Verrückt nach Paris
(Verrückt nach Paris)
Deutschland 2002, 90 Minuten
Regie: Pago Bahlke, Eike Besuden

Drehbuch: Pago Bahlke, Eike Besuden
Musik: Karsten Gundermann
Director of Photography: Piotr Lenar
Montage: Margot Neubert-Maric, Birgit Hemmerling
Produktionsdesign:

Darsteller: Paula Kleine (Hilde), Frank Grabski (Philip), Wolfgang Göttsch (Karl), Dominique Horwitz (Enno), Martin Lüttge (Kollakowski), Corinna Harfouch (Frau Hermann), Aglaia Szyszkowitz (Chris), Marion Mitterhammer (Julia), Hermann Lause (Werner), Doris Kunstmann (Frau Schneider), Hella von Sinnen (Blumenverkäuferin), Renato Grünig (Herr Schneider), Egon Kalbow (Dieter), Rolf Backert (Wölfi), Norbert Kentrup (Curry-Curt), David Opoku (George), Pago Balke (Herr Wolters), Sandra Tkaczyk (Vanessa), Anastasia Kuma (Rosalie), Corinne Vauvillé (Madame Dubonnet)

Ein verrückt guter Film

Eine deutsche Komödie, über die man lachen kann? Gibt’s das noch? Pago Bahlke und Eike Besuden haben es versucht, dazu noch mit drei Schauspielern in den Hauptrollen, die im gängigen Sprachgebrauch als „Behinderte“ – oder wie sie der Heimleiter Kollakowski im Film (Martin Lüttge) so unsäglich beschreibt: „Menschen mit Handicap“ – tituliert werden. Soll man jetzt etwa über „Behinderte“ lachen? Ja.

Hilde (Paula Kleine) arbeitet in der Küche, Philip (Frank Grabski), contergangeschädigt (er hat nur noch ein Bein und keine Arme) und Karl (Wolfgang Göttsch) basteln Holzenten für Kinder in der Werkstatt eines Heims für Behinderte. Sie werden versorgt, getätschelt, betreut, erzogen, gemahnt, wenn sie nicht zur Arbeit erscheinen oder einen Millimeter von irgendeiner Vorschrift abweichen, und dürfen mit Frau Hermann (Corinna Harfouch) Hänsel und Gretel spielen, obwohl sie keine besondere Lust dazu verspüren – also: behandelt, wie eben „Menschen mit Handicap“ so allgemein behandelt werden. Behandlungsvollzug. Zudem haben sie es mit Gruppenleiter Enno (Dominique Horwitz) zu tun, der vor Jahren, wie Hilde berichtet, noch ein netter Kerl war, sich aber inzwischen zum Ekelpaket gemausert hat. Enno hat nur sein altes Schiff im Kopf, an dem er seit Jahren repariert, ohne dass Aussicht besteht, es jemals startklar zu bekommen. Nicht zuletzt hat er Beziehungsprobleme mit seiner Freundin Chris (Aglaia Szyszkowitz), die statt seiner durch Heimleiter Kollakowski (Martin Lüttge) zur Personalchefin auserkoren wird.

Kollakowski selbst plant einen Ausflug mit den Insassen des Heims ins Wattenmeer. Er ist der festen Überzeugung, dass die Wattwürmer seine Schützlinge wohl brennend interessieren müssten. Weit gefehlt. Hilde, Philip und Karl haben ganz anderes im Sinn. Karl hat sowieso keine Lust, in einer für ihn ausgewählten Kfz-Werkstatt zu arbeiten. Und Philip hat Ärger mit seiner Freundin Vanessa (Sandra Tkaczyk), die einen anderen Heimbewohner geküsst hat. Hilde ist zu jeder Schandtat bereit, denn die langweilige Arbeit in der Küche ist ihr schon lange ein Dorn im Auge. Sie überreden an Curry-Curts Würstchenbude einen befreundeten Schaffner, ihnen Tickets für eine Bahnfahrt nach Köln zu besorgen – und weg sind die drei.

Was sie nicht gesagt haben: Sie wollen nicht wieder zurück. Nach einigen Turbulenzen gelingt es den dreien, mit Hildes Erspartem Fahrkarten für den Nachtzug nach Paris zu ergattern. Als Kollakowski erfährt, dass die drei verschwunden sind, schickt er ihnen Enno auf den Hals. Der allerdings verfehlt die Ausreißer in Köln und muss im Taxi nach Aachen. Nicht nur das. Als er sie endlich im Abteil gefunden hat, fährt der Zug los und Enno muss wohl oder übel mitfahren.

Hilde, Karl und Philip haben sich im Abteil mit Julia (Marion Mitterhammer) angefreundet. Ihr Glück. Die kennt sich nämlich in Paris aus, und als sie in der französischen Metropole ankommen, büxt sie mit den dreien aus. Wieder steht Enno dumm herum und muss Kollakowski Mitteilung machen, dass es noch etwas dauern könne, bis er die drei zurückbringen könne. Kollakowski selbst wird derweil von Karls Eltern, vor allem seiner herrschsüchtigen Mutter (Doris Kunstmann) belagert: Die – zum Geburtstag Karls erschienen – wollen nicht eher Kollakowskis Büro verlassen, bis Karl wieder da ist.

Die drei Flüchtlinge jedoch lernen inzwischen Paris kennen und neue Leute in einem von Schwarzen bewohnten Stadtteil. Einfach haben sie es nicht, zumal Enno sie gefunden hat. Der allerdings bekommt erst einmal das, was er schon lange verdient hat: Einen ordentlichen Kinnhaken ...

Wolfgang Göttsch, Frank Grabski und Paula Kleine haben Theatererfahrung. Sie spielen nämlich im Bremer Blaumeier-Atelier schon eine Zeitlang auf der Bühne. (1) Pago Bahlke und Eike Besuden gelang ein Film, der gegen jegliche „Betroffenheits“-Mentalität und mit viel Humor inszeniert wurde. Die Regisseure spielen sanft, aber deutlich mit dem Klischee vom unselbständigen „Behinderten“, der nicht dazu in der Lage sein soll, seinen Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Zentrale Gestalt in dieser Hinsicht sind Enno und Heimleiter Kollakowski: Es ist nicht nur verboten, sich einfach mir nichts dir nichts abzusetzen; die drei begeben sich ihrer Meinung nach auch in Gefahr, weil sie nicht selbständig operieren könnten.

Auf eine zutiefst selbstverständliche und komödiantische Weise beweisen Bahlke und Besuden, vor allem aber die drei Helden, dass dem in keiner Weise so ist. Sie schlagen sich durch. Dabei ist nicht alles eitel Sonnenschein. In Köln drängt Karl darauf, wieder nach Hause zu fahren, weil er Angst hat, es könne schief gehen, wenn sie weiter machen. In Paris stürzt Philip in eine Krise, weil er seine unglückliche Liebe zu Vanessa nicht verkraftet, und wird von einer freundlichen alten Dame mit Hund aufgenommen. Nur Hilde bleibt durchweg standhaft. Zwischen den dreien herrscht eine enge Solidarität. Hilde nennt die beiden Männer ihre Jungs oder Bengels. Die drei lösen ihre Konflikte, versuchen es zumindest, anstatt sie zu zerreden und sich gegenseitig in Vorwürfen zu zermartern. Grandios dargestellt.

Schön auch, wie die drei ihre Erlebnisse reflektieren. In Köln angekommen ist Hilde glücklich: „Es ist schön hier.“ Als ein paar Skateboard-fahrende Jugendliche den beiden Männern, die sich durch den Verkauf von Holzenten, die sie im Heim gemopst haben, Geld verdienen wollen, heftig geärgert werden und dabei Philips Rollstuhl kaputt geht, sagt Hilde trocken: „Köln ist nicht schön“. Als ihnen Julia weiterhilft: „Köln ist doch schön.“ Auch mit ihren Behinderungen gehen die drei „zwanglos“ nüchtern um. Als der armlose Philip niesen muss, sagt die neben ihm sitzende Hilde: „Hand vor den Mund. Ach, kannst Du ja gar nicht.“ In Paris führt Julia die drei in ein kleines Hotel ihres Freundes George (David Opoku). Überall Schwarze. Hilde ist plötzlich in Afrika. Karl weiß übrigens genau, wie man nach Afrika kommt: Die Seine immer weiter runter, dann die Rhône nach Marseille, übers Mittelmeer, dann ist man in Afrika. Sein Traum?

Mit einer enormen Portion an Selbstvertrauen und Zusammenhalt schaffen es die drei schließlich, ihr Leben auf neue Füße zu stellen und dem Heimleiter ihre Meinung zu sagen. Und Enno? Der muss erkennen, dass in manchen Menschen und auch in ihm selbst wesentlich mehr steckt, als er bislang meinte. Dominique Horwitz spielt übrigens das Ekelpaket, das sich dann doch noch zum Sympathieträger entwickelt, überzeugend, auch wenn ihm Frank Grabski, Wolfgang Göttsch und Paula Kleine zumeist die Show stehlen.

Ein verrückt guter Film, der dem so genannten gesunden Menschenverstand kräftig eine überbrät und durch die drei Hauptdarsteller und Dominique Horwitz, aber auch Martin Lüttge und Doris Kunstmann hervorragend besetzt ist.

(1) Das „Blaumeier Atelier“ ist hier zu erreichen. Dort wird das Projekt u.a. so beschrieben: „Blaumeier steht für die Verwirklichung der Idee, einen Frei- und Spielraum zu schaffen, in dem sich die unterschiedlichsten Menschen treffen und begegnen können. In einem künstlerischen Wochenprogramm arbeiten rund 200 Menschen in den Bereichen Malerei, Theater, Musik, Maskenbau und -spiel miteinander. Menschen, die gesellschaftlich voneinander abgegrenzt oder institutionell verwahrt werden, finden hier miteinander neue Formen der Kommunikation und des Austausches. Dabei dient der künstlerische Ausdruck nicht der Unterstützung eines therapeutischen oder pädagogischen Konzeptes. Die entstehenden Produkte werden allein unter künstlerischem Aspekt betrachtet und entsprechend der Öffentlichkeit präsentiert.“