Alice
(Alice)
USA 1990, 102 Minuten
Regie: Woody Allen

Drehbuch: Woody Allen
Musik: Edgar de Lange
Director of Photography: Carlo di Palma
Montage: Susan E. Morse
Produktionsdesign: Santa Loquasto

Darsteller: Mia Farrow (Alice Tate), William Hurt (Doug Tate), Joe Mantegna (Joe), Keye Luke (Dr. Yang), Blythe Danner (Dorothy), Alec Baldwin (Ed), Judy Davis (Vicki), Bernadette Peters (Muse), Robin Bartlett (Nina), David Spielberg (Ken), Cybill Shepherd (Nancy Brill), Gwen Verdon (Alices Mutter), Patrick O’Neal (Alices Vater)

Alice im Wunderland

Sie ist rein. Rein im Herzen. Rein im Denken. Einfach rein. Ihre streng katholische Erziehung mag das nur zum Teil erklären. Alice (Mia Farrow) hat sich selbst gereinigt – im guten Glauben, sozusagen. Und nach 16 Jahren Ehe mit Doug Tate (William Hurt) ist Alices Reinheit zur Blüte gereift. Doug ist reich. Alice ist Hausfrau und Mutter zweier Kinder. She goes shopping, sie geht zur Mani- und Pediküre, sie trainiert ihren Körper mit einem eigens engagierten Trainer. So rein wie die Seele soll auch der Körper sein. Und ihre Kinder sollen so werden, rein. Sie führt small talk mit ihren Freundinnen, die man als solche kaum bezeichnen kann. Alice ist eine jener Frauen in Manhattan, die es weit gebracht haben – eben zur reichen Ehefrau und Mutter, zu besseren Haushälterin eines besseren Herrn. Und Alice hat Rückenschmerzen. Ihre Ehe ist eingefahren, wie sie nicht eingefahrener sein kann. Und Alice hat Kopfschmerzen. Ihr Mann Doug ist eines jener reichen arroganten Arschlöcher, die viel, ja alles von sich halten, aber um die andere Leute, die nicht seinen „Kreisen” zuzurechnen sind, lieber einen großen Bogen machen und dabei denken: „Dem möchte ich mal in die ...”

Wieder einmal erzählt Woody Allen mit viel Humor und Sarkasmus die Geschichte einer Frau, die sich selbst in eine Art emotionales Gefängnis gesperrt hat, die glaubt glücklich zu sein, die aber nur, wie der chinesische Akupunkteur und Kräuterdoktor Dr. Yang (Keye Luke) ihr später sagen wird, an eine Idee, was Glück sei, glaubt, aber nicht glücklich ist.

Ihre Schmerzen treiben sie zu Dr. Yang, einem älteren Mann in Chinatown, von dem sie glaubt, er verschreibe ihr irgend etwas und dann seien ihre Schmerzen verschwunden. Weit gefehlt. Yang hypnotisiert Alice, die so gar nicht nach Chinatown zu passen scheint, angezogen in nettem Kostüm, gehüllt in einen dieser konventionellem Mantel, eine Frau, die eigentlich nur nach Manhattan passt. Yang setzt sie vor eine sich drehende Scheibe mit spiralförmigen schwarzen Linien und hypnotisiert sie – gegen ihren inneren Widerwillen. Und Alice phantasiert: Sie sieht Doug im Raum von Dr. Yang und erzählt ihm, sie wolle nicht länger nur Hausfrau und Mutter sein. Sie erzählt von einem Mann, der sein Kind auf dieselbe Schule schickt wie sie, und in den sie sich verliebt habe. Nein, natürlich habe sie sich nicht verliebt, denn das gehört sich nicht für eine Frau, die 16 Jahre verheiratet ist. Yang verschreibt ihr Kräuter für einen Tee – und nun erlebt Alice ihr erstes Wunder. Als sie Joe (Joe Mantegna), in den sie sich verliebt hat, wieder trifft, sprudelt es nur so aus ihr heraus. Alice flirtet so heftig mit Joe, dass der völlig sprachlos ist. „Ihre Augen sind wirklich voller Feuer”, sagt sie zu ihm. Und ihre „Freundin” Nina (Robin Bartlett) rät ihr, die sich für ihr Verhalten schämt, es wie alle Damen ihres Milieus zu tun: sich einen oder mehrere Liebhaber anzuschaffen.

Doch das ist nicht Alice. Alice – sie hatte alles aufgegeben, als sie Doug kennen gelernt hatte, wirklich alles, eigentlich sich selbst, ihre Träume, ihre Interessen, ihre beruflichen Pläne. Und sie hörte nicht auf ihre Schwester Dorothy (Blythe Danner), die Anwältin wurde und Alices Lebensstil von Anfang an kritisierte.

Es ist schon wunderbar und einzigartig, wie Mia Farrow dieses Mauerblümchen spielt, zu dem Alice langsam zu werden droht, dieses erwachsene Kind, das für Doug, der seit Jahren mit anderen Frauen schläft, nicht mehr als eine Haushälterin und ein Kindermädchen ist, eine Repräsentationsfigur für gesellschaftliche Anlässe, diese Erwachsene, die in der Unschuld eines Kindes eingesperrt ist und entsprechende feine Abwehrmechanismen entwickelt hat, um bloß keine Emotionen zu entwickeln.

Und doch ist in Alice noch etwas anderes, etwas Verdrängtes, was an die Oberfläche will, etwas, das drängt, ungeduldig ist, explodieren will, das in den Rücken und den Kopf fährt und ihr körperliche Schmerzen vorgaukelt, weil ihre Seele leidet, das einen schleichenden, aber kaum noch zu unterdrückenden Widerstandsgeist entfacht gegen den Widerwillen Dougs, seine Frau arbeiten oder eine Ausbildung machen zu lassen.

Wunderbar ist auch, wie Allen über die Figur des Dr. Yang die Geheimnisse in Alice lüftet, indem er Fiktionen in den Film einfließen lässt. Sechs Wunder darf Alice über die Kräuter des Dr. Yang erleben. Und diese sechs Wunder helfen ihr, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien. Sie darf beobachten, durch eines dieser Kräuter unsichtbar geworden, wie sehr Joe noch an seiner Ex-Frau Vicki (Judy Davis) hängt; sie trifft ihren Jugendfreund Ed (Alec Baldwin), der schon lange tot ist, als Geist wieder, der ihr zurät, ihr Verhältnis zu Joe und das zu Doug zu klären; sie raucht bei Dr. Yang Opium und phantasiert ihre Jugendzeit; andere Kräuter schärfen ihre Sinne dafür, in welchem Bereich sie ihre Kreativität entwickeln könnte.

Das alles ist mit einer unbeschreiblichen Sympathie für Alice inszeniert, einer kritischen Sympathie, einer sanften Zuneigung mit einem sarkastischem, aber eben nicht vernichtenden Blick, der Alice wie den Zuschauer die Augen öffnet und in den Bann zieht. Dieser Weg, den Alice durch die eigenen inneren Wirrungen geht, ist gepflastert mit Irrtümern und Fehlannahmen, auch über ihre Umgebung, ihre so genannten Freundinnen, und über ihre Neigungen. Sie meint, schreiben zu können, doch sie irrt – das ist nicht ihr Feld. Anfangs merkt sie gar nicht, wie abschätzig Doug sie behandelt, der sie für dumm hält und ihr einen Job in einem Strickwarenladen besorgen will. Zum mehr sei sie nicht fähig, sagt er ihr mehr oder weniger unverblümt ins Gesicht. Sie lässt sich gefallen, dass ihr Freundin Nancy (Cybill Shepherd) sie gnadenlos abblitzen lässt, als Alice ihr vorschlägt, Drehbücher zu schreiben.

Allen inszenierte „Alice” wie eine Art Mosaik, in dem sich nach und nach Baustein für Baustein zusammenfügt, Bausteine des Leidens, des Eingesperrtseins, aber eben auch solche der Befreiung, der Entwicklung von Bedürfnissen, des Zulassens von Gefühlen usw. Dass dies über Traumsequenzen, die an manchen Stellen real werden (etwa wenn Alice und Joe unsichtbar durch Manhattan laufen), oft humorvoll unterlegt wird, macht einen besonderen Reiz dieses Films aus. Zu diesen Mosaiksteinen zählt auch Alices (falscher) Blick auf ihre Schwester und ihre Eltern, ihre alkoholabhängige Mutter, deren Weg ein ganz ähnlicher wie der von Alice war, und ihren Vater, einen Langweiler, wie Dorothy ihn gegenüber Alice bezeichnet.

Als Joe Alice verkündet, er liebe seine Ex-Frau noch immer, ist Alice, trotz dieser Enttäuschung, stark genug, um ihren Weg heraus aus der Zwangsehe mit Doug zu gehen. Alice ist jetzt tatsächlich Alice – und niemand anders.

Joe Mantegna ist noch zu erwähnen, der diesem Joe, einem ruhigen, besonnenen, aber innerlich zerrissenen Saxophonisten, einen unnachahmlichen Charakter verleiht. Und natürlich Keye Luke als Dr. Yang, der diesem Wunderdoktor viel Humor, aber auch Ernsthaftigkeit abgewinnen kann.

© Bilder: MGM
Screenshots von der DVD.