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Mein blühendes Geheimnis La Flor de mi Secreto Spanien: 1995, 103 Minuten (OmU)
Regie und Buch: Pedro Almodóvar Kamera: Affonso Beato Ton: Bernardo Menz Bauten: Wolfgang Burmann Kostüme: Hugo Mezcua Schnitt: José Salcedo Musik: Alberto Iglesias
Hauptdarsteller: Marisa Paredes (Leo Macías), Juan Echanove (Ángel), Carmen Elias (Betty), Imanol Arias (Paco), Rossy de Palma (Rosa, Schwester von Leo), Chus Lampreave (Jacinta, Mutter von Leo), Manuela Vargas (Blanca), Joaquín Cortes (Antonio), Kiti Manver (Manuela), Juan José Otegui (Tomás), Gloria Muñoz (Alicia), José Palau (junger Junkie, Sohn von Alicia)
Der Weg aus der Einsamkeit
Frauen, die weinen, interessieren den spanischen Regisseur Almodóvar, die Geschichte dieser Tränen und der Weg, den die Frauen zurücklegen, bis sie weinen. Auch in »La Flor de mi Secreto« geht es um eine solche, todunglückliche Frau, von der Almodóvar erzählt.
Inhalt Nicht einmal die Stiefel von ihrem Mann Paco (Imanol Arias), mit denen sie sich Nähe zu ihrem in Brüssel arbeitenden Mann verschaffen will, bekommt Leo (Marisa Paredes) von ihren Füßen. Leo befindet sich in einer tiefen Krise. Sie eilt zu ihrer einzigen Freundin, der Psychologin Betty (Carmen Elias), um die Stiefel los zu werden. Betty ist entsetzt, sagt Leo, sie müsse sich endlich der Wirklichkeit stellen, anstatt in ihren Phantasien und Sehnsüchten zu leben, sich bei El País melden, um dort etwas Vernünftiges zu schreiben statt Groschenromane. Doch Leo leidet unter der Abwesenheit Pacos, der sich als Mitglied der NATO-Friedenstruppe gemeldet hat und in Brüssel befindet. Beide haben etliche Auseinandersetzungen über ihre Ehe hinter sich.
Leo, die unter dem Pseudonym Amanda Gris kitschige Romane schreibt und sich bei ihrem Verlag drei Jahre verpflichtet hat, gelingt selbst das Schreiben dieser Bücher nicht mehr. Sie träumt nicht nur von einem realistischen Roman; sie schreibt ihn auch, wirft ihn aber in den Papierkorb, schreibt erneut, liefert ihn sogar bei den Vertretern des Verlags, Alicia (Gloria Muñoz) und Tomás (Juan José Otegui) ab, die diese Art von Realismus schlichtweg ablehnen, Leo sogar verklagen wollen, wenn sie nicht ihren Vertrag erfüllt.
Auch mit ihrer eigenen Familie kommt Leo nicht mehr zurecht. Mutter Jacinta (Chus Lampreave) und Schwester Rosa (Rossy de Palma) leben zusammen, oder vielmehr: streiten die ganze Zeit über miteinander. Jacinta hasst Madrid, will wieder zurück in ihr Heimatdorf.
Endlich nimmt Leo die Gelegenheit wahr, bei El País Artikel zu Literatur zu schreiben. Sie lernt Ángel (Juan Echanove) von der Redaktion kennen, der meint, ihr realistischer Roman habe das Zeug, veröffentlicht zu werden.
Da kündigt sich Paco aus Brüssel an. Leo hofft, endlich, wenn auch nur für ein paar Stunden, Paco wiederzusehen. Doch Paco wirkt zurückhaltend, distanziert. Es kommt zum Streit und Paco erklärt Leo, ihre Ehe sei nicht mehr zu retten ...
Inszenierung »La Flor de mi Secreto« ist ein stilles Melodram. In der Anfangsszene – einer Videoaufnahme, die Betty in einem Kurs für Ärzte organisiert – kündigt sich das Drama an, das der spanische Regisseur diesmal mit deutlich weniger Hysterie (und ohne Mord) inszenierte: Eine Frau, Manuela (Kiti Manver), wird von zwei Ärzten informiert, dass ihr Sohn nur noch künstlich beatmet werde, sein Gehirn aber tot sei. Manuela will dies nicht wahr haben, wehrt sich gegen die Realität. Ihr Sohn lebe; wenn er noch atme, dann lebe er auch noch. Die beiden Ärzte haben alle Mühe ihr beizubringen, dass er wirklich tot ist. Als ihr diese schreckliche Gewissheit bewusst wird, bitten sie die Ärzte zuzustimmen, dass man ihrem Sohn lebenswichtige Organe entnimmt, um anderen Menschen das Leben zu retten. Manuela weigert sich, nein, sie will ihren Sohn sehen, erst darüber nachdenken. Doch die Zeit drängt; sie muss sich sofort entscheiden ...
Leo lebt in der Vorstellung von der großen Liebe zwischen ihr und Paco, dass über alle Streitigkeiten hinweg ihr Ehe Bestand hat, dass sie sich mit ihm aussöhnen wird, dass sie ohne ihn nicht leben kann, dass sie weiter trinken wird, wenn er so weit weg ist, dass sie nicht mehr schreiben kann, was man von ihr verlangt. Leo lebt in einer Traumwelt, die sie sich selbst geschaffen hat. Ihr Wunschdenken, ihre Phantasie prägt ihren seelischen Zustand, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Sie wirft Paco in den wenigen Stunden, in denen er in Madrid ist und nach denen er nach Split fliegt, vor, andere Menschen retten zu wollen, aber nicht sie. Dass er dies nur zum Vorwand nimmt, um nicht sie retten zu müssen.
Das Drama Leos ist ihre Traumwelt, ihre selbst geschaffene Abhängigkeit von einem Bild, das sie sich von Paco macht und das so gar nicht der Realität entspricht und sie in die Unselbständigkeit, Hilflosigkeit und das Leiden treibt. Almodóvars große Fähigkeit besteht darin, diese Leidensgeschichte in einer Kombination von erzählenden und psychologischen Momentaufnahmen zu realisieren, die eben nicht davon lebt, einerseits belanglos die Kamera laufen zu lassen, andererseits das psychologische Lehrbuch zu zitieren. Das Psychologische ergibt sich aus der Erzählweise selbst, aus der Realität der handelnden Personen, denen man auf eine eigentümliche, ja authentische Weise nahe ist. Authentizität ergibt sich dabei nicht aus der Beschwörung des »Reinen«, »Unverfälschten«. Das Unverfälschte ist die Realität selbst, der die Kamera, die Schauspieler, das Drehbuch, die Musik, die Verschränkung der verschiedenen Handlungsebenen, die Geschichten und Geschichtchen, die in die Haupthandlung mit eingeflochten werden, so hautnah kommen, dass solche Filme fast dokumentarischen Charakter erhalten.
Fazit Leo hat ein blühendes Geheimnis. Das ist die Entdeckung ihrer selbst, ihre eigene Authentizität. Ein wunderbarer Film über eine Frau, wie meist bei Almodóvar, für Frauen und Männer; eine Geschichte, die von den Tränen rückwärts geht und den ganzen dramatischen Weg aufrollt mit aller Liebe und Offenheit.
Live Flesh – Mit Haut und Haaren Carne trémula Spanien 1996, 101 Minuten (OmU)
Regie: Pedro Almodóvar Buch: Pedro Almodóvar, in Zusammenarbeit mit Ray Loriga und Jorge Guerricaechevarria, nach dem Roman von Ruth Rendell Kamera: Affonso Beato Ton: Bernardo Menz Bauten: Antxon Gomez Kostüme: José María Cossio Schnitt: José Salcedo Musik: Alberto Iglesias
Hauptdarsteller: Liberto Rabal (Victor Plaza), Francesca Neri (Elena Benedetti), Angela Molina (Clara), Javier Bardem (David de Paz), José Sancho (Sancho), Penélope Cruz (Isabel Plaza), Pilar Bardem (Doña Centro), Alex Angulo (Busfahrer)
Schuld und Sühne
»Live Flesh« stellt in bestimmter Weise eine Zäsur in Almodóvars Arbeit dar. Er deutet schon stark an, was in »Alles über meine Mutter« zum Ausdruck kommt. »Live Flesh« ist ein positiver Film – trotz aller negativen Umstände, die in der Geschichte passieren. Zwar konstruiert Almodóvar wieder aus verschiedenen Handlungssträngen und Biografien eine dichte Erzählung. Doch es sind weit weniger Personen daran beteiligt als in seinen früheren Filmen.
Inhalt Als das Franco-Regime 1970 den Ausnahmezustand erklärt, gebärt die Prostituierte Isabel (Penélope Cruz) in einem Bus ihren Sohn Victor. Zwanzig Jahre später verlangt es Victor (Liberto Rabal) danach, Elena (Francesca Neri), die Tochter eines italienischen Konsuls, wiederzusehen, mit der er – sie high – auf einer Toilette Sex hatte. Er ruft sie an, sie weist ihn ab; schließlich sucht er sie in ihrer Wohnung auf. Doch Elena will ihn rausschmeißen. Als er nicht geht, richtet sie eine Pistole auf ihn. Es kommt zum Handgemenge, ein Schuss fällt und zwei Polizisten auf Streife fahren durch einen Hinweis einer Nachbarin alarmiert zur Wohnung Elenas.
Victor gerät in Panik, als die beiden Polizisten vor der Tür stehen, und zielt mit der Pistole auf sie. Der Polizist Sancho (José Sancho) überwältigt ihn, während sein Kollege David (Javier Bardem) mit Elena ins Treppenhaus läuft. Dann fällt ein Schuss. David wird getroffen; er ist querschnittsgelähmt. Victor wird verurteilt. Während der Haft stirbt seine Mutter an Krebs, hinterlässt ihm aber eine stattliche Summe Geld.
Vier Jahre später (1994) wird Victor entlassen. Er hat zuerst nur eines im Sinn: Rache für die unschuldig erlittene Haft zu nehmen. Denn nicht er hatte David angeschossen, sondern Sancho, weil der wusste, dass David ein Verhältnis mit seiner Frau Clara (Angela Molina) hatte. David denkt im übrigen die ganze Zeit an Elena, die er liebt. Doch die ist inzwischen Davids Frau. Sie leitet ein Waisenhaus, während David zu einem erfolgreichen Basketball-Spieler wurde, der auch an der Behinderten-Olympiade 1992 teilnehmen konnte. Als Victor das Grab seiner Mutter besucht, beobachtet er zufällig, dass gerade die Beerdigung von Elenas Vater stattfindet. Er geht zu ihr, drückt ihr sein Beileid aus.
Immer noch steht Rache an erster Stelle für Victor. Er beginnt ein Verhältnis mit Clara, deren Ehe mit Sancho eine Katastrophe aus gegenseitigen Abhängigkeiten und Gewalt ist; Sancho schlägt seine Frau, ahnt auch jetzt wieder, dass sie mit einem anderen Mann schläft. Victor indessen schläft nur mit ihr, um von ihr in die Geheimnisse der Sexualität eingeführt zu werden. Clara spürt dies irgendwann instinktiv, merkt, dass Victors Gefühle eigentlich einer anderen gehören – Elena.
David, aus Angst vor dem Verlust Elenas wütend, fotografiert Victor und Clara, um mit den Bildern zu Sancho zu gehen und ihn dazu zu bewegen, sich an Victor zu rächen. Die Lage spitzt sich zu, als Victor auch noch eine Stelle im Waisenhaus annimmt, das Elena leitet. Doch als David erfährt, dass es Sancho war, der auf ihn geschossen hat, lässt er von seinem Plan ab. Victor seinerseits gibt ebenfalls seine Rachepläne auf, nachdem er dies von Clara erfahren hat.
Dann allerdings besucht Elena Victor, um mit ihm eine Nacht zu verbringen, und ringt ihm das Versprechen ab, sich danach nie wieder zu sehen. Sie gesteht dies David, der daraufhin im Zorn und in der Verletzung Sancho die Bilder zeigt, auf denen Victor und Clara zu sehen sind. Clara hat inzwischen Sancho verlassen, sich den Weg aus der Wohnung freigeschossen. Doch Sancho kennt jetzt nur noch eines: Rache. Er fährt zu Victors Wohnung und trifft dort statt ihn Clara an. Als Victor sich dem Haus nähert und Clara dies bemerkt, ist sie bereit zu sterben: Sie schießt auf Sancho, der im gleichen Moment zurückschießt. Beide sind tot.
Die Nacht zwischen Victor und Elena aber hatte Folgen. 26 Jahre nach der Geburt Victors im Bus gebärt Elena ein Kind von ihm.
Inszenierung Zum ersten Mal in einem Film Almodóvars stehen hier Männer im Vordergrund des Geschehens. Da ist Sancho, der die Beziehung zu Clara nur in Besitzverhältnissen denken kann, der sich alkoholisiert, weil dies nicht gelingt, der Gewalt gegen Clara ausübt. Sancho ist in gewisser Hinsicht ein personalisierter Überrest des alten Regimes, der alten Zeit, der nicht mehr in das Spanien der Nach-Franco-Ära passt.
Sein Gegenstück ist David, der in der Anfangsszene, als Victor auf die beiden Polizisten mit der Pistole zielt, die Situation beruhigen will, der einen Tausch vorschlägt: Er nehme Sancho die Waffe weg, mit der er auf Victors Geschlechtsteile zielt, wenn er dafür Elena los und die Waffe fallen lässt. Victor hatte schon eingewilligt, als Sancho dann plötzlich versuchte, ihn zu überwältigen. Davids Situation ändert sich durch die Querschnittslähmung aber prinzipiell. Er kann seine physische Kraft nur noch im Sport umsetzen; seine Geschlechtlichkeit ist dahin. Er ist als Ehemann gehandicapt. Er und Elena hatten sich in der Anfangsszene sofort ineinander verliebt. Nun aber heiratet sie David, den sie liebt, weil er sie jetzt braucht.
Elena stürzt von einer hoffnungsvollen Situation einer beginnenden Liebe in Sekunden, nachdem dieses In-Sich-Verlieben passiert ist, in eine verkehrte Situation: die der Frau, die vor allem von David gebraucht wird.
Clara ist in einer ähnlichen und zugleich doch anderen Situation. Auch sie wird gebraucht, nämlich missbraucht vom uneingeschränkten Besitzanspruch Sanchos, der eine Beziehung nur mit Gewalt aufrechterhalten kann. Sein Motiv oder besser seine Mentalität lautet: permanenter Ausnahmezustand. Clara ist über Jahre hinweg aus Angst nicht fähig, Sancho zu verlassen. Nur durch dessen Mittel, Gewalt, kann sie ihm kurzfristig entkommen.
In diese Situation ist Victor unschuldig-schuldig verstrickt. Er wollte ja anfangs nur Elena, die ihn zurückwies und die er nur um des Messers Schneide davon abhalten konnte, auf ihn zu schießen. Seine Geschichte verschränkt sich nun in die von Sancho und David, zwei anderen Geschichten, auf dramatische Weise. Sie nehmen als Männer, die um Frauen kämpfen, aufeinander Bezug. Ihre Mittel sind dabei anfangs, wenn auch mit entscheidenden Nuancen, dieselben: Gewalt. Sancho will Clara mit körperlicher Gewalt halten; David will Elena mit intriganter Gewalt halten (den Bildern, die er Sancho zeigen will und dann ja auch zeigt); Victor will sich rächen und instrumentalisiert dabei Clara.
Aber Victor ist es auch, dem das Ablassen von dieser Gewalt, seiner Rache, gelingt. Er ist ein Mann des neuen Zeitalters. Er spielt mit den Waisenkindern, die ihn unheimlich mögen, er ist sogar bereit, auf Elena zu verzichten, als er die Wahrheit über den Schusswechsel von Clara hört. Er ist das Kind seiner liebenden Mutter, die – auch für ihn – auf den Strich gegangen ist und ihr davon Erspartes ihm hinterlässt. Und er weint deswegen aus Wut und Verzweiflung am Grab seiner Mutter, die sich für ihn prostituiert hatte.
Die Nacht, die Elena mit Victor verbringt, ist nicht nur eine Nacht der Liebe, des Begehrens, sondern auch des Verlusts. Denn Elena vermisst David nicht nur als »ganzen« Mann; sie spürt instinktiv, dass sie nur bei ihm ist, weil er sie braucht. Sie ist nicht umsonst Leiterin eines Waisenhauses.
Die Frauen in diesem Film Almodóvars stehen scheinbar am Rand des Geschehens. Doch sie lösen auch viel aus. Das Unausweichliche ist nicht so schicksalhaft wie es scheint. Denn Clara opfert ihr Leben am Schluss nicht nur, weil sie erkannt hat, dass sie Sancho nicht entfliehen kann; sie opfert sich auch für Victor, der Elena liebt. Für Clara ist ihr und Sanchos Tod beschlossene Sache. Sie handelt. Sie beendet den Ausnahmezustand.
Andererseits ist die Möglichkeit, die Liebe zwischen Victor und Elena zu leben, nicht so logisch aus der Geschichte ableitbar, wie es vielleicht erscheint, sondern hier greift das Schicksal ein: Elena wird ausgerechnet in dieser einzigen Nacht von Victor schwanger.
Das alte Spanien ist mit Clara und Sancho tot. Die Geburt des Kindes von Elena und Victor im Taxi auf der Fahrt ins Krankenhaus findet auf den lebhaften Straßen, auf denen sich freie Menschen bewegen, statt, nicht wie Victors Geburt in den Zeiten des Ausnahmezustandes, im menschenleeren, angsterfüllen Madrid. »Live Flesh« ist somit auch die erste wirkliche Abrechnung Almodóvars mit der Franco-Zeit.
Fazit Almodóvar hat sich mit »Live Flesh« nicht von seinen bisherigen Filmen verabschiedet. Er hat versucht, wie er sagt, von sich selbst Abstand zu gewinnen. Thema des Films ist eindeutig aber nicht nur die Abrechnung mit der Franco-Zeit als solcher, sondern vor allem mit der Frage der anerzogenen Schuldgefühle. Der ganze Film handelt von Schuld und Sühne, ohne dass er sie wirklich in seinen Figuren thematisiert. Die fünf Personen handeln, ändern ihr Handeln, handeln nicht, aber sie fühlen sich nicht schuldig an irgend etwas.
Die Beseitigung des Ausnahmezustandes in den Beziehungen ist verknüpft mit der Suche nach praktischen Lösungen für Situationen, die eingetreten sind, ohne dass man es einer der Personen in vollem Umfang »einfach« anlasten könnte. Almodóvar gelingt auch mit »Carne trémula« wiederum eine intensive Studie eines Beziehungsgeflechts, in dem die Frage der Entscheidungsmöglichkeiten für die Handelnden nicht mit der Frage von Schuld, sondern von Praktikabilität verknüpft ist. Das lässt viel Raum für nachdenkliche Fragen. Um Almodóvar am Schluss zu zitieren: »Für Spanier meiner Generation und aller anderen auch gehörte Schuldgefühl zu den Grundlagen der Erziehung. In der Mancha hat diese Erziehung enorm viel Leben zerstört, es war eine Strafe für viele. Aber ein Jahr nach meinem Aufenthalt bei den Priestern habe ich mir die Ablehnung von Schuld ganz zu eigen gemacht. Ich bin mir meiner Fehler bewusst, aber ich bereue sie nicht. Reue und Schuld sind jüdisch-christliche Erfindungen, die ich nicht liebe.« (1)
(1) Pedro Almodóvar, Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ein Gespräch mit Frédéric Strauss, Frankfurt am Main 1998, S. 214
Alles über meine Mutter Todo sobre mi madre Spanien 1999, 105 Minuten (OmU)
Regie und Buch: Pedro Almodóvar Kamera: Affonso Beato Ton: Miguel Rejas Bauten: Antxon Gomez Kostüme: José María Cossio Schnitt: José Salcedo Musik: Alberto Iglesias
Hauptdarsteller: Cecilia Roth (Manuela Goifman Echevarría), Marisa Paredes (Huma Rojo), Penélope Cruz (Rosa), Antonio San Juan (Agrado), Rosa María Sardà (Rosas Mutter), Candela Peña (Nina), Eloy Azorín (Esteban), Tony Cantó (Lola), Carlos Lozano (Mario, Stanley Kowalski), Fernando Fernán Gómez (Vater Rosas), Agustín Almodóvar (Taxifahrer), Fernando Guillén (Arzt in »Endstation Sehnsucht«), Cayetana Guillén Cuervo (Mamen), Juan José Ortegui (Gynäkologe)
Familie und Machismo
Der mit etlichen Preisen versehene Film »Todo sobre mi madre« ist tatsächlich so etwas wie ein Höhepunkt im Schaffen Almodóvars. Er selbst sagte zu seinem Film: »Gegen den Machismo meiner Heimat, der La Mancha, haben sich vor vierzig Jahren die Frauen mit den Mitteln der Täuschung, der Lüge und des Versteckspiels behauptet und so dafür gesorgt, dass das Leben in die richtigen Bahnen gelenkt wurde. Damals ahnte ich es noch nicht, aber dies sollte eines der Motive meines 13. Films werden, die Begabung der Frau für das Theaterspiel, die Maskerade; weitere sind die Verlustgefühle einer Mutter und die spontane Solidarität unter Frauen.« (1) Heraus gekommen ist noch weit mehr.
Inhalt Manuela (Cecilia Roth) hat einen 17jährigen Sohn, Esteban (Eloy Azorín), der davon träumt, Schriftsteller zu werden, der aber auch unbeantwortete Fragen an seine Mutter hat: Wer war sein Vater, ist die wichtigste. Manuela ist Krankenschwester (entstanden aus einer Person in Almodóvars Film »Mein blühendes Geheimnis«), die in einer Abteilung für Organtransplantationen im Madrider Krankenhaus arbeitet und dort in einem Kurs für Ärzte eine Mutter spielt, der Ärzte offenbaren müssen, dass ihr Kind tot ist, und von der man die Zustimmung zur Organentnahme benötigt.
Zu seinem 17. Geburtstag besuchen Manuela und Esteban das Theaterstück »Endstation Sehnsucht«. Die Hauptrolle spielt Huma Rojo (Marisa Peredes), deren großes Vorbild Bette Davis ist und die auch Kette raucht wie die Grande Dame des Films. Huma ist lesbisch und nicht nur nach Zigaretten, sondern auch nach Nina (Candela Peña) süchtig, einer drogenabhängigen Kollegin, mit der sie eine Beziehung hat.
Als Esteban unbedingt ein Autogramm von Huma haben will, rennt er ihrem Taxi nach der Vorstellung hinterher und wird von einem Auto überfahren. Nun ist es Manuela, die sich von Ärzten den Tod ihres Sohnes bestätigen lassen muss und nach ihrer Zustimmung zur Organentnahme gefragt wird.
Manuela hält es in ihrer Wohnung in Madrid nicht mehr aus. Sie beschließt, Estebans Vater zu suchen und ist sich darüber bewusst, dass diese Suche sie hart mit der Vergangenheit konfrontieren wird, vor der sie 17 Jahre zuvor geflohen war. In Barcelona angekommen, weiß sie genau, wo sie suchen muss: Auf dem Straßenstrich. Doch nicht den Vater von Esteban, Lola (Tony Cantó), einen Transvestiten, trifft sie, sondern ihre alte Freundin Agrado (Antonia San Juan), eine Transsexuelle mit silikonvergrößerten Brüsten. Über sie lernt sie Rosa (Penélope Cruz) kennen, eine Schwester, die sich für Prostituierte einsetzt, deren Mutter (Rosa María Sardà) über den geplanten Fortgang von Rosa nach El Salvador entsetzt ist und deren Vater (Fernando Fernán Gómez) ausschließlich in seiner eigenen Welt der Erinnerungen lebt.
Manuela kümmert sich, nicht nur um Rosa, die schwanger ist und der ein Arzt bescheinigt, dass sie HIV positiv ist, auch um Huma, die sie besucht, weil sie der äußere Anlass für den Tod von Esteban war. Und sie muss erfahren, wer der Vater des Kindes ist, das Rosa erwartet ...
Inszenierung Mit einer unvergleichlichen Intensität ist der Meister der filmischen Konstruktion in »Todo sobre mi madre« wieder ans Werk gegangen. Die farbenprächtige Ausstattung des Films – nicht mehr comic-artig wie in »Pepi, Luci, Bom und die anderen Mädchen vom Haufen«, nicht mehr durch die Konsum- und Werbewelt bestimmt wie etwa in »Kika« oder »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« – kontrastiert nur scheinbar mit der – wie immer bei Almodóvar vorhandenen – Verschränkung verschiedener Handlungsabläufe, die am Schluss zu einer einzigen Geschichte zusammengefügt sind.
Manuela steht für die schier grenzenlos scheinende Fähigkeit einer Frau, aus einer Tragödie, dem Tod ihres geliebten Sohnes, die Kraft zu gewinnen, nicht nur mit diesem Schmerz zu leben, sondern aus diesem Leid etwas Positives zu gewinnen. Manuela ertränkt ihren Schmerz nicht, sie kehrt immer wieder zu ihm zurück, in der Begegnung mit Agrado, die sie an ihre Vergangenheit erinnert, mit der jungen Rosa, deren Kind denselben Vater hat wie Esteban, mit Huma Rojo, die sie an ihre eigene Zeit als Laienschauspielerin erinnert.
Die Leidenschaft und große Sympathie für die spontane, unbefangene, vorurteilsfreie Solidarität zwischen den Frauen wird besonders in einer Szene deutlich, in der Manuela, die schwangere Rosa, Agrado und Huma in der Wohnung Manuelas sitzen, trinken, essen, reden, sich anlügen und eins zu sein scheinen: eine Art Familie.
Die Kraft dieser Bilder, die in solchen Szenen zum Ausdruck kommt, lässt Männer vergessen. Die Männer, die im Film auftauchen, sind gescheiterte Existenzen wie der todkranke Manuel (Lola), der kranke Vater Rosas und der Schauspieler Mario (Carlos Lozano), der es auf nichts anderes abgesehen hat, als dass Agrado ihm sexuell zu Diensten ist.
»Todo sobre mi madre« ist ein Film über die Suche nach der Familie, der Zuneigung, der Liebe, die Almodóvar nur in der anscheinend unbeugsamen Kraft der Frauen findet. Die Frauen leiden, aber sie scheitern nicht wie die Männer; die Frauen gehen einen Schritt nach vorn, und noch einen; die Männer bleiben stehen, erscheinen unwichtig. Doch der Schein trügt, denn Manuela kümmert sich am Ende des Films zum zweiten Mal in ihrem Leben um einen Mann: nach Esteban, ihrem Sohn, jetzt um den gleichnamigen Sohn der toten Rosa. Esteban lebt weiter.
Fazit Die großartigen schauspielerischen Leistungen v.a. von Cecilia Roth, Marisa Paredes, Antonia San Juan und Penélope Cruz, ihre Fähigkeit, diese Kraft der Frauen überzeugend und hautnah zu vermitteln, ja teilweise selbst »zu sein«, mit einem gehörigen Schuss Wortwitz und Humor, macht diesen Film zu einem unvergesslichen Kinoereignis. »Todo sobre mi madre« ist auch eine leise, aber in ihrer Aussage sehr bestimmte Anklage: eine Anklage an eine Männerwelt, erhoben nicht nur von Frauen, sondern auch vom dem toten Esteban, der vielleicht für eine andere Art von Mann steht, in dessen Seele – im Gegensatz zum Machismo – die weiblichen Mentalitäten der (gefühlten und gefühlvollen) Solidarität, der spontanen, ungebundenen Kraft und der bedingungslosen Liebe einen Platz gefunden hatten.
(1) Zit. n. http://www.rhein-zeitung.de (11/1999)
Sprich mit ihr Hable con ella Spanien 2002, 116 Minuten
Regie: Pedro Almodóvar Drehbuch: Pedro Almodóvar Musik: Alberto Iglesias Kamera: Javier Aguirresarobe Schnitt: José Salcedo Choreographie „Masurca Fogo“ und „Café Müller“: Pina Bausch Spezialeffekte: David Martin
Hauptdarsteller: Javier Cámara (Benigno), Darío Grandinetti (Marco Zuloaga), Rosario Flores (Lydia), Leonor Watling (Alicia), Geraldine Chaplin (Katerina Bilova), Mariola Fuentes (Rosa), Fele Martínez (Alfredo), Paz Vega (Amparo), Chus Lampreave (Concierge), José Sancho (Niño de Valnecias Agent), Elena Anaya (Angela), Adolfo Fernández (Niño de Valencia), Loles León (TV-Reporterin), Lola Dueñas (Matilde), Ana Fernández (Lydias Schwester), Helio Pedregal (Alicias Vater); Pina Bausch, Malou Airaudo, Caetano Veloso
Männer, die weinen; Männer, die nicht weinen
Da sind die – plötzlich ? –, die Männer, die im Vordergrund stehen – statt der Frauen. Aber Almodóvar verschiebt lediglich Schwerpunkte. Denn seine Filme handeln stets (auch) von Geschlechterbeziehungen und emotionalen Rand- und Hauptlagen seiner Darstellungen, vor allem aber vom Einfluss ihrer Biografien auf das Geschehen und was da komme.
Inhalt Almodóvar erzählt die Geschichte zweier Männer und zweier Frauen. Der Reisejournalist Marco (Darío Grandinetti) hat sich – nach einer langjährigen gescheiterten Beziehung zu einer drogenabhängigen Frau – in die Stierkämpferin Lydia (Rosario Flores) verliebt. Lydia war mit dem Stierkämpfer Niño des Valencia (Adolfo Fernández) liiert. Beide hatten sich aber zerstritten. Marco lernt Lydia kennen, nachdem er sie im Fernsehen bei einem Interview gesehen hat. Den zudringlichen Fragen der Reporterin nach ihrer Beziehung zu Niño entzieht sich Lydia, indem sie das Studio einfach verlässt. Marco will mit ihr ebenfalls ein Interview für El País durchführen, trifft sie an einer Bar, fährt sie nach Hause, ohne zu merken, dass Lydia dadurch nur Niño kränken will und kommt mit ihr in näheren Kontakt, als Lydia aus Angst vor einer Schlange fluchtartig die Wohnung verlässt. Marco erzählt Lydia von seinem Leben, Lydia erkennt, dass er sich in sie verliebt hat. Doch bevor sie ihm erzählen kann, dass Niño und sie sich wieder versöhnt haben, wird sie in der Arena von einem Stier angegriffen. Im Krankenhaus wird sie stundenlang operiert und liegt danach im Koma.
Im Koma liegt auch die Balletttänzerin Alicia (Leonor Watling), seit vier Jahren. Der Krankenpfleger Benigno (Javier Cámara) pflegt sie seit ihrem Autounfall, fast jeden Tag und jede Nacht. Benigno wohnt schräg gegenüber der Tanzschule, in der er Alicia das erste Mal aus dem Fenster gesehen hatte, als sie bei der Tanzlehrerin Bilova (Geraldine Chaplin) Unterricht genommen hatte. Seine gesamte Jugend hatte er damit verbracht, seine bettlägerige Mutter zu pflegen. Als er Alicia das erste Mal sah, verliebte er sich in sie, versuchte Kontakt mit ihr aufzunehmen, suchte ihren Vater, einen Psychiater (Helio Pedregal) unter dem Vorwand auf, psychische Probleme zu haben. Nach dem Verkehrsunfall hatte Benigno alles getan, um als Pfleger für Alicia eingestellt zu werden. Ihrem Vater erzählt er, der nie in seinem Leben Sex mit einer Frau hatte, er sei homosexuell. So willigt Alicias Vater ein, dass Benigno seine Tochter pflegt. Seitdem wäscht er sie, massiert ihren Körper, spricht mit ihr, geht in die Stummfilme, die sie immer gerne gesehen hatte, und erzählt ihr davon, liest ihr vor usw.
Im Krankenhaus lernen sich Benigno und Marco kennen, zwei unterschiedliche Männer, die das Schicksal von Alicia und Lydia zusammenführt. Sie werden Freunde. Benigno drängt Marco, mit Lydia zu sprechen; man wisse nicht, ob sie das höre, aber er solle es trotzdem tun, um Nähe zu ihr herzustellen. Doch Marco ist dazu nicht imstande. Er wacht Tag und Nacht an ihrem Bett. Und eines Tages erfährt er von Niño, dass er sich kurz vor dem Angriff des Stieres mit ihr versöhnt hatte. Marco ist halb entsetzt, halb erleichtert. Irgendwie hatte er gespürt, dass zwischen ihm und Lydia irgend etwas nicht stimmt. Er beschließt, auf eine lange Reise ins Ausland zu gehen.
Nach Jahren erfährt er nach einem Anruf im Krankenhaus, das Benigno dort nicht mehr arbeitet, sondern im Gefängnis sitzt und dass Alicia ein totes Kind zur Welt gebracht hat. Benigno wird vorgeworfen, sie vergewaltigt zu haben ...
Inszenierung Almodóvars Filme „nachzuerzählen“, ist fast unmöglich. Jeder seiner Filme ist weniger eine Geschichte, ein Drama im herkömmlichen Sinn des Wortes, sondern eher ein kontrastreiches, farbengetränktes, intensives Bild vom Innenleben seiner Figuren, ein Bild, ja fast ein Gemälde im Entstehen, in der Zeit und Raum zu einer anderen Dimension zusammenfließen als im klassischen Drama. Sicherlich, „Hable con ella“ ist ein Melodrama, aber keines im Stil etwa eines Douglas Sirk. Almodóvar ist ein Meister des Bruchs und der Symbolik. Auch „Sprich mit ihr“ ist durchzogen von dramaturgischen Brüchen, Zeitsprüngen, melodramatischer, aber zugleich harter realistischer Symbolik, ohne dass dadurch die Geschlossenheit des Dramas verletzt würde – im Gegenteil.
Der Film enthält keinerlei Botschaft. Almodóvar erzählt so wie ein Romanautor. Das heißt, Almodóvar erlaubt sich zeitliche Schnitte dort, wo er es für angebracht hält.
Der Film beginnt in gewisser Weise mit dem Schluss von „Alles über meine Mutter“. Der Vorhang, der dort am Schluss fiel, öffnet sich und man sieht die große Pina Bausch und Malou Airaudo tanzen – zwei Frauen die sich vor Verzweiflung, Schmerz winden, an die Wand drücken, fallen, als ein Mann auf der Bühne auftaucht. Benigno und Marco sitzen – ohne sich schon zu kennen – im Publikum. Benigno sieht, wie Marco weint, ist halb verunsichert, halb gerührt. Marco erinnert sich in diesem Moment an seine vergangene Beziehung, an seine drogenabhängige Geliebte, eine gescheiterte Beziehung, in der es ihm nicht möglich war, sie von den Drogen wegzubekommen.
Beide Männer sind offenbar völlig unterschiedlich. Marco ist still, romantisch, sensibel, aber trotzdem in entscheidenden Situationen realistisch. Er ist nostalgisch, der Mann der weint, der mit Angela, der Drogenabhängigen, etliche Reisen unternommen, darüber geschrieben hatte. Am Schluss aber war sie zu ihren Eltern gegangen, die sie von den Drogen und von Marco entwöhnten. Marco gesteht sich selbst nicht zu, dass er Angela noch immer liebt. Als er Lydia trifft, die noch immer Niño liebt oder es auch nur glaubt, trösten sich beide über ihren Schmerz, aber lieben sie sich?
Ganz anders Benigno, der nichts anderes gelernt hat, als seine Mutter zu pflegen, deren Mann sich von beiden getrennt hatte. Benigno kann nur lieben, indem er pflegt, indem er mit der Geliebten spricht, zu ihr spricht, nicht mit ihr spricht. Wäre Alicia nicht im Koma, hätte sie sicherlich kein Interesse an Benigno, der nie eine sexuelle Affäre hatte. Das Bett ist für Benigno nicht die Stätte der Lust, der sexuellen Begierde, der erotischen Anziehung. Das Bett ist die Stätte der feinen, säuberlichen Pflege, des Wassers, der Seife, der Salbe, des Öls, nicht die des Blutes, des Schweißes, der Körpersäfte. Nur so kann er lieben. Seiner Mutter hatte er am Sterbebett auf die Frage, was er nach ihrem Tod tun würde, wie selbstverständlich geantwortet, er würde sich umbringen. Alicias Koma rettete Benigno das Leben. Seine Mutter hatte ihm gesagt: Schau hinaus in die Welt, wenn ich tot bin, dort gibt es schreckliche Dinge, aber auch interessante. Benigno schaute, aus dem Fenster, und entdeckte Alicia.
Benigno aber ist nicht krank, psychopathisch im üblichen Sinn. Er träumt von der Begierde. Almodóvar filmt diesen Traum, einen Stummfilm mit dem Titel „Der schwindende Liebhaber“: Um seiner geliebten Wissenschaftlerin (Paz Vega) zu imponieren, ihr seine Liebe zu beweisen, trinkt Alfredo (Fele Martínez) ein Elixier, durch das er auf Däumling-Größe zusammenschrumpft. Im Bett seiner schlafenden Geliebten zieht er ihr das Nachthemd aus und kriecht nackt und verzückt in ihre Vagina – für immer. Benigno schwängert die im Koma liegende Alicia.
Mit „Hable con ella“ scheint sich Almodóvar von der Subkultur, die noch in „Alles über meine Mutter“ eine Rolle gespielt hatte, verabschiedet zu haben. Doch zentrale Motive aus seinen früheren Filmen sind auch in diesem Film zu sehen: Das Krankenhaus zum Beispiel, Symbol für Diskontinuität, für gescheiterte Biografien, aber auch für Gesundung – der Ort, an dem über Tod und Leben entschieden wird. Oder die Vertauschung von Geschlechterrollen: Lydia hatte einen „Männerberuf“, den spanischen Männerberuf, in dem sie letztlich nur von Niño unterstützt wurde. Der Stier, Symbol für Männlichkeit, Kraft, Gewalt, die Unberechenbarkeit der Natur, die besiegt werden müssen – von Männern –, lässt sie scheitern. Sie hat Schlachten gegen Stiere gewonnen, aber den Krieg hat sie verloren. Wenn sie in der Arena steht, sieht sie aus wie ein Mann, kämpft wie ein Mann, siegt wie ein Mann. Als Frau scheitert sie. Alicia dagegen, die wie die Unschuld wirkt, in ihrer grazilen Art zu tanzen, in der Obhut ihres Vaters aufgehoben, beschützt, geht einen anderen Weg. Wenn Benigno und seine Kollegin Rosa (Mariola Fuentes) Alicia das weiße Tuch über den Körper legen, dann wirkt dies zuerst wie ein Leichentuch, das sich sanft, aber bestimmt auf eine fast Tote senkt. Doch wenn das Tuch zum Liegen kommt, von den Pflegern festgezurrt wird, dann zeichnen sich darunter Alicias weiche, weibliche Formen ab, so, als ob sie im nächsten Moment die Augen öffnen, lachen, sprechen, weinen würde. Alicia „nimmt“ einen anderen Weg als Lydia.
Almodóvar erzählt von Leidenswegen, gebrochenen Biografien, die aufeinander treffen, von Kommunikation und dem Verlust von Kommunikation. Zeit und Raum scheinen fixiert. Der Film arbeitet behände gegen den üblichen Zeitbegriff. Er arbeitet mit Erinnerung als wesentlicher Komponente subjektiver Eigenheit, Identität, Mentalität. Er zeigt aber auch die Veränderung der Konstellationen in bezug auf die „anthropologischen Grundkonstanten“ menschlichen Daseins: Leben und Tod, Liebe und Hass, Begierde und Gewalt. Nicht die chronologische Abfolge auf Basis eines ökonomisierten Zeitbegriffs bestimmt das Leben der Figuren und ihre Beziehungen. Die Pflege der Mutter Benignos ist in jedem Moment präsent, ebenso wie seine Sehnsucht nach einer Liebe, von der er nichts weiß, nur eine Ahnung hat. Er schläft mit einer fast Toten, macht ihr ein Kind – ein Akt der Gewalt und der Liebe. Das Kind wird tot geboren, aber Alicia lebt, ohne etwas davon zu wissen. Alicia lebt in der ganzen Ungewissheit weiter. Sie weiß nichts, was in den vergangenen Jahren während ihres Komas geschehen ist. Marco weiß alles. Mit dieser Last hat er weiterzuleben. Er sieht Alicia, beschützt durch ihre Ballettlehrerin, schaut in ihre Augen, sie in seine. Eine neue Liebe? Der „zeitlose“ Reigen schließt mit Pina Bausch in einem weiteren Ballett. Der Vorhang senkt sich.
Almodóvar verortet Liebe, Tod, Leben, Glück, Unglück, Begierde und die Vorstellungen darüber zumeist da, wo wir sie alle nicht vermuten: Im einseitigen Gespräch Benignos zu Alicia, in der phantasiegetränkten Vorstellung über die Liebe im Stummfilm, die den Tod zur Folge haben muss, in der paradoxen Vorstellung Benignos, im eigenen Koma der geliebten Alicia näher sein zu können, aber auch in den Irrtümern und dem Nicht-Wissen, der Sprachlosigkeit Marcos gegenüber Lydia, der Trauer Marcos über die gescheiterte Liebe zu Angela. Das Koma der beiden Frauen ist andererseits die Nagelprobe für die beiden Männer. So bewegungslos, sprachunfähig sie da liegen, so viel mögen sie im Leben der beiden Männer bewegen.
„Hable con ella“ – ein pessimistischer Film? Nein, aber auch kein optimistischer. Almodóvars neues Werk ist ein Film über die Möglichkeiten des Lebens, die man manchmal erkennt und oft nicht, über die Zufälle, die viel bewirken können, und über die Irrtümer, die wir erst Jahre später entdecken, über die sehr subjektive Art und Weise, wie jeder mit seinem Leben umgeht und den anderen betrachtet, und last but not least: über die Möglichkeiten des Kinos, dies alles zu visualisieren. In Almodóvars Worten:
„Talk To Her is a story about the friendship between two men, about loneliness and the long convalescence of the wounds provoked by passion. It is also a film about incommunication between couples, and about communication. About cinema as a subject of conversation. About how monologues before a silent person can be an effective form of dialogue. About silence as ‘eloquence of the body’, about film as an ideal vehicle in relationships between people, about how a film told in words can bring time to a standstill and install itself in the lives of the person telling it and the person listening. Talk To Her is a film about the joy of narration and about words as a weapon against solitude, disease, death and madness. It is also a film about madness, about a type of madness so close to tenderness and common sense that it does not diverge from normality.“
Recht hat er. Almodóvar ist schließlich, auch das sei erwähnt, ein Künstler des Aussparens. Das, was so entscheidend Marcos und Benignos Leben geprägt hat, wird nicht oder kaum visualisiert, in Bruchstücken erzählt, angedeutet. Almodóvar dringt aus dem Jetzt in die seelischen „Eingeweide“ vor, lotet sie aus, kontaktiert sie mit denen der anderen. Die biographische Methode im klassischen Sinn ist ihm fremd.
Schauspieler Darío Grandinetti ist Marco. Das kann man mit einiger Gewissheit behaupten. Ein weinender Mann nach all den weinenden Frauen, die in Almodóvars früheren Filmen eine so große Bedeutung gespielt haben. Grandinetti zeichnet Marcos Biographie exzellent nach. Ähnliches gilt für den „Sonderling“ Javier Cámara. Rosario Flores gelingt die allmähliche Verwandlung von der Frau mit Schlangenphobie und Wut auf Niño in die Stierkämpferin mit entschlossenem, stolzem Blick, der keine Angst vermeldet, exzellent. In einer Nebenrolle glänzt die unvergleichliche Chus Lampreave als Concierge und trägt zur Komik des Films entscheidend bei.
Fazit Fazit? Ansehen. Unbedingt ansehen. Almodóvar ist weder pessimistisch, noch optimistisch. Aber er sucht die Momente für gelungene Beziehungen, wie schon in seinen anderen Filmen, zuletzt vor allem in „Alles über meine Mutter“. Kein Happy End, aber Spuren, Wege, Möglichkeiten, Tendenzen. Keine Botschaft, kein Hollywood, sondern großes spanisches Kino.
Schlechte Erziehung La Mala educación Spanien 2004, 105 Minuten
Regie: Pedro Almodóvar Drehbuch: Pedro Almodóvar Musik: Alberto Iglesias Kamera: José Luis Alcaine Schnitt: José Salcedo Bauten: Antxón Gómez
Hauptdarsteller: Gael Garcia Bernal (Ángel / Juan / Zahara), Fele Martinez (Enrique Goded), Daniel Giménez Cacho (Pater Manolo), Lluis Homar (Manuel Berenguer), Javier Cámara (Paca / Paquito), Francisco Boira (Ignacio), Petra Martínez (Mutter), Nacho Pérez (der junge Ignacio), Francisco Maestre (Pater José), Juan Fernández (Martin)
Über Leiden schaffende Leidenschaften
Frauen scheint es in Almodóvars neuem Film nicht zu geben. Im Unterschied zu seinen bisherigen Filmen gibt es in „La mala educación” keine weibliche Hauptrolle. Anders ausgedrückt: das Weibliche fehlt in einem Film, der doch u.a. auch von Transsexuellen handelt. Gibt es Männliches in diesem Film? Offensichtlich ist nur, dass es Transsexuelle gibt und einen pädophilen Pater. Wie schon in seinen allerersten Filmen (etwa „Pepi, Luci, Bom und die anderen Mädchen vom Haufen”, 1980; „Labyrinth der Leidenschaften”, 1982; „Das Kloster zum heiligen Wahnsinn”, 1983 usw.) ist geschlechtliche Identität bei Almodóvar ein Fremdwort. Nicht nur das: Identität scheint für den spanischen Regisseur ein Fremdwort.
Die Biografien der Handelnden sind wie Puzzlespiele, kaum fassbar und – wenn überhaupt – erst am Schluss eines Films ein Ganzes. Doch auch dieses Ganze verbleibt in einem Bereich des Ungewissen, vor allem wenn man versuchen will, Schuld und Unschuld, Treue und Verrat, Ursache und Wirkung klar zu positionieren und an Personen festzumachen.
„La Mala educación” spielt auf mindestens drei Ebenen: Der Kindheit zweiter Klosterschüler, Ignacio und Enrique, in den 60er Jahren des Franco-Regimes, in den 80er Jahren und im Film des inzwischen zum Regisseur avancierten Enrique. Der Ausgangspunkt der Geschichte scheint anfangs ganz klar. In einer Klosterschule wird der junge Ignacio, der in seinen Mitschüler Enrique verliebt ist, von dem pädophilen Pater Manolo missbraucht. Als Manolo die beiden Jungen nachts auf der Toilette entdeckt und vermutet, sie hätten etwas miteinander, sorgt er dafür, dass Enrique der Schule verwiesen wird.
20 Jahre später taucht bei Enrique, der sich gerade in einer Schaffenskrise befindet, ein junger Mann mit Vollbart auf, der sich als Ignacio zu erkennen gibt. Er überreicht Enrique ein Manuskript mit dem Titel „Der Besuch”, in dem die Kindheit der beiden und eine fiktive Geschichte miteinander verknüpft sind. Enrique ist nach der Durchsicht des Manuskripts entschlossen, einen Film daraus zu machen. Ignacio besteht darauf, die Hauptrolle in diesem Film zu spielen, und ist bereit, alles dafür zu tun, auch mit Enrique zu schlafen.
In dem Manuskript erzählt Ignacio davon, wie er Pater Manolo als Transsexueller aufsuchte, um sich für den Missbrauch zu rächen, indem er eine Million Peseten dafür verlangte, dass er das Manuskript nicht an einen Verlag schickt.
Doch genauso trügerisch wie diese Geschichte erweisen sich im folgenden die Handlungen der Personen. Realität, Fiktion und Film vermischen sich derart, dass die Identität der Handelnden kaum fassbar wird. Almodóvar benutzt das Mittel „Film im Film” (nicht das erste Mal, siehe seinen Film „Das Gesetz der Begierde”, 1987), um den Zuschauer zunächst auf eine falsche Fährte zu locken, dann aber deutlich zu machen, dass diese falsche Fährte nur der äußere Schein einer Geschichte ist, in der Lüge, Verrat, Täuschung, Maskerade Ausdruck gebrochener Identitäten sind, von Menschen, die – hier stimmt dieses Klischee endlich einmal – nie zu sich selbst gefunden haben.
Im Zentrum aller Handelnden steht die Leidenschaft: die Leidenschaft Pater Manolos für Ignacio bzw. Knaben, die Leidenschaft des – falschen – Ignacio für eine Schauspielerkarriere, die Leidenschaft Enriques als Regisseur. Alle sind bereit, für ihre Leidenschaft alles zu tun. Ignacios Bruder Juan ist bereit, einen Mord zu begehen, um an sein Ziel zu gelangen. Pater Manolo, der das Kloster längst verlassen hat, ebenso, um Juans Leidenschaft zu gewinnen.
Auch wenn diese Leidenschaften, wie bei Pater Manolo, verbotene sind (Knabenliebe), so bleiben sie doch Leidenschaften, und Almodóvar zeigt auf eine teilweise groteske, teilweise fiktive Weise, wie sich Enrique, Juan, der drogenabhängige Ignacio, der Pater Manolo ohne Skrupel erpresst, um an Geld für seine Drogen zu kommen, wie sich alle drei in ihre Leidenschaft verstricken, ohne Rücksicht auf sich selbst und andere zu nehmen. Diese Leidenschaften sind nicht zu verwechseln mit bedingungsloser Liebe, von der in „La Mala educación” nur noch ein Schein existiert, eine Rauchwolke, die schnell wieder verfliegt. In Almodóvars preisgekröntem Film „Alles über meine Mutter” (1999) geht eine Frau nach dem Verlust ihres Sohnes zurück an den Ort ihrer Jugend und gewinnt nicht nur ein Kind wieder, sondern leistet in einem schmerzhaften Akt so etwas wie Wiedergutmachung. In „La Mala educación” ist Almodóvar weit von einer solchen Geschichte entfernt.
Die Personen werden durch eine ihnen eigene Begierde gesteuert, die sie weder kontrollieren wollen, noch können. „La Mala educación” ist kaum ein Film gegen die Kirche, wie viele annehmen. Denn obwohl der spanische Regisseur in seinen Filmen immer wieder die mit den Mächtigen Spaniens verwobene katholische Kirche im Visier hatte, spielt dieser Gesichtspunkt auch in „La Mala educación” eher eine untergeordnete Rolle. Almodóvar äußerte in einem Interview, dass ihm die Figur des Pater Manolo von allen am nächsten gestanden habe (1), weil Manolo seine gesamte (verbotene) Liebe diesem Kind gewidmet habe. Eine Aussage, die sicherlich heftigen Widerspruch hervorrufen wird. Allerdings wird dabei vergessen, welche Rolle Leidenschaft nicht nur in Almodóvars Filmen, sondern in einer Gesellschaft spielt, in der sie nicht selten „abgekoppelt” ist von dem Gegenüber, eine Art „verselbständigte” Existenz führt, so dass aus dem Subjekt der Leidenschaft ein Objekt der Begierde wird. Manche meinen, Liebe sei egoistisch. Bei Almodóvar ist Leidenschaft egozentrisch motiviert. Dass er dennoch eine – wenn auch distanzierte – Sympathie für seine Protagonisten empfindet, gründet letztlich in dem Mitgefühl für Menschen, die aus ihrer Haut nicht heraus können – also im Grunde für alle.
Auch „La Mala educación” ist einer jener typischen, wenn auch im Vergleich zu seinen früheren Werken etwas kühler wirkenden Filme, in denen Biografien als Kreislauf reproduziert werden, in dem es keinen Anfang und kein Ende zu geben scheint. Alles kehrt auf verschiedenen Ebenen, in verschiedenen Stationen des Lebens der Personen wieder. Schwarzweißmalerei liegt diesen Filmen so fern wie eine eindeutige Zuordnung von Schuld und Unschuld, Opfer und Täter, Gut und Böse. Das mag manchem aufstoßen, gerade bei einem Thema wie Missbrauch, aber Almodóvar zeichnet – übrigens auch in diesem neuen Film oft auf eine groteske, sogar humorvolle Art – seine Personen eben nicht als Helden oder Anti-Helden, Lebenskünstler oder Versager.
Die Maskerade, das Doppeldeutige, die verkitschte Selbstdarstellung seiner Figuren, die Verkleisterung der eigenen Vergangenheit und die Gewalt des Gegenwärtigen – zwei seiner Hauptfiguren kommen gewaltsam zu Tode – lässt „La Mala educación” als einen trügerischen film noir erscheinen, der in Wirklichkeit jedoch eher einem klassischen Melodrama nahe kommt als einem Film Jean-Luc Godards oder François Truffauts. Das Bunte, Schrille, Verkorkste, das Almodóvars erste Filme, die immer in einem Milieu der Transvestiten, der Drogenabhängigen, des „Underground” spielten, charakterisierte, wird in seinen letzten Filmen wieder aufgenommen. „La Mala educación” ist auch ein Film über Männer, die als Transsexuelle oder Pädophile erscheinen, nicht weil sie „eigentlich” Frauen wären, sondern im Gegenteil: weil ihnen das Weibliche in ihrem Charakter und in ihrem Leben fehlt.
Zu seinen früheren Werken äußerte der Regisseur einmal, es interessierten ihn Frauen, die weinen, vor allem warum sie weinen. Diese Filme gehen den Spuren dieser Frauen nach und stoßen immer wieder auf das System des Machismo. In „La Mala educación” zeigt er uns Männer voller Leidenschaft, die ebenfalls Opfer und Täter im System dieses Machismo sind, in dem das Weibliche nie eine Chance hatte – es sei denn in der Rebellion. Nur aus diesem Gesichtspunkt erschließen sich dann vielleicht auch der Filmtitel und die Folgen der frankistischen Gesellschaft.
(1) „Die Leute sehen den Film und wissen schon, was mit dem Titel gemeint ist. Ich glaube nicht, dass sich der Film gegen die Kirche wendet, eher im Gegenteil. Ich mag die Charaktere in dem Film, aber am meisten mag ich den Priester, weil er sein Leben einem Kind widmet, in das er über alle Maßen verliebt ist“.
(Quelle: http://www.cineplexx.at/arthouse/KW40_Filmnews.asp)
„Hätte ich wirklich Rache [an der katholischen Kirche, d. Verf.] nehmen wollen, hätte ich nicht vierzig Jahre damit gewartet! Dieser Film sollte nie ein Manifest gegen die Kirche werden. Die Rolle des katholischen Priesters fällt keineswegs düsterer aus als die der beiden anderen Figuren. Für mich ist es einfach ganz generell ein Film über Männer, die eine Entscheidung treffen müssen. Dieser Priester verliebt sich. Aber nur weil diese Liebe verboten ist, heißt das ja nicht, dass sie von minderer Qualität ist.”
Quelle: http://www.wams.de/data/2004/09/26/338113.html?s=1)
Almodóvar I Almodóvar II
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