Anna Wunder
(Anna Wunder)
Schweiz, Deutschland 2000
Regie: Ulla Wagner

Drehbuch: Ulla Wagner
Musik: Thomas Osterhoff
Director of Photography: Jolanta Dylewska
Montage: Lilo Gerber
Produktionsdesign: Uli Bergfelder, Ulrich Bergfelder

Darsteller: Alice Deekeling (Anna), Renée Soutendijk (Sophie, Annas Mutter), Stephan Dellgrün (Rolli), Stephan Dellgrün (Franz), Götz Schubert (Oskar), Marion Kittel (Micky), Imogen Kogge (Otti), Filip Peeters (Fritz), Traute Hoess (Lehrerin), Christian Kaiser (Gustav), Simone von Zglinicki (Oskars Frau), Reiner Heise (Briefträger), Maria Happel (Nachbarin)

Das Wunder Anna

In Zusammenarbeit mit den Fernsehanstalten WDR, ARTE und DRS entstand Ulla Wagners Geschichte eines elfjährigen Mädchens Anfang der 60er Jahre in einer deutschen Kleinstadt.

Anna (Alice Deekeling) wächst nicht gerade in einer behüteten Umgebung auf. Ihre Mutter Sophie (Renée Soutendijk) ist dem Alkohol und Männern zugetan, zwar liebevoll zu den Kindern, aber äußerst labil. Auf ihren jüngeren Bruder Rolli (Stephan Dellgrün) muss Anna aufpassen. Am liebsten hält sich Anna an einem See auf und beobachtet den Laich der Frösche. Sie vermisst einen Vater. Ihr leiblicher Vater, so erfährt sie von ihrer Mutter, sei im Krieg umgekommen. Von Sophie erfährt sie auch, dass der barsche Holzhändler Franz (Götz Schubert), auf dessen Betriebsgelände die Kinder oft spielen, der Bruder ihres Vaters ist. Franz wirbt schon lange um Sophie, die ihn allerdings immer wieder zurückweist.

Sophie hat keine Arbeit, weigert sich, ihren Mann für tot erklären zu lassen, um wenigsten Witwenrente zu bekommen, und so rutscht die Familie immer weiter in finanzielle Schwierigkeiten. Der Vermieter will die Wohnung kündigen. Irgendwann steht die Zwangsräumung an. Anna weiß sich nicht anders zu helfen, als beim Lebensmittelhändler zu stehlen, damit die drei wenigsten zu essen haben. Anna, nicht Sophie, setzt alle Hebel in Bewegung, um aus dieser Situation herauszukommen. Sie bittet Franz, Sophie Geld zu leihen, doch die lehnt ab. Als Anna endlich wissen will, was mit ihrem Vater geschehen ist, erzählt ihr Sophie, dass ihr Vater doch noch lebe, in Frankreich. Anna schreibt ihm einen Brief.

Als die Familie zwangsgeräumt und in einen schäbigen Wohnblock am Stadtrand einquartiert wird, bricht Sophie zusammen. Sie wird in die Psychiatrie eingeliefert. Anna verdient ihr erstes Geld durch Zeitungsaustragen. Sophie kehrt nach einiger Zeit aus der Psychiatrie zurück und öffnet einen Brief von Fritz, ihrem Mann (Filip Peters), an Anna, indem er mitteilt, dass er nicht wieder zurückkehren wird. Sophie bricht erneut zusammen. Sie betrinkt sich maßlos. Und wenig später findet Anna ihre Mutter: tot.

Die Geschwister werden getrennt. Rolli wird Pflegeeltern zugewiesen, Anna bei Franz einquartiert. Für Anna steht nun eines fest: Sie will nach Frankreich und ihren Vater suchen ...

Mit „Anna Wunder“ ist Ulla Wagner ein äußerst einfühlsamer Film gelungen, der aus der Perspektive einer Elfjährigen in den 60er Jahren die seelischen Verstrickungen enthüllt, denen ein pubertierendes Mädchen ausgesetzt ist. Anna weiß im Grunde nichts über ihre Familie. Sie sieht sich einer Situation ausgesetzt, in der sie sich um ihren kleinen Bruder und ihre Mutter kümmern muss, die ihre Kinder zwar liebt, aber nicht dazu in der Lage ist, ihnen das zu geben, was sie brauchen. Für Anna bedeutet dies jedoch nicht den emotionalen und sozialen Absturz. Der Film zeigt eine Perspektive, die dem gängigen Klischee: „Vater respektive Mutter Alkoholiker, soziale Verhältnisse miserabel, Kind(er) verwahrlosen, kriminelle Karriere vorprogrammiert“ entgegengesetzt ist. Nicht, dass es solche „Karrieren“ nicht gäbe, aber es gibt auch andere.

Anna hat – trotz aller Schwierigkeiten und problematischen Umstände – eine große Chance: Sie kann auf die Liebe und die Labilität ihrer Mutter setzen. Das klingt paradox. Aber die Liebe ihrer Mutter und ihre psychische Labilität verschaffen Anna die Möglichkeit, auf der Beantwortung von Fragen zu insistieren, die ihre Familiengeschichte und damit auch ihre Identität konstituieren. Nach und nach rückt Sophie mit der Wahrheit heraus. Die Beziehung zu Fritz und Franz hat Sophies frühere Jahre bestimmt; zu beiden hatte sie ein Verhältnis, konnte sich aber für einen von beiden nicht entscheiden. Nachdem Fritz aus dieser Situation geflohen war, brach für Sophie eine Welt zusammen. Diese Biografie schlägt auf die Situation ihrer Tochter durch. Anna erkennt das, hat zumindest ein unbestimmtes Gefühl über die Konsequenzen dieser Vergangenheit, die so gegenwärtig im Zustand ihrer Mutter ist.

Die Suche nach dem Vater ist der konsequente Schlusspunkt in dem Versuch der Elfjährigen, sich selbst gewiss zu werden. Es ist erstaunlich, wie konsequent und einsichtig diese Entwicklung und das Verhalten Annas inszeniert werden, würde man doch meinen, zu solchem Handeln seien nur Erwachsene imstande. Der Film zeigt aber gerade das Scheitern dieser Erwachsenen, der Mutter, des Onkels und des Vaters, der sich durch Flucht der Verantwortung entzogen hatte. Erst durch das Verhalten Annas ändert sich einiges.

Ulla Wagner erzählt diese Geschichte, ohne in Psychologismen zu verfallen. Sie deutet in einigen Szenen unaufdringlich an, wie unwichtig es ist, dass diese Geschichte in den 60er Jahren spielt. Anna geht z.B. an Bäumen vorbei, an denen Wahlplakate Adenauers angebracht sind. Sie pustet eines dieser Bilder an, das Plakat löst sich ab, der Kanzler ist nicht mehr zu sehen.

Ein Minuspunkt für mich: Renée Soutendijk spielt mir in etlichen Szenen die Mutter zu überpointiert. Besonders wenn sie in der Kneipe trinkt, sich von Männern Anerkennung holen will, wirkt dies oft gekünstelt, übertrieben. Der Film enthält mir zu viele Szenen, in denen Sophie sich Zigaretten anzündet, trinkt, Sequenzen, in denen zu arg auf die labile Situation dieser Frau gedeutet wird, was man längst weiß. Manchmal schadet dies der Glaubwürdigkeit der Geschichte. Alice Deekeling dagegen beweist einmal mehr, welches Potenzial an Jungstars vorhanden ist (zuletzt etwa Sophie Rogall und Tino Mewes in „Fickende Fische“).

Nach „Herz im Kopf“ (2001), „Fickende Fische“ (2001) oder auch „Mein Stern“ (2001) ein weiterer deutscher Film, der sich darauf versteht, Geschichten aus der Perspektive eines Kindes bzw. von Jugendlichen gefühlvoll zu erzählen.

© Bilder: Basis Film