Die Erde bebt (1948)
Ludwig II. (1972)
Der Leopard (1963)





Die Erde bebt
(La Terra Trema: Episodio del Mare)
Italien 1948, 153 Minuten (Original mit Untertiteln), 91 Minuten (dt. synchronisierte Fassung)
Regie: Luchino Visconti

Regieassistenten: Francesco Rosi, Franco Zeffirelli
Erzähler: Luchino Visconti, Antonio Pietrangeli, Antonio Arcidiacono
Drehbuch: Luchino Visconti und Antonio Pietrangeli, nach dem Roman „I Malavoglia“ von Giovanni Verga
Musik: Willy Ferrero
Director of Photography: Aldo Graziati
Montage: Mario Serandrei

Darsteller: Antonio Arcidiacono (‘Ntoni), Giuseppe Arcidiacono (Cola), Nelluccia Giammona (Mara), Agnese Giammona (Lucia), Giovanni Greco (Großvater), Nicola Castorina (Nicola), Rosario Galvagno (Don Salvatore), Lorenzo Valastro (Lorenzo), Rosa Costanzo (Nedda)

Tradition und „Moderne“

Zwischen Viscontis Filmen „Der Tod in Venedig“ (1971), „Die Verdammten“ (1969) und „Ludwig II.“ (1973) erscheint „La Terra Trema“ aus dem Jahr 1948 beinahe als neorealistischer Ausrutscher des italienischen Meisterregisseurs (1906-1976). Doch schon in seinem ersten Film „Ossessione ... Von Liebe zersetzt“ (1943), basierend auf Cains Roman „The Postman Always Rings Twice“, der von Mussolinis Zensur verboten worden und auch nach dem Krieg lange nur in verstümmelten Fassungen zu sehen war, kreuzte sich der vordergründige Neorealismus des Regisseurs mit seiner spezifischen Sichtweise einer Zeit, in der das „Alte“ nicht vergehen und untergehen will, das „Neue“ nicht kommen kann, weil es der entfremdeten Welt nicht entfliehen kann. Das „Alte“ war für Visconti der Kapitalismus, wie ihn der italienische Marxist Gramsci sah.

Schon in den beiden ersten Filmen aber, die zu Klassikern des Neorealismus zählen, aber manifestiert sich die Visconti eigene Ästhetik und Bildersprache, obwohl oder vielleicht gerade auch weil er z.B. in „Die Erde bebt“ derart „brachial“ und dicht den Einwohnern des sizilianischen Fischerdorfes Acitrezza „zu Leibe rückt“, dass dies filmisch nur durch malerische Kompositionen ausgeglichen werden kann, um nicht den Eindruck eines Dokumentarfilms zu hinterlassen. Visconti war nie Dokumentarfilmer. Tatsächlich ist „La Terra Trema“ frühes Zeugnis dafür, wie Visconti durch das filmisch intensive Ausmalen und Ausstaffieren einer spezifischen Umgebung seine Figuren zwischen Entfremdung und Leidenschaft agieren lässt, bis sie (fast) zerbrechen.

In „Die Erde bebt“ zeigt Visconti einen sozialen und kulturellen Raum, doch zugleich eben auch einen Raum der Leidenschaften, des (Auf-)Begehrens, der Rebellion nicht nur in einem kollektiven, sondern vor allem in einem humanen und individuellen Sinne. Er zeigt – und das ist Thema all seiner Filme – die Begrenztheit dieser Räume, die mit aller Tragik verknüpfte Unmöglichkeit, sie „einfach“ zu verlassen bzw. verlassen zu können. Der Film, eigentlich als erster Teil einer nie realisierten Trilogie angelegt, deren letzter Part mit dem kollektiven Widerstand der Arbeiter enden sollte, fand die auch finanzielle Unterstützung der italienischen Kommunisten, zumal Visconti Ort und Zeit der literarischen Vorlage – ein Roman des sizilianischen Schriftstellers Verga (1840-1922) – in die Gegenwart der Zeit nach Mussolini verlegte und ausschließlich mit Laienschauspielern von Acitrezza arbeitete. Visconti, Drehbuchautor Pietrangeli und teilweise auch Hauptdarsteller Antonio Arcidiacono fungieren in der Originalfassung des Films als Erzähler. Die Darsteller sprechen kein Italienisch – für sie die Sprache der Reichen –, sondern Sizilianisch.

Erzählt wird die Geschichte der Familie Valastro, Fischer wie ihre Vorfahren, soweit sie zurückblicken können, die hart arbeiten müssen, um ein karges Leben führen zu können, das sie kaum aus Acitrezza herausführt und herausführen kann. Die Fischer, die zweimal am Tag aufs Meer hinausfahren, müssen ihren Fang den örtlichen Großhändlern verkaufen, die sie ausnehmen, nur mehr oder weniger Spottpreise für den Fisch bezahlen. Der junge ‘Ntoni Valastro (Antonio Arcidiacono) will sich dies nicht länger gefallen lassen und ist entschlossen, anstatt der Eltern und Großeltern der Fischer selbst mit den Händlern zu verhandeln. Zusammen mit seinem Bruder Cola (Giuseppe Arcidiacono) muss er erkennen, wie die Händler sie betrügen. Sie werfen die zweifelhaften Waagen der Händler ins Meer und prügeln sich mit den Ausbeutern.

Die Händler verzichten auf Strafanzeigen, weil sie auf die Arbeit der Fischer angewiesen sind. ‘Ntoni sieht darin eine Chance, dem Diktat der Händler zu entkommen: Mit dem Geld, das er durch eine Hypothek auf das Elternhaus bei der Bank bekommt, kauft er sich ein eigenes Boot, um künftig auf eigene Rechnung zu arbeiten. Doch ein furchtbarer Sturm zerstört das Boot und entzieht damit der Familie Valastro die Lebensgrundlage. Die Bank beauftragt einen Anwalt, das Haus zu konfiszieren, die Familie steht vor dem Nichts und ‘Ntoni wird gezwungen, sich der Herrschaft der skrupellosen Händler wieder auszuliefern.

Am Ende steht Zerrissenheit, Bruch, Trennung. Die Familie bricht auseinander. Die eh schon bescheidenen Träume der Familienmitglieder weichen der Ärmlichkeit der Verhältnisse, der Skrupellosigkeit und der Hoffnungslosigkeit. Die Schwestern Mara (Nelluccia Giammona) und Lucia (Agnese Giammona), die zusammen mit der Mutter das Haus versorgen, müssen auf Beziehungen verzichten, ebenso ‘Ntoni, der in die hübsche Nedda (Rosa Costanzo) verliebt ist.

Der Film zeigt das unaufhaltsame Eindringen einer neuen Lebensweise, des Kapitalismus, in archaische Strukturen. Der Großvater der Familie (Giovanni Greco) steht für das Alte, die Tradition; er kennt kein Aufbegehren, nur das duldsame Leiden und Erleiden wie sein Vater, Großvater und alle vor ihnen. Doch der Verfall dieser Lebensweise ist deutlich zu erkennen, nicht nur an den Häusern, den Menschen, den Straßen, Wegen und der Kleidung der Einwohner. Mit dem sozialen Verfall geht der kulturelle einher, die Lebensfreude trotz Armut, das bisschen Glück und die Hoffnung auf Liebe. Die Händler lassen ‘Ntoni und seine Familie im Netz ihrer Geldwirtschaft zappeln. „Wenn ich genug Zeit habe, und die habe ich,“ sagt die Schnecke, „höhle ich den Stein.“ Die Händler haben Zeit. Am Schluss bleibt der Familie Valastro „nicht mehr als die Augen zum Weinen“.

Schon in diesem Film sind Viscontis Bilder geprägt von Üppigkeit, ja einer geradezu raumfüllenden Pracht und Intensität, die durch das Dokumentarhafte der Bilder nur schwer zu verdecken ist. Die Kamera erkundet den Raum bis in alle Einzelheiten, durchleuchtet die Häuser, das Meer bei Nacht, wenn die Fischer auf den Booten ihre Laternen anzünden. Besonders in der zweieinhalbstündigen Originalfassung des Films erstreckt sich diese Fülle der Details über den ganzen Film. Visconti ermöglicht damit die Visualisierung des Kampfes zwischen Tradition und „Moderne“, zwischen Duldsamkeit und Rebellion. Der zunehmenden Verarmung und dem wachsenden Zerfall der familiären Strukturen entspricht der maßlose Reichtum auf der anderen Seite. Der Raum dehnt sich nicht, sondern in ihm verfallen die Menschen in zerrissene Arme hier und skrupellose Händler und Reiche dort. Visconti verbirgt nicht seine Sympathie für die Fischer und seine Verachtung für die Händler, in deren Büro noch an der Wand, notdürftig überpinselt, der Name Mussolini prangt.

Aber „La Terra Trema“ ist kein Film der politischen Verurteilung, eher eine (vergebliche) Spurensuche nach den Chancen von Rebellion und Auswegen aus dem Dilemma einer Zeit des gewaltsamen Umbruchs.

Videokassette
Beide Filme – die lange Originalfassung sowie die deutsche, auf 91 Minuten gekürzte synchronisierte Fassung – sind auf einer Videokassette (leider nicht auf DVD) bei Arthaus erschienen. Der Vergleich beider Fassungen lohnt sich, denn in der stark gekürzten Fassung fallen insbesondere die Teile des Films der Schere zum Opfer, in denen Visconti in langen, aber nicht etwa langweiligen Kamerasequenzen den Lebensraum der Fischer erkundet. Trotz dieser Kürzungen dokumentiert auch die Synchronfassung die Aussagen des Films noch gut.

Und trotz des Alters des (schwarz-weißen) Films ist insbesondere die Bildqualität geradezu hervorragend. Der Ton enthält manchmal ein Knistern oder Rauschen, das dem Genuss des Films jedoch nichts anhaben kann.

„La Terra Trema“ ist ein frühes Meisterwerk des italienischen Regisseurs, das in vielerlei Hinsicht auf seine späteren Filme verweist. Auch wenn es noch dem Neorealismus verhaftet ist, deutet sich im Film bereits die Visconti eigene Art der Inszenierung an, wie sie etwa in „Tod in Venedig“ oder „Ludwig II.“ zum Ausdruck kommt.



Ludwig II.
(Ludwig)
Frankreich, Italien, Deutschland 1972, 247 Minuten
Regie: Luchino Visconti

Drehbuch: Suso Cecchi d’Amico, Enrico Medioli
Musik: Jacques Offenbach, Robert Schumann, Richard Wagner
Director of Photography: Armando Nannuzzi
Montage: Ruggero Mastroianni
Produktionsdesign: Mario Chiari, Mario Scisci

Darsteller: Helmut Berger (Ludwig), Trevor Howard (Richard Wagner), Romy Schneider (Elisabeth von Österreich), Silvana Mangano (Cosmima von Bülow), Gert Fröbe (Pater Hoffmann), Helmut Griem (Graf Dürckheim), Isabella Telezynska (Königinmutter), Umberto Orsini (Graf von Holstein), John Moulder-Brown (Prinz Otto), Sonia Petrova (Sophie), Folker Bohnet (Joseph Kainz), Heinz Moog (Professor Gudden), Adriana Asti (Lila von Buliowski), Marc Porel (Richard Hornig), Nora Ricci (Gräfin Ida Ferenczy), Mark Burns (Hans von Bülow),

Verfall und Agonie

Immer enger zog Luchino Visconti (1906-1976) von Film zu Film die Räume, in denen sich seine einsamen, verlassenen Figuren zwischen den Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts bewegen. Waren es in „Die Erde bebt“ 1948 die Fischer eines sizilianischen Dorfes – sozusagen am Rande der Welt –, die vom hereinbrechenden Kapitalismus überwältigt wurden und deren Widerstand einen der ihren nahe an die Existenzvernichtung brachte, bevor er sich und seine Familie der neuen Zeit regelrecht unterwarf, ist es in der so genannten „deutschen Trilogie“ – „Die Verdammten“ (1969), „Der Tod in Venedig“ (1971) und „Ludwig II.“ (1973) – der enge Zusammenhang von Politik und Ästhetik, der die Individuen in den Untergang treibt.

Das Inferno, die Götterdämmerung treibt der Regisseur hier so weit voran, dass man ihm vorwarf, er schwimme mit diesen Filmen auf der Welle der Faszination für eine Epoche, die im Nationalsozialismus ihren grauenhaften Höhepunkt fand. Ästhetik wird hier zum Selbstzweck, zur Form, zur Hülle einer Zeit stilisiert, in der sich das Ästhetische immer mehr der Politik bemächtigt, bis es im Faschismus seine ihm eigene Ideologie findet, die nur noch in der Zerstörung und massenhaften, bürokratisch organisierten Vernichtung menschlichen Lebens ihre Sinnstiftung findet. Die Räume, in denen sich das gepeinigte und peinigende Individuum bewegt, werden enger, die Folgen dieses maßlosen und anmaßenden Selbstbezugs aber verändern sich merklich in quantitativer wie qualitativer Hinsicht. Der Holocaust erscheint in dieser Sichtweise eben auch als die zur Vervollkommnung geratende Ästhetisierung des Politischen, das auf immer weniger zum „Willen“ und zur „Tat“ bereite Individuen zentralisiert und der Gesellschaft entzogen wird, die nur noch aus „Gefolgschaft“ oder „Auszumerzenden“ besteht.

„Ludwig“ ist gewissermaßen der krönende Abschluss im Werk des italienischen Regisseurs, obwohl bis zu seinem Tod mit „Gewalt und Leidenschaft“ (1974) und „Die Unschuld“ (1976) noch zwei Filme folgen sollten, bei deren Inszenierung Visconti schon von seiner schweren Krankheit gezeichnet war.

Schon Ludwig II. befindet sich in Viscontis Darstellung an der Schwelle vom „althergebrachten“ Herrscher zur Charaktermaske in einem immer enger werdenden Bewußtseins- und Lebensraum. Die Selbstzerstörung des Herrschers wird zum Ausdruck einer Zeit, in der der Todeskampf der alten Ordnung an der Schwelle zum imperialen, großdeutschen, ausgreifenden Reich in Ludwig sein offensichtlichstes Opfer findet.

Visconti spannt seinen „Ludwig“ über eine Zeit von mehr als 20 Jahren von der Krönung bis 1886. Im Vordergrund stehen zum einen die Beziehung des Königs (Helmut Berger) zu Richard Wagner (Trevor Howard), zum anderen zur österreichischen Königin Elisabeth (Romy Schneider). Zu beiden verbindet Ludwig eine fanatische, fernab von Realitätssinn geprägte Leidenschaft. Wagner ist für Ludwig der Inbegriff des kulturell Schönen, Elisabeth des natürlich Schönen. Weder Wagner, den Ludwig nach Bayern zurückholt (der Komponist war vor seinen Gläubigern geflohen), noch Elisabeth sind für den König Menschen, die etwas ausdrücken, sondern Verkörperungen des abstrakt Ausgedrückten selbst. Schönheit, Ästhetik verändern sich schon bei Ludwig zum Selbstzweck und je weiter sich der Herrscher, der bis zu seinem Tod immer weniger wirklich herrscht, von den realen Personen emotional entfernt, desto vergeistigter wird seine Beziehung zu den beiden wichtigsten Personen in seinem Leben selbst.

Um den in sich durch und durch gefühlten Verfall seiner Epoche abzuwenden oder zumindest aufzuhalten, sucht Ludwig in der Musik Wagners und der Anbetung der österreichischen Regentin Reinigung und eigene Erlösung. Doch von Wagner, der bei Visconti nicht gut wegkommt (verschuldet, hintertrieben, er nutzt Ludwig aus, in Kooperation mit seiner Geliebten Cosima von Bülow, deren Ehe mit Hans von Bülow nur noch auf dem Papier Gültigkeit hat), aber eben auf seine Weise Realist ist, und von Elisabeth, die die zunehmende Entfernung und Entfremdung Ludwigs von seiner Umgebung und von seiner Position exakt und seine Liebe zu ihr als Ausdruck von Künstlichem erkennt, trennt den Herrscher seine zunehmende Vergeistigung. Als sein Bruder Prinz Otto (John Moulder-Brown) an einer Geisteskrankheit zu leiden beginnt, an der er Jahre später stirbt, befürchtet der König auch für sich den Verfall in die Umnachtung.

Was ihn jedoch wirklich zerstört, ist nicht eine Krankheit im üblichen Sinn. Für die Staatsangelegenheiten interessiert er sich ebensowenig wie für den Krieg. Sein Vertrauter Graf Dürckheim (Helmut Griem), der den König in über die Grenzen des an sich Erlaubten hinaus mit der Realität und seiner Aufgabe als Herrscher konfrontiert, muss ebenfalls erkennen, dass Ludwig bereits in einer anderen Welt lebt, in der es ihm auch nicht möglich ist, ein Eheversprechen gegenüber der Schwester Elisabeths, Sophie (Sonia Petrova), einzulösen.

Das Asexuelle Ludwigs in bezug Frauen, die er höchstens bewundert, verehrt oder, wie Elisabeth, vergöttert, die er aber angesichts der Künstlichkeit und Transzendenz seines Verhältnisses zu ihnen nie liebevoll berühren würde, geschweige denn, dass er mit ihnen schlafen könnte, treibt ihn in die Arme von Männern, etwa die seines Kammerdieners Hornig (Marc Porel). Im eigentlichen Sinn ist dies keine Homosexualität, sondern die Flucht in den Verfall. Bei Ludwig fällt das Natürliche und das Künstliche als etwas Unvereinbares, ja Gegensätzliches auseinander. Es klafft ein Abgrund, analog der Unvereinbarkeit von Ästhetik und Wirklichkeit.

Diese transzendentale Zuspitzung in seinem Leben führt den König immer weiter in die Isolation. Sein Raum zieht sich immer enger auf sich selbst zurück. Die „Märchenschlösser“ wie Neu-Schwanstein oder Herrenchiemsee haben weniger etwas mit Märchen zu tun, als dass sie der verzweifelte Versuch, der letzte „Rettungsanker“ für Ludwig zu sein scheinen, um dem eigenen körperlichen wie seelischen Verfall zu entkommen, Schlösser, in denen er den eigenen enger werdenden (Lebens-)Raum zu weiten versucht – vergeblich.

Ludwigs Absetzung durch die eigene Regierung ist nur der letzte Schlussstrich unter diese Entwicklung. Das seelische Delirium und das Quälende, Zerplatzende der eigenen Situation schnüren alles zu, was an Leben noch in ihm steckt.

Ludwigs von Mythen umwobener Tod im Starnberger See ist – im Leben des Königs wie in Viscontis Film – logische Folge eines fehlgeschlagenen Versuchs, dem Todeskampf der eigenen Epoche zu entkommen. Man fand seine Leiche und die des Leibarztes Prof. Gudden (Heinz Moog), ohne dass die Todesursache geklärt worden wäre. Mord? Selbstmord? Unfall wohl kaum.

Viscontis Eintauchen in diese immer enger werdende Welt hat etwas Faszinierendes, etwas Ästhetisches und Erschreckendes zugleich. Es ist jedoch weniger ein Akt der Bewunderung, der eigenen Sympathie für die Agonies eines Zeitalters, die „Ludwig“ oder auch die beiden anderen Teile der Trilogie kennzeichnen, sondern eher die ganze Last der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die im übrigen – ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht – auf uns allen liegt, die das Anziehende einer solchen Visualisierung des fragilen Pomps bewirkt.

Helmut Berger verkörpert diesen Ludwig „wie aus einem Guss“, scheint geboren für diese Rolle eines Königs, demgegenüber man Verachtung wie Mitgefühl entgegenbringen kann.



Der Leopard
(Il Gattopardo)
Italien, Frankreich 1963, 183 Minuten (DVD: 178 Minuten)
Regie: Luchino Visconti

Drehbuch: Luchino Visconti, Suso Cecchi d’Amico, Pasquale Festa Campanile, Enrico Medioli, Massimo Franciosa, nach dem Roman von Giuseppe Tomasi di Lampedusa
Musik: Nino Rota
Director of Photography: Giuseppe Rotunno
Montage: Mario Serandrei
Produktionsdesign: Mario Garbuglia

Darsteller: Burt Lancaster (Fürst Don Fabrizio Salina), Claudia Cardinale (Angelica Sedara / Bertiana), Alain Delon (Tancredi Falconeri), Paolo Stoppa (Don Calogero Sedara), Rina Morelli (Fürstin Maria Stella Salina), Romolo Valli (Pater Pirrone), Terence Hill alias Mario Girotti (Graf Cavriaghi), Pierre Clémenti (Francesco Paolo), Lucilla Morlacchi (Concetta), Guiliano Gemma (Garibaldis General), Ida Galli (Carolina), Ottavia Piccolo (Caterina), Carlo Valenzano (Paolo), Brook Fuller (kleiner Fürst), Anna Maria Bottini (Mademoiselle Dombreuil), Lola Braccini (Donna Margherita), Marino Masé (Tutor), Howard Nelson Rubien (Don Diego), Serge Reggiani (Don Francisco Ciccio Tumeo)

Umbrüche

„Wir waren die Leoparden, die
Löwen, die Adler. Unseren Platz
werden Schafe, Hyänen und
Schakale einnehmen. Doch in
einem gleichen wir uns – Leoparden,
Schakale, Hyänen und Schafe:
Alle glauben nämlich von sich,
sie seien das Salz der Erde.“
(Fürst Don Fabrizio Salina)

Die sizilianische Hitze ist spürbar. Alles ist hell in der mal kargen, mal üppigen Landschaft in der Nähe des Ortes Donnafugata. Man gewinnt den Eindruck, dass es hier nie regnet. Die Sonne scheint zu mächtig, jegliche Veränderung im Keim zu ersticken.

Langsam nähert sich die Kamera einem großen, von außen eher schlicht wirkenden Palast. Vom Innern des Hauses hört man Stimmen, eine Art Gemurmel. Wir nähern uns den Fenstern, und aus dem Gemurmel wird ein eintöniges Beten. Wir schauen hinein. Eine Familie bei der Hausandacht. Einige stehen, andere knien oder sitzen. Der Raum ist prächtig ausgestattet. Ein Priester, Vater Pirrone (Romolo Valli), kniet neben dem Fürsten von Salina (Burt Lancaster), einem bereits älteren, strengen Herrn. Seine Frau Fürstin Maria Stella (Rina Morelli), seine Töchter Carolina (Ida Galli), Concetta (Lucilla Morlacchi) und Caterina (Ottavia Piccolo), sein Sohn Francesco Paolo (Pierre Clémenti) und der kleine Fürst, der jüngste Spross der Familie (Brook Fuller) sind ebenso anwesend wie des Fürsten Großneffe Tancredi Falconeri (Alain Delon), in den Concetta verliebt ist.

Alles scheint wie immer. Die Tradition scheint zu herrschen. Doch die Messe wird jäh unterbrochen, als man in der Nähe der fürstlichen Residenz einen toten Soldaten findet – einen, der auf der Seite des italienischen Freiheitskämpfers Giuseppe Garibaldi gekämpft hatte.

Luchino Visconti erzählt – einmal mehr – die Geschichte des Übergangs, des Verfalls, der Revolution – so wie schon in „Die Erde bebt“ (1948), einem jener Meisterwerke des italienischen Neorealismus, von den Bedrohungen für die armen Fischer eines kleinen Ortes durch das Eindringen des Kapitalismus; oder in „Ludwig II.“ (1972) vom Zerfall der Monarchie alten Typs, dem sich der bayerische König nur durch die Flucht in den Wahnsinn, die Einsamkeit und schließlich den Tod zu entziehen vermag.

Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Garibaldi und seine in rote Hemden gekleideten Soldaten schicken sich 1860 an, Neapel und Sizilien zu erobern. In einer rund 15 Minuten dauernden Kampfszene zeigt Visconti in prächtigen, farblich satten Szenen die Schlacht um Palermo zwischen den Rothemden und den königlichen Truppen. Der Fürst von Salina ist weiß Gott kein Freund der Garibaldiner oder überhaupt irgendeiner revolutionären Veränderung. Aber er ist Realist, Pragmatiker. Er weiß, dass sich die anstehenden Veränderungen im Staatsgefüge Italiens nicht aufhalten lassen.

„Es muss sich alles ändern,
damit alles so bleibt, wie es ist.“

Der Fürst ein Patriarch der Familie, Patriarch der Region, Patriarch der Elite. Der Adel, seit Jahrhunderten Herrscher über Sizilien und Italien, hat seine Lebensweise, seine festen und festgefahrenen Bräuche. Und doch spürt Don Fabrizio, dass er sich zwar nicht auf die Seite Garibaldis stellen kann, aber den neuen Kräften auch nicht im Weg stehen darf. Tancredi, sein Neffe, den er liebt wie einen Sohn, dessen Lebenslust, Kraft und Entschlossenheit er bewundert, ist ein glühender Anhänger des Neuen; auch er will Viktor Emmanuel II., auch er will das Risorgimento, die Einigung Italiens.

In Donnafugata ist es vor allem Don Sedara (Paolo Stoppa), ein schlauer Fuchs, ein machthungriger Betrüger, der sich so manches Stück Land unter den Nagel gerissen hat, der das Geschäft des aufstrebenden Bürgertums betreibt – ein Ränkeschmied, der dem Fürst mit freundlich-hämischen Lächeln gegenübertritt und seine schöne Tochter Angelica (Claudia Cardinale) in die politische Waagschale wirft, um schnell zu mehr Einfluss und Macht zu gelangen. Salina weiß dies alles – und spielt mit. Aus der Liaison Angelicas mit Tancredi erhofft sich der Fürst, dass seine Familie in Sicherheit leben kann und sein Besitz gewahrt bleibt. Auch bei der Abstimmung für oder wider den neuen König Viktor Emmanuel II. stimmt Salina mit Ja.

Kaum ein anderer als Luchino Visconti hätte diese Geschichte des schleichenden Verfalls der alten Herrscher Siziliens und des Aufstieges der bürgerlichen Emporkömmlinge derart opulent und überzeugend in Szene setzen können. Und kaum ein anderer als ausgerechnet der amerikanische Schauspieler Burt Lancaster (der ursprünglich für die Rolle gar nicht vorgesehen war) hätte den Fürsten Salina, diesen pragmatischen Patriarchen, derart würdevoll und in der Charakterdarstellung einmalig mimen können. Zunächst dachte Visconti u.a. an Laurence Olivier für die Rolle des Fürsten, und quittierte den Vorschlag, Burt Lancaster zu engagieren, mit der Bemerkung: „Oh nein! Ein Cowboy.“ Lancaster selbst erzählte, Visconti habe ihn dann in dem Film „Das Urteil von Nürnberg“ (1961) gesehen, in dem er den wegen Nazi-Verbrechen angeklagten deutschen Richter Janning gespielt hatte, und sich von der Richtigkeit der Entscheidung für Lancaster überzeugen lassen, einem Film.

Zu den Höhepunkten des Films gehören die Gespräche zwischen dem Fürsten und seinem „Hauspfarrer“ Pirrone sowie dem Jagdaufseher Don Ciccio (Serge Reggiani) über die Umbrüche der Zeit, aber auch über moralische Fragen, sowie die vierzigminütige Ballszene gegen Ende des Films im Palazzo Ponteleone, bei der die Kamera vor allem zeigt, wie sich der Fürst in all seiner Verzweiflung und Traurigkeit, aber auch in der Gewissheit, seiner Familie durch die Verbindung zwischen Tancredi und Angelica ein Stück Sicherheit verschafft zu haben, durch die jungen, tanzenden Menschen bewegt.

Deutlich wird der Realitätssinn des Fürsten auch in seinem Verhältnis zu Angelica, in die er verliebt ist. Doch Don Salina weiß, dass nicht nur wegen des Altersunterschieds eine Verbindung zu dieser schönen jungen Frau unmöglich ist. Sein Geschlecht wird nie wieder das sein, was es einmal war. Man sehe in die Augen des Fürsten und Angelicas, während beide in der langen Ballszene tanzen. Es bedarf keiner Worte, um zu erkennen, was in beiden vorgeht.

Visconti – selbst Marxist – scheute sich in keiner Weise, seiner Sympathie für den pragmatischen Fürsten Ausdruck zu verleihen, während er – wie schon in der Romanvorlage di Lampedusas – für den Bürgermeister und Halsabschneider Don Sedara nur kühle Verachtung übrig hat. Das hat seinen Grund nicht nur in den Personen selbst, sondern vor allem auch in einer besonderen Sichtweise derartiger gesellschaftlicher Umbrüche, in denen die neuen Kräfte „das Alte“ zumeist in Bausch und Bogen verurteilen und beseitigen wollen, während sie sich zugleich von radikalen Kräften in dem Moment absetzen, in dem sie an Macht und Einfluss gewonnen haben. Auch Tancredi – inzwischen samt seinem Freund und Mitstreiter Graf Cavriaghi (Terence Hill in einer Nebenrolle!) „ordentlicher“ Offizier Viktor Emmanuels – hat sich nach dem Sieg über die alten Mächte von Garibaldi losgesagt, den er als Verbrecher und dessen Anhänger er als Pöbel tituliert.

Gerade diese differenzierte Sicht solcher Umbruchsituationen macht Viscontis Filme zu einem visuellen Erlebnis. Hinzu kommen der Aufwand und die Akkuratesse, mit der Visconti und sein Team bezüglich Kostümen, Ausstattung und nicht zuletzt der Musik Nino Rotas (der später auch für Coppolas Paten-Trilogie die Musik komponierte) der Geschichte das notwendige historische Flair gaben, das den Film zu einem regelrechten Bilderbogen durch das Sizilien dieser Zeit werden lässt. Alain Delon ist einmal nicht als „kalter Engel“ zu sehen, sondern als aufmüpfiger, lebenslustiger junger Mann. Und Claudia Cardinale glänzt in der Rolle der jungen Schönen wie kaum je zuvor. Zu nennen wären noch Rina Morelli in der Rolle der streng katholischen Frau des Fürsten, der sich gezwungen sieht, in Palermo zu einer Prostituierten zu gehen, um seine sexuellen Wünsche zu befriedigen, weil Fürstin Maria Stella im Bett (wenn „es so weit ist“) ein Gebet nach dem anderen spricht. Auch Romolo Valli als Pater Pirrone und Paolo Stoppa als skrupelloser Geschäftsmann der neuen Art Don Sedara passen in dieses voluminöse und dichte Bild Siziliens um 1860 herum.

Alles in allem ein Meisterwerk filmischer Kunst.


Weitere Filme Viscontis:
“Tod in Venedig” (1971)

Die Erde bebt-Plakat
Die Erde bebt-1
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Ludwig II-Plakat
Ludwig II-1
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Ludwig II-3
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