Das Gesetz der Begierde (1986)
Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs (1988)
Fessle mich! (1989)
High Heels (1991)
Kika (1993)

Das Gesetz der Begierde
La ley del deseo
Spanien 1986, 102 Minuten
(OmU)

Regie und Buch: Pedro Almodóvar
Kamera: Ángel Luis Fernández
Ton: James Willis
Bauten: Javier Fernández
Kostüme: José María Cossio
Schnitt: José Salcedo

Hauptdarsteller: Eusebio Poncela (Pablo Quintero), Carmen Maura (Tina Quintero), Antonio Banderas (Antonio Benítez), Miguel Molina (Juan Bermúdez), Bibi Andersen (Mutter von Ada), Manuela Velasco (Ada), Fernando Guillén (Inspektor), Nacho Martínez (Arzt), Helga Liné (Mutter von Antonio), Germán Cobos (Priester), Fernando G. Cuervo (junger Polizist), Rossy de Palma (Fernsehmoderatorin), Agustín Almodóvar (Rechtsanwalt), Pedro Almodóvar (Verkäufer im Eisenwarenladen), Marta Fernández Muro (Groupie)

Wunschbilder vom anderen

Almodóvar bezeichnete »La ley del deseo« als einen Schlüsselfilm seiner Karriere. Über den Film wurde in Spanien eher geschwiegen. Eine nicht ausgesprochene Zensur ummantelte die Idee zu diesem Streifen. Öffentliche Gelder bekam Almodóvar nur wenig; er musste sogar einen privaten Kredit aufnehmen, um die Dreharbeiten zu finanzieren.

Inhalt
Der Filmregisseur Pablo (Eusebio Poncela) liebt den jungen Juan (Miguel Molina). Doch Juan schläft zwar mit Pablo, liebt ihn aber nicht, reist in den Süden, als Pablo gerade seinen neuen Film fertiggestellt hat. Pablo stürzt sich, um Juan zu vergessen, in sein nächstes Projekt, »La Voix humaine« von Cocteau, in dem seine Schwester Tina (Carmen Maura), die einzige Rolle spielen soll. Tina hatte sich in ihrer Jugend als Tino einer Geschlechtsumwandlung unterzogen, um ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem Vater haben zu können. Der hatte sie jedoch, nachdem seine Frau ihn wegen dieses Verhältnisses verlassen hatte und Vater und Tochter nach Marokko umgezogen waren, verlassen. Tina hatte seit diesem Tag kein Verhältnis zu einem Mann.

Pablo lebt mit seiner Tochter Ada (Manuela Velasco) zusammen, deren Mutter (Bibi Andersen) in der Welt herum tingelt. Als Cocteaus Stück aufgeführt wird, fängt der junge Antonio (Antonio Banderas) Pablo nach der Premiere ab und verführt ihn – seine erste homosexuelle Erfahrung. Antonio will Pablo für sich ganz allein. Als er einen Brief von Juan findet (den Pablo auf der Schreibmaschine vorformuliert geschrieben hatte und in dem Juan ihm seine Liebe so gesteht, wie Pablo es gerne möchte, den er Juan geschickt hatte, damit dieser ihn unterschreibt und zurückschickt), kann Antonio nur noch an eins denken: wie er den Konkurrenten los wird.

Als Antonio zu seiner Mutter (Helga Liné) abreist, schreibt Pablo ihm unter dem Namen Laura P. – einer Figur seines nächsten Films – einen Brief, in dem er ihm mitteilt, dass er Juan besuchen wird, um Antonio loszuwerden. Antonio jedoch kommt Pablo zuvor, stößt Juan von einer Klippe ins Meer und flüchtet zurück zu seiner Mutter, wo er das Hemd verbrennt, aus dem Juan während des Todessturzes eine Tasche abgerissen hatte.

Der Polizeiinspektor (Fernando Guillén) und sein junger, unerfahrener und leicht aufbrausender Kollege (Fernando G. Cuervo) verdächtigen zunächst Pablo, dann Tina des Mordes. Als Pablo auf der Rückfahrt von der Beerdigung Juans bei einem Autounfall das Gedächtnis verliert, macht sich Antonio an Tina heran, um sich Pablo wieder zu nähern. Tina glaubt, die erste und große Liebe doch noch in einem Mann gefunden zu haben. Doch als Pablo das Gedächtnis wiedererlangt, bekommt er schnell heraus, in wen sich Tina verliebt hat. Mit der Polizei eilt er zu seiner Wohnung, wo Antonio Tina und einen Polizisten als Geisel festhält. Unter der Bedingung, eine Stunde mit Pablo allein sein zu dürfen, lässt er die Geiseln frei, schläft mit Pablo ein letztes Mal und erschießt sich.

Inszenierung
Wie oft in seinen Filmen verlegt Almodóvar das Thema, die Idee des Films in einen Bereich, der unwirklich zu sein scheint. Schon die Anfangsszene, in der ein Regisseur einem jungen Mann vor der Kamera Anweisungen gibt, auf einem Bett sich den Po zu streicheln, zu onanieren und zu sagen, er wolle, dass der Regisseur ihn fickt, deutet auf das Thema stark hin: Die Begierde, dass der, den man liebt, einen so lieben soll, wie man es sich vorstellt.

Pablo lebt an seinem wirklichen Leben als leidenschaftliches Subjekt »vorbei«. Er inszeniert sein Leben wie seine Filme. Er will, dass Juan ihn so liebt, wie Pablo sich das vorstellt, diktiert ihm einen entsprechenden Brief, den Juan unterschreiben soll. Er erscheint als bindungsunfähiger Mensch, der jeden nur so an sich herankommen lässt, wie er es wünscht, was aber niemand letztlich ertragen kann. Juan respektiert ihn, schläft auch mit ihm, kann ihn aber nicht wirklich lieben, weil er sich dann Pablos Vorstellungen völlig unterwerfen müsste. Als Pablo auf Antonio stößt, begegnet er letztlich seinem Spiegelbild. Während Pablo sein Leben mit inszenierten Wunschbildern pflastert, formuliert Antonio einen totalen Besitzanspruch gegenüber Pablo, für dessen Durchsetzung er sogar mordet.

Vordergründig erscheint Pablo nur als Verlierer, als Opfer. Doch in Wirklichkeit ist er auch derjenige, der alle anderen mit ins Verderben reißt. Seine Frau hat ihn verlassen. Seine Tochter Ada findet nur im festen Glauben einen gewissen Halt. Als ihre Mutter sie besuchen kommt, probt Tina ihre Rolle in Cocteaus Stück »La Voix humaine« und Ada singt das Chanson »Ne me quitte pas« von Jacques Brel: Beide weinen, schreien: Verlass mich nicht, komm zurück.

Pablo, Tina und Ada bilden eine Art Familie, eine von der klassischen Familie scheinbar völlig differente und doch in vielerlei Hinsicht ähnliche Gemeinschaft, in der die Konflikte, die zu lösen wären, so gut wie immer zwischen den falschen Personen ausgetragen werden. Tina kann ihren Vater nicht vergessen. Sie wollte sich die Liebe ihres Vaters erkaufen, sie hat in Kauf genommen, sich von ihm missbrauchen zu lassen, sogar sich zur Frau operieren zu lassen, um irgendwo ein Stück Vaterliebe zu ergattern – und der verließ sie.

Der Verlust des Vaters, der mit Tino / Tina ihn und die Mutter verlassen hatte, machte Pablo zu einem Menschen, der nicht fähig ist, wirklich zu lieben und die Liebe eines anderen zu akzeptieren. Sein Leben als Regisseur ist jedenfalls auch und zu einem großen Teil eine Flucht vor der Wirklichkeit, deren Problemen er sich nicht stellen kann. Sogar sein neuestes Stück soll das Leben – nämlich das von Tina – so rekonstruieren, wie Pablo sich das vorstellt. Tina protestiert dagegen, will ihre Biografie nicht öffentlich machen, einerseits zu Recht, aber auch aus Angst vor der Wahrheit.

Als Antonio sich erschossen hat, nimmt Pablo die Schreibmaschine, die zum Symbol seiner konstruktivistischen Flucht geworden war, und schmeißt sie durch das geschlossene Fenster auf die Straße – Sinnbild für die Kapitulation seiner selbst.

Ada  wird in den Strudel der verqueren Begierden hineingerissen und flüchtet sich in das einzige, was noch bleibt: in das Gebet.

Schauspieler
Eusebio Poncela spielt den Filmregisseur in seiner ganzen Ambivalenz als einerseits ruhigen, fast besonnenen, überlegten Mann, nämlich als Konstrukteur, andererseits in seiner ganzen Hilflosigkeit den wirklichen Problemen und Konflikten in seinem Leben und dem seiner unmittelbaren Umgebung gegenüber überzeugend. Carmen Maura ist hier in einer ihrer besten Rollen zu sehen. Sie schafft es tatsächlich, sich z.B. so bewegen wie ein ehemaliger Mann, der sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat. Antonio Banderas spielt seine Rolle leidenschaftlicher als in anderen Filmen, etwa in »Matador«.

Fazit
Almodóvars »La ley del deseo« ist wirklich ein Schlüsselfilm, der konsequent schon auf »Mein blühendes Geheimnis«, »Live Flesh« und »Alles über meine Mutter« hindeutet. Es gelang dem spanischen Regisseur auch mit diesem Film, die komplizierten Beziehungsstrukturen in einer imposanten, bilder- und symbolreichen Sprache darzustellen und aufzubrechen.



Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs
Mujeres al borde de un ataque de nervios
Spanien 1988, 90 Minuten
(OmeU)

Regie: Pedro Almodóvar
Kamera: José Luis Alcaine
Ton: Guilles Orthion
Bauten: Félix Murcia
Schnitt: José Salcedo
Kostüme: José María Cossio
Musik: Bernardo Bonezzi

Hauptdarsteller: Carmen Maura (Pepa Marcos), Antonio Banderas (Carlos), Julieta Serrano (Lucia), Rossy de Palma (Marisa), María Barranco (Candela), Kiti Manver (Paulina Morales), Guillermo Montesinos (Taxifahrer), Chus Lampreave (Portera Testiga de Jehová), Yayo Calvo (Padre de Lucia), Loles León (Sekretär), Ángel de Andrés López (Polizist), Fernando Guillén (Iván)

Drama, Drama, Drama!

Eine der wohl bekanntesten Komödien Almodóvars, in der er alle Register seines Könnens zieht und es ihm gelingt, die ganze Schauspielergarde so richtig auf Trab zu bringen. Wer diese Komödie bei nächster Gelegenheit verpasst, müsste sich eigentlich ärgern.

Inhalt
Wenn es nur die Liebeserklärungen gewesen wären, die Iván (Fernando Guillén) als Synchronsprecher den schönsten Schauspielerinnen der Welt am Mikrofon gemacht hätte – nein, nach einer langjährigen Ehe mit Lucia (Julieta Serrano) will er nun auch Pepa (Carmen Maura), ebenfalls Synchronsprecherin, nach etlichen Jahren verlassen und hinterlässt ihr auf dem Anrufbeantworter die Nachricht, sie solle seine Sachen in einen Koffer packen und bei der Hausmeisterin (Chus Lampreave) abstellen.

Pepa ist verzweifelt, will in der gemeinsamen Wohnung nicht mehr leben, schreibt sie zur Vermietung aus und erleidet während ihrer Arbeit einen Ohnmachtsanfall. Pepa wartet auf einen Anruf von Iván, doch der meldet sich nicht; sie sucht halb Madrid nach ihm ab, meldet sich bei Lucia, von der sie nur eine Abfuhr erteilt bekommt, wird aggressiv, schmeißt nacheinander Telefon und Anrufbeantworter durch die Fensterscheibe usw.

Doch das Drama wird noch viel komplizierter. Nicht nur, dass sich Lucias Sohn Carlos (Antonio Banderas) und dessen Freundin Marisa (Rossy de Palma) bei ihr als Wohnungsinteressierte melden. Zu allem Unglück ist ihre nervige, hypochondrische Freundin Candela (María Barranco) auch noch in irgendeine verrückte Geschichte mit Terroristen verstrickt. Die feministische Anwältin Paulina Morales (Kiti Manver) tut ein übriges, um die Situation zu verkomplizieren – bis zwei Polizisten bei Pepa erscheinen ...

Inszenierung
Ich will über den Film nichts weiter verraten. Denn die – zweifellos bis ins letzte Detail durchkonstruierte – Geschichte ist von schrägen Charakteren, steigender Dramatik und Humor nur so durchtränkt. Nicht nur Slapstick-Elemente durchziehen den Streifen; auch eine geradezu pralle Optik, in die auch die Werbung, die Pepa auch macht, mit einbezogen wird, sorgt dafür, dass man sich kaum noch auf dem Kinosessel halten kann und sich am liebsten vor Ort in das Getümmel werfen will. Jede einzelne Figur des Films ist gut durchdacht und in ihrer Charakteristik perfekt konstruiert.

Es scheint nur um eines zu gehen: Iván, Iván und nochmals Iván, der das nur scheinbar geordnete Leben von Pepa und Ex-Frau Lucia völlig durcheinandergebracht hat und alle an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treibt, aber eben nur an den Rand. Denn das Entscheidende ist es nicht, in der Nervenklinik landen zu wollen, sondern das Drama um Iván zu durchleben, ja weiterzutreiben, nur am Rand des psychischen Kollapses zu stehen, aber nicht in den Abgrund zu springen, sondern dem Leben durch die Inszenierung des eigenen Dramas einen scheinbaren oder tatsächlichen Sinn zu geben. Alles dreht sich um einen Mann? Noch dazu keinen besonders attraktiven? Nein, alles dreht sich um das Drama, das Theatralische, bis zum Endspurt am Flughafen, über den ich hier selbstverständlich nichts verraten werde, obwohl es mich geradezu danach drängt, ein Endspurt, der alles in sich zusammenfallen lässt, vorübergehend oder endgültig, das bleibt offen – bis zur nächsten Inszenierung des nächsten Dramas?

Mit Wortwitz und Situationskomik hat Almodóvar eine von Anfang bis Ende spannende und humorvolle Komödie inszeniert, die bis in feine Details durchdacht ist (etwa die Ohrgehänge von Candela: Espressomaschinen!) und in der sich verschiedene Handlungsebenen miteinander zu einem Ganzen verschränken.

Schauspieler
Carmen Maura, die Pepa, was soll man zu dieser Schauspielerin noch sagen? Sie wirft sich hinein ins Getümmel, das sie zum größten Teil selbst gestaltet, was ihr aber in keiner Weise oder nur selten bewusst zu sein scheint, behält aber in kritischen Situationen, in denen sich das ganze Theaterstück in einem riesigen Knall in Luft aufzulösen scheint, die Oberhand – und treibt das Drama weiter: nächster Akt. Die Maura hat schlagfertigen, trockenen Humor, kann furchtbar überzeugend leiden und in nächster Sekunde kräftig austeilen.

Antonio Banderas als oberflächlich schüchtern-verhaltener Jüngling entpuppt sich als punktuell lustbesessener Mann. Banderas, äußerlich kaum wiedererkennbar, meistert den Spagat zwischen  dieser Schüchternheit und seiner Begierde meisterhaft.

Julieta Serrano als Ex-Ehefrau von Iván, rachelüstern, aggressiv und eben auch immer am Rande des Abgrunds, kann als verletzte Kleinbürgerliche, die es bis zu Mordplänen treibt, voll überzeugen.

María Barranco als immer leidender Hypochonder, als schwache Frau, die mal wieder enttäuscht wurde, als sie von der großen Liebe ihres Lebens träumte, aber dennoch bereit ist, alles zu tun, um ja nicht in Polizeigewahrsam zu kommen, spielt das kleine nervende Luder sehr sympathisch und mit viel Humor.

Zu erwähnen wäre noch Chus Lampreave als Hausmeisterin und Zeugin Jehovas, der punk-blonde Taxifahrer Guillermo Montesinos, der offenbar um alles in der Welt Kohle machen will und sein Taxi zum Kiosk ausgebaut hat, sowie Loles León als Sekretärin, die mit allerlei zynischem Spott ihre schwierige Aufgabe meistert – wieder einmal hervorragend besetzte »Neben«rollen.

Fazit
»Mujeres al borde de un ataque de nervios« ist eine Komödie voll des gutmütigen, aber auch  beißenden Humors, eine Liebeserklärung – wie oft bei Almodóvar – an die Frauen, aber auch Sozialsatire. Auf unglaublich wortwitzige und situationskomische Art vermittelt der Regisseur (wieder einmal), wie wir alle das Drama in unserem Leben selbst schreiben. Er lässt offen, ob wir das wirklich brauchen. Auch dieser Film ist in gewisser Weise – obwohl bis ins Detail durchdacht – halb-dokumentarisch. Almodóvar hält mit der Kamera, ohne Scheuklappen, feste drauf. Einer der wenigen Filme, die ich bestimmt noch einmal anschauen würde und werde.



Fessle mich!
¡Átame!
Spanien 1989, 101 Minuten
(dt. Fassung)

Regie und Buch: Pedro Almodóvar
Kamera: José Luis Alcaine
Ton: Goldstein & Steinberg
Bauten: Ferrán Sánchez
Kostüme: José María Cossio
Schnitt: José Salcedo
Musik: Ennio Morricone

Hauptdarsteller: Victoria Abril (Marina), Antonio Banderas (Ricky), Francisco Rabal (Máximo Espejo, der Regisseur), Loles León (Lola), Julieta Serrano (Alma), María Barranco (Berta), Rossy de Palma (Mädchen auf der Vespa), Lola Cardona (Direktorin der Nervenheilanstalt), Francisca Caballero (Mutter von Marina), Agustín Almodóvar (Apotheker), Manuel Bandera (Tangotänzer), Virginia Díez (Tangotänzerin)

Die Unsicherheit der Liebe

Almodóvars Meisterstück aus dem Jahr 1989 könnte auch heißen: »Ich bin von Dir gefesselt. Bist Du es auch von mir? Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Du von mir ebenso gefesselt bist!« Wie viele seiner Filme ist auch »¡Átame!« als Bekenntnis zum Sadomasochismus oder als Verherrlichung von Gewalt gegen Frauen gründlich missverstanden worden. In den USA erhielt der Film sogar die Kategorie »nicht jugendfrei«. Andererseits gelang Antonio Banderas mit diesem Streifen der Durchbruch auf dem Weg nach Hollywood.

Inhalt
Der 23jährige Ricky (Antonio Banderas) wird aufgrund einer richterlichen Entscheidung aus der Psychiatrie entlassen, wo es ihm nicht gerade schlecht ging. Vor allem die Leiterin der Anstalt (Lola Cardona) will ihn eigentlich nicht entlassen, weil sie seine sexuellen Dienste sehr gern in Anspruch genommen hat.

Mit drei Jahren wurde Ricky Vollwaise, war immer allein und durchlief eine Sozial-Reparatur-Anstalt nach der anderen. Nun hat er nur noch ein Ziel: er will eine Frau, Kinder und Arbeit. Die Frau ist auch schon ausgesucht: die ehemalige Pornodarstellerin Marina (Victoria Abril), die derzeit für den an den Rollstuhl gefesselten Regisseur Máximo (Francisco Rabal) einen Horrorfilm unter dem Titel »Mitternachtsgespenst« dreht. Vor Jahren hatte Ricky für Geld mit Marina geschlafen und sich in den Kopf gesetzt: Sie muss seine Frau werden.

Ricky geht systematisch vor: Er stiehlt in der Garderobe Geld, Marinas Hausschlüssel und einige andere nützliche Gegenstände und verschafft sich nach den Dreharbeiten gewaltsam Zutritt zu ihrer Wohnung. Als sich Marina wehrt, schlägt Ricky zu. Als sie nicht aufhört zu versuchen, ihm zu entkommen, fesselt er Marina ans Bett und erklärt ihr: »Ich habe dich entführt, um dir die Möglichkeit zu geben mich gut kennen zu lernen, weil ich sicher bin, dass du dich in mich verlieben wirst, genauso wie ich mich in dich verliebt habe. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und bin ganz allein auf der Welt. Ich wäre gerne ein guter Ehemann für dich und ein guter Vater für deine Kinder.« Marina ist entsetzt und sucht weiterhin nach einer Möglichkeit zu entkommen.
Ricky besorgt Marina starke Schmerzmittel, später sogar Drogen gegen ihre Zahnschmerzen, lässt sich von einer Dealerin (Rossy de Palma) und ihren Freunden brutal zusammenschlagen, nachdem er ihr Drogen gestohlen hat, sorgt sich um einen tropfenden Wasserhahn, bettet Marina in die nebenan liegende Wohnung eines verreisten Nachbarn um, als man nach Marina sucht. Marinas Schwester Lola (Loles León), die als Produktionsleiterin für Máximo arbeitet, soll in dieser Wohnung ab und zu nach dem rechten sehen. Kurz: Ricky verhält sich, als ob er der treusorgende Ehemann von Marina wäre.

Obwohl Marina sich von den Fesseln befreien kann, kann sie aus der Wohnung nicht rechtzeitig entkommen. Ricky kommt – brutal zusammengeschlagen – zurück, Marina versorgt ihm seine Wunden und schläft mit ihm.

Erst als er nach einem Auto sucht, das er stehlen will, um mit Marina in sein Heimatdorf zu fahren, kann Lola ihre Schwester befreien und beide können fliehen. Ricky fährt allein in das Dorf. Doch Marina vermisst ihn und fährt ihm mit Lola nach ...

Inszenierung
Man mag es kaum glauben, aber »¡Átame!« ist ein durchweg optimistischer Film mit einem ebenso optimistischen Ausgang. Das Geheimnis dieses Films besteht darin, das Thema – natürlich wieder Ehe, Familie, Liebe, Beziehung – in eine Situation einzubetten, in die es nicht hineingehört. Nicht nur die Sehnsucht nach einer liebenden Frau, auch die kleinen Dinge – Wasserhahn reparieren, Arznei besorgen, möglichst weiche Fesseln und hautverträgliches Klebeband benutzen – werden aus einem »normalen« Kontext in einen völlig anderen, diametral entgegengesetzten Zusammenhang gestellt: die Situation einer Entführung mit Gewalt, Fesseln und Knebel.

Auch die Personen sind in gewisser Weise extrem angelegt, also keine Durchschnittsmenschen mit einer Durchschnittsbiografie. Marina war Pornodarstellerin, rauschgiftabhängig, Ricky hat sein Leben lang keine Eltern gehabt und durchlief eine Sozialstation nach der anderen. Wenn er jetzt seinen Wunsch nach Familie und Liebe gewaltsam erzwingen will, so kontrastiert dies lediglich die extreme emotionale Situation. »Ich verstehe sein Hauptproblem sehr gut: die Schwierigkeit des Liebenden, dem anderen zu beweisen, dass er ihn liebt, seine Unsicherheit gegenüber dem anderen, von dem er nie weiß, ob er seine Gefühle richtig versteht, eine Unsicherheit, die es in der Liebe immer gibt. Ich muss jeden Tag hören, dass ich geliebt werde, und jeder Tag ist etwas Neues, nie sicher. Die Liebe kann von einem Tag zum anderen verschwinden, sie ist wie ein Wunder, und Wunder bedürfen beständig der Bestätigung.« (1)

»¡Átame!« zeugt von dem starken Zweifel, ja der Ablehnung der klassischen Vorstellung von Familie, und dieser Zweifel ist natürlich noch stark genährt von der Franco-Zeit. Auch in diesem Streifen nähert sich Almodóvar einem anderen Bild von Familie. Da ist die selbstbewusste Lola, die ihre Schwester liebt und sich deshalb ständig um sie sorgt, weil sie befürchtet, Marina könne wieder den Drogen verfallen; dann Ricky, der auf der Suche nach einer Frau zunächst das Stadium der Suche nach einer Mutter durchlebt, die er nie gehabt hat; und Marina, deren Beziehungen zu Männern immer oberflächlich und flüchtig waren. Ihre Geschichte im Film ist so etwas wie die Geschichte der Bildung einer anderen Art von Familie.

Máximo, der durch einen Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselte Regisseur, der nicht mehr lange zu leben hat, ist der Kontrast zu dieser neuen Familie. Er ist noch verhaftet in der alten Mentalität, verwirft einzelne Szenen seines Horrorfilms immer wieder, kommt nicht zum Ende, eine gescheiterte Existenz, für den der Traum von der Liebe sich im Betrachten von alten Pornovideos mit Marina erschöpft. Er ist von der Sehnsucht getrieben, Marina zu besitzen, weil sie gut aussieht. Als Lola nach Abschluss der Dreharbeiten auf einer Feier des Filmteams singt und tanzt, sagt er zu ihr, sie habe einen schönen Arsch, wenn nur nicht ihr Gesicht wäre. Máximo ist der Prototyp des Mannes, der von jeder Frau ihr tatsächlich oder vermeintlich Bestes will, der das für sich allein als sein Besitz herausschneiden will. Er ist der eigentlich Gefesselte. Und er wird seine Fesseln nie wieder ablegen können.

Fazit
Victoria Abril, Antonio Banderas und Loles León gehen – wie in Almodóvars Filmen unvermeidlich – in ihren Rollen auf. Sie passen. In gewisser Weise ist »Fessle mich!« eine Vorstufe zu »Alles über meine Mutter«. Beide Filme sind sich nicht nur in ihrer Thematik sehr ähnlich. Auch in »¡Átame!« gibt es diese Kraft der Frauen – bis hin zur Kraft des Verzeihens. In »Alles über meine Mutter« sind Manuela und der kleine Esteban das Produkt und Vehikel der Hoffnung, in »¡Átame!« die Familie Marina, Ricky und Lola.

(1) Pedro Almodóvar, Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ein Gespräch mit Frédéric Strauss, Frankfurt am Main 1998, S.118



High Heels
Tacones lejanos
Spanien 1991, 113 Minuten
(OmeU)

Regie und Buch: Pedro Almodóvar
Kamera: Alfredo Mayo
Ton: Jean-Paul Mugel
Bauten: Pierre-Louis Thevenet
Kostüme: José María Cossio
Schnitt: José Salcedo
Musik: Ryuichi Sakamoto

Hauptdarsteller: Victoria Abril (Rebeca), Marisa Paredes (Becky del Páramo), Miguel Bosé (Untersuchungsrichter Domíguez / Hugo / Letal), Pedro Díez del Corral (Alberto), Feodor Atkine (Manuel), Bibi Andersen (Chon), Miriam Díaz Aroca (Isabel), Nacho Martínez (Juan, Vater von Rebeca), Cristina Marcos (Paula), Ana Lizaran (Margarita), Rocío Muñoz (Rebeca als Kind), Mairata O’Wisiedo (Mutter des Richters), Javier Bardem (Inspizient  TV)

Kinder und Erwachsene

Wenn Almodóvar ein realistisches Melodram ohne Schnörkel gefilmt hat, dann ist es sicherlich »Tacones lejanos«. In diesem Streifen verbindet er seinen authentischen Stil mit den Gesetzen des melodramatischen Kinos.

Inhalt
Manuel (Feodor Atkine) leitet einen Fernsehsender, in dem seine wesentlich jüngere Frau Rebeca (Victoria Abril) als Nachrichtensprecherin tätig ist. Rebeca ist 27, und vor fünfzehn Jahren verließ ihre Mutter Becky (Marisa Paredes) sie, um in Nordamerika Karriere zu machen. Nun kehrt sie nach Spanien zurück, und ihre Tochter erwartet sie am Flughafen und erinnert sich an die Vergangenheit.

Ihre Mutter hatte ihren Vater (Nacho Martínez) verlassen, mit Alberto (Pedro Díez del Corral), aber auch mit Manuel ein Verhältnis gehabt. Alberto wollte Becky daran hindern, ins Ausland zu gehen, um als Sängerin Karriere zu machen. Sie hatte ihrer Tochter versprochen, in Mexiko schnell einen Film zu drehen, der sie berühmt mache, um dann zu Rebeca zurückzukehren. Daraufhin hatte Rebeca heimlich die Schlaftabletten Albertos, den sie eh nicht mochte und der sie nicht mochte, mit anderen Pillen vertauscht, um ihre Mutter gehen zu lassen und um sie so schnell wie möglich wiederzusehen. Doch Becky bliebt 15 lange Jahre. Sie ahnt bei ihrer Rückkehr nichts von dieser Handlung ihrer Tochter Jahre zuvor.

Rebeca heiratete Manuel, ohne ihrer Mutter von der Identität ihres Ehemanns, des Ex-Geliebten Beckys, zu erzählen. Manuel selbst will sich scheiden lassen, obwohl Rebeca nicht zustimmt. Er hat ein Verhältnis mit Isabel (Miriam Díaz Aroca), die Rebecas Nachrichten für Taubstumme übersetzt.

Rebeca führt ihre Mutter – gegen den Willen Manuels – in ein Transvestiten-Lokal, in dem Letal (Miguel Bosé) auftritt und Becky als Sängerin kopiert. Er liebt Rebeca, verführt sie in seiner Garderobe. Ein weiteres Ereignis mit Folgen.

Becky ist kaum ein paar Tag wieder in Madrid, als plötzlich Manuel erschossen auf dem Sofa gefunden wird. Rebeca, die am gleichen Abend – trotz dieses Vorfalls – die Nachrichten im Fernsehen liest, verkündet vor dem Fernsehpublikum, sie habe Manuel erschossen. Untersuchungsrichter Domíguez (Miguel Bosé) ermittelt; er gibt vor, nicht an die Schuld Rebecas zu glauben; sie wolle wohl jemanden schützen. Doch auch Domíguez hat ein Geheimnis zu verbergen, das ihn dazu bewegt, Rebeca vor der Verurteilung zu schützen ...

Inszenierung
Almodóvar inszenierte, wiederum in grell-farbigen Bildern, die zeitweise an eine Mischung aus Comic und Werbung erinnern, mit »High Heels« sein traurigstes, dem Realismus verhaftetes Melodram. Es handelt sich nicht um ein Rührstück à la Hollywood. Die Tränen, die fließen, sind nicht aus theatralischer Effekthascherei geschöpft; es sind Tränen, die die Wirklichkeit schreibt. »High Heels« ist letztlich eine Dreiecksgeschichte zwischen Mutter, Tochter – und Männern. Almodóvar interessieren weinende Frauen, aber nicht als Momentaufnahme: »Ich muss zugeben, dass kein Schauspiel mich als Regisseur so fasziniert wie das einer Frau, die weint. Mich fasziniert alles, was zu den Tränen führt, der ganze Weg, den die Frau zurücklegt, ehe sie weint.«

»High Heels« ist ein Paradebeispiel für die Umsetzung dieses Interesses. Der Film veranschaulicht auf eine bestürzende Art, wie sich aus einer Trennung wie der zwischen Becky und Rebeca, für die die Mutter verantwortlich zeichnet, ein Drama entwickelt. Mutter und Tochter, fünfzehn Jahre lang getrennt, lieben sich; Rebeca erzählt ihrer Mutter, dass sie Becky zeitweise gehasst hat, doch sie selbst in diesem Hass für das Verlassen-Worden-Sein  geliebt hat. Becky bekennt sich für einen Mord schuldig, der die (verquere) Rache an den Männern dokumentiert, die ihre Mutter suchte und fand und die ihr Leben fast zerstört hätten. Rebeca wählt sich nicht nur den gleichen Typ von Mann, sondern auch noch einen, der ihre Mutter ebenso benutzt hat wie jetzt sie.

Schauspieler
Es ist immer wieder erstaunlich, wie es Almodóvar gelingt, insbesondere die Schauspielerinnen in seinen Filmen in ihren Rollen aufgehen zu lassen. Victoria Abril und Marisa Paredes ist jede Gefühlsregung, jeder Gedanke am Gesicht abzulesen. In der Anfangsszene, als Rebeca auf ihre Mutter im Flughafengebäude wartet, ist der ganze Schmerz ihrer Kindheit zu spüren, ohne dass sie auch nur ein Wort zu sagen braucht.

Fazit
Almodóvar lässt dem Zuschauer keine Hintertür offen, aus der er vor der Dramatik der Geschichte fliehen könnte; er erzählt ohne rosarote Brille, nüchtern, realistisch, dramatisch. Wegsehen, Übersehen ist nicht zulässig. Er macht aber nicht nur den aufgestauten, angesammelten Schmerz der Familientragödie sichtbar, sondern eben auch die diffizile Geschichte dieses Leids. Eine Hintertür gibt es in diesem Film nur für Rebeca; ihr gilt Almodóvars ganzes Mitleiden. Der Mord an Manuel gewinnt – wie in jedem Film des spanischen Regisseurs – eine schier unbestreitbare Logik aus der Geschichte der Handelnden. »High Heels« – auch ein Streifen ohne Lehrhaftigkeit oder Besserwisserei, dokumentarisch und dramatisch in einem.



Kika
Kika
Spanien 1993, 117 Minuten

Regie und Buch: Pedro Almodóvar
Kamera: Alfredo Mayo
Ton: Jean-Paul Mugel
Bauten: Javier Fernández, Alain Bainée
Kostüme: Jean-Paul Gaultier und José María Cossio, in Zusammenarbeit mit Gianni Versace
Schnitt: José Salcedo

Hauptdarsteller: Verónica Forqué (Kika), Alex Casanova (Ramón), Rossy de Palma (Juana), Peter Coyote (Nicholas Pierce), Victoria Abril (Andrea Caracortada), Santiago Lajusticia (Pablo Bazzo), Anabel Alonso (Amparo), Bibi Andersen (Susana, die schöne Unbekannte), Charo López (Mutter von Ramón), Francisca Caballero (Doña Paquita), Agustín Almodóvar (Arbeiter), Manuel Bandera (Mann)

Liebe und Mitgefühl?

Almodóvar äußerte sich zu »Kika« u.a. wie folgt: »Der Film ist wie eine Collage strukturiert, wie ein radikales Puzzle. Die verschiedenen Bestandteile sind durch die Türen, die Fenster, die Stockwerke der Wohnblocks miteinander verbunden. In dieser Welt gibt es nur den Augenblick.« Hier geht es um die Augenblicke v.a. von Kika und Ramón, einem völlig ungleichen Paar.

Inhalt
Kika (Verónica Forqué) ist Maskenbildnerin, Ramón (Alex Casanova) Fotograf. Beide glauben sich zu lieben, sind aber grundverschieden. Während Kika lebenslustig, positiv dem Leben gegenüber eingestellt zu sein scheint, ist Ramón in sich verschlossen und leidet unter dem Tod seiner Mutter (Charo López), die Selbstmord verübt hat. Sie lebte mit dem amerikanischen Schriftsteller und Stiefvater Ramóns Nicholas (Peter Coyote) zusammen, der heimlich ein Verhältnis mit Kika hat, aber auch mit Kikas bester Freundin Amparo (Anabel Alonso). Ramón wiederum sieht sich ständigen Belästigungen seiner Ex-Freundin Andrea (Victoria Abril) ausgesetzt, die es nicht verwinden kann, dass er sich von ihr vor Jahren getrennt hat. Und dann ist da noch Juana (Rossy de Palma), das Dienstmädchen im Hause Kikas und Ramóns, die in Kika verliebt ist und daraus auch kein Hehl macht. Sie ist die Schwester des Ex-Pornodarstellers Pablo (Santiago Lajusticia), der wegen Vergewaltigung verurteilt wurde und jetzt aus dem Gefängnis geflohen ist, um bei Juana Unterschlupf zu suchen.

Keiner weiß über die Aktivitäten des anderen so richtig Bescheid, am wenigsten Ramón über die anderen. Dann taucht auch noch eine unbekannte Schöne auf (Bibi Andersen), die Nicholas von früher zu kennen scheint.

Als Pablo bei Juana auftaucht, sieht er die schlafende Kika und fällt über sie her, vergewaltigt sie. Doch nicht nur das. Die intimen Aktivitäten von Nicholas und die Vergewaltigung von Kika tauchen plötzlich auf Videobändern auf. Und Andrea, die für das Fernsehen eine Reality-Show  produziert, in der es vor allem um Sexualverbrechen und Mord geht, lässt die Vergewaltigung Kikas über den Sender laufen ...

Inszenierung
In zum Teil grellen Farben erzählt Almodóvar eine Geschichte von Liebe und Mitgefühl, oder besser: von der Abwesenheit dieser Gefühle. So gut wie alle Personen in diesem Streifen sind  Egozentriker, dazu noch welche, die nicht einmal sich selbst mögen oder dies jedenfalls nur meinen. Kika, die nach außen lebenslustig und voller Energie erscheint, ist ein Mensch, den man vielleicht als unbedarft und völlig naiv beschreiben könnte. Ramón wälzt sich in Selbstmitleid über den Tod seiner Mutter, die ihn nicht einmal geliebt hat, und benutzt Kika letztlich als Bild  von der Liebe, die ihm als Sohn nicht zuteil wurde. Während er mit Kika schläft, reproduziert er diese Bilder: mit einer Sofortbildkamera. Nicholas wechselt Frauen wie Hemden; wenn er sie nicht mehr will, schreckt er auch vor Gewalt nicht zurück. Andrea lebt in ihren Rachegedanken und ihre Tätigkeit in der Reality-Show nutzt sie dazu weidlich aus: Alles, was irgendwie nach Mord in Verbindung mit Sex und Beziehungen steht, schleift sie vor die Kamera.

Nur Juana steht offen zu dem, was sie denkt und fühlt – wenigstens das –, wenn sie auch an ihrer Zuneigung zu Kika scheitert. Sie will ihrem geistig minderbemittelten Bruder Pablo helfen, auch wenn sie nicht weiß, was sie dazu tun soll.

Almodóvar erzählt diese Geschichte auf – man kann schon sagen – gewohnte Art und Weise in einer gelungenen Mischung aus Drama und Komödie. Er überspitzt die egozentrischen Charaktere und bis zum Verbrechen neigenden Verhaltensweisen seiner Personen fast bis zur Absurdität, aber nur fast.

Die Vergewaltigungsszene, in der Pablo mit dem Messer an Kikas Gesicht auf ihr liegt, ist mehr als grotesk. Pablo will seinen »Rekord« brechen: vier Orgasmen hintereinander. Kika will »das Ganze« schnell hinter sich bringen. Sie wehrt sich zwar gegen den ungebetenen Gast, aber letztlich nicht, weil sie vergewaltigt wird, sondern weil ihr das im Moment gerade »unangenehm« ist. Als dann zwei Polizisten versuchen, Pablo von Kika herunter zu reißen, misslingt dies zunächst, so dass der eine Polizist äußert, vor dem Orgasmus sei das wohl unmöglich, man solle sich darauf vereinbaren, dass er nach dem dritten Orgasmus aufsteht. Kika war diese Vergewaltigung zwar unangenehm; doch sie vergisst diesen Vorgang so schnell, als ob es sich lediglich um einen nicht weiter erwähnenswerten Streit gehandelt hätte.

Wenn Almodóvar vom Augenblick spricht, in dem alle seine Personen leben, so könnte man auch sagen: Sie sind völlig außerstande, in irgendeiner Weise zu reflektieren, was sie tun und was geschieht. Sie leben sozusagen an der brüchigen Oberfläche ihrer eigenen seelischen Verfassung, von der sie keine Ahnung haben. Selbst Ramón, der sich selbst wahrscheinlich für ehrlich und liebesfähig hält, entpuppt sich als Voyeur seiner eigenen Unzulänglichkeit und der der anderen.

Die Katastrophe in einem solchen Beziehungsgeflecht bahnt sich unaufhaltsam an. Der Mord ist nur der logische Schlusspunkt einer Welt, in der nur der Augenblick zählt und die Verletzungen der Vergangenheit nur als Legitimation künftiger Handlungen von Menschen herhalten, die zur Reflexion unfähig sind. Der Mord ist »nur« der Versuch, die Folgen des eigenen Handelns ungeschehen zu machen, ist Ersatz für die Unfähigkeit zur Reflexion.

Bei der Auswahl seiner Schauspieler hatte Almodóvar wieder einmal ein »gutes Händchen«. Viele von ihnen wie Verónica Forqué, Victoria Abril und Rossy de Palma spielen auch in anderen seiner Filme.

Fazit
Fragt man sich am Schluss des Films, was von Liebe und Mitgefühl übrig geblieben ist, lautet die Antwort deutlich und klar: Nichts, den es war auch anfangs nichts da. Almodóvar durchleuchtet seine Handelnden, reißt ihr Verhalten am Beziehungsgeflecht regelrecht auf, lässt die Kamera skrupellos offenlegen. Aber er tut dies nicht mit Verachtung, Verurteilung oder Besserwisserei. Er verbleibt, bei allem, was seine Personen auch tun, in einer bemerkenswerten Sympathie zu ihnen. Auch die groteskenhaften Übertreibungen und der Humor haben keinen anderen Zweck.

»Kika«, heißt es, sei nicht Almodóvars bester Film. Das habe ich anders empfunden. Gerade in »Kika« wird – wenn man genau hinschaut – die »Welt des Augenblicks« in einer geradezu erschreckenden Weise offengelegt.


Almodóvar I
Almodóvar III

Das Gesetz der Begierde
Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs
Fessle mich
High Heels
Kika