartiger Road Movie, der übrigens durch etliche klösterliche Gesänge zusätzlich glänzt. Einziger Wermutstropfen: die etwas zu plump, klischeehaft geratene Darstellung des Jesuitenordens in Gestalt des Paters Claudius.

© Bilder: Senator Film