Beijing Bicycle
(Shiqi sui de dan che)
China 2001, 113 Minuten
Regie: Wang Xiaoshuai

Drehbuch: Peggy Chiao, Hsiao-ming Hsu, Danian Tang, Xiaoshuai Wang
Musik: Feng Wang
Director of Photography: Jie Liu
Montage: Ju-kuan Hsiao, Hongyu Yang
Produktionsdesign: Anjun Cao, Chao-yi Tsai

Darsteller: Lin Cui (Guo Liangui), Xun Zhou (Qin), Yuanyuan Gao (Xiao), Shuang Li (Da Huan), Yiwei Zhao (Vater), Yan Pang (Mutter), Fangfei Zhou (Rongrong), Mengnan Li (Qiu Sheng)

Verlorensein und Identität

Ein Film aus dem zwar von der Kommunistischen Partei noch immer geführten, aber längst den kapitalistischen Marktgesetzen unterworfenen China – das kann man sich eigentlich nicht entgehen lassen. Erzählt wird die Geschichte zweier junger Männer, aber letztlich wohl die einer ganzen Generation.

Der junge Guo (Lin Cui) kommt aus der Provinz, vom Land, weil er dort keine Existenz aufbauen kann, verarmt. Neben vielen anderen, denen es ähnlich geht, wird er von einem Unternehmer, der eine privaten Kurierdienst in Beijing betreibt, eingestellt. Jeder Fahrer bekommt ein Fahrrad und anfangs 20% Umsatzbeteiligung. Nach erfolgreicher Einführung in die Arbeit verspricht er 50% Umsatzbeteiligung und die Übereignung des Fahrrads an die jungen Männer.

Guo ist dem rasanten, oft brutalen Großstadtleben, in dem sich die sozialen Gegensätze mehr als deutlich zeigen, nicht gewachsen. Aber er setzt sich ein Ziel: So schnell wie möglich möchte er den Umsatz erreichen, der ihm das Eigentum an dem Fahrrad verschafft. Er strampelt sich ab, beißt sich durch, passt auf sein Fahrrad so gut es geht auf. Doch womit er nicht wirklich gerechnet hat, das passiert. Das Gefährt wird ihm gestohlen. In seiner Verzweiflung vergisst er, einen wichtigen Brief zuzustellen, was ihm prompt die Kündigung einbringt. Doch Guo hat etwas von zu Hause mitgebracht, das ihm jetzt von Nutzen ist: Er ist zäh und eigensinnig. Er überredet seinen Chef, ihn wieder einzustellen, wenn er das gestohlene Fahrrad wiederfindet – in einer Millionenstadt wie Beijing mit Zehntausenden oder mehr Fahrrädern ein Ding der Unmöglichkeit?

Guo sucht überall, wo es ihn hintreibt, und findet nicht weit von seiner Wohnung tatsächlich das Fahrrad. Der junge Student Qin (Xun Zhou) ist offenbar der Dieb. Guo holt sich das Fahrrad zurück und flüchtet vor Qin. Der hat das Fahrrad zwar nicht gestohlen, dafür aber das mühsam gesparte Geld seines Vaters, um das Gefährt auf einem Flohmarkt zu erwerben. Qin, ebenso verzweifelt wie Guo, lässt nichts unversucht, um das Fahrrad, von dem sein Vater und seine Stiefmutter nichts wissen, wieder zu bekommen. Sein Vater hatte ihm ein Fahrrad versprochen, wenn er in der Schule und auf der Universität hervorragende Leistungen vollbringt, konnte sein Versprechen aber mangels genug Geldes nicht halten.

Qin und seine Freunde finden Guo, schlagen ihn brutal zusammen und nehmen das Fahrrad wieder an sich – bis Guo Qins Vater aufsucht und ihm die Geschichte erzählt. Der Kampf zwischen Guo und Qin geht weiter ...

Wang Xiaoshuai erzählt in ruhigen, wortkargen und teilweise mit Jazzmusik untermalten Bildern die Geschichte einer verlorenen Generation, verloren zwischen dem alten China der kommunistischen Ideologie und dem neuen des hereingebrochenen Kapitalismus.

Guo hat keine andere Möglichkeit, als sich in dem Tumult, der Hektik, dem Getriebensein, der Brutalität einer Millionenstadt, die jeden wieder ausspuckt, wenn er nicht spurt oder zu spuren gelernt hat, an etwas zu klammern, etwas festzuhalten, was nur ihm gehört, das er sich verdient. Für ihn ist das Fahrrad nicht einfach ein Gegenstand, ein Gebrauchsgut, ein Arbeitsmittel. Er investiert Herz und Seele in dieses Gefährt, vermeintlicher Schutz gegen die Unbill des neuen Lebens, das er sich nicht ausgesucht, sondern in das ihn die Not getrieben hat.

Für Qin gilt fast das gleiche. Die Gesetze der Stadt, denen sich sein Vater unterworfen hat, weil er keine andere Möglichkeit für seine Kinder sieht zu überleben, treffen Qin mit aller Gewalt. Er muss Leistung zeigen, auf der Schule, im Studium, selbst bei seiner Freundin, der er mehr sprachlos und hilflos gegenübersteht, die er sich nicht einmal getraut zu berühren, geschweige denn zu küssen. Das hat er nicht gelernt; das hat ihm auch niemand gezeigt. Und warum erfüllt er alle Ansprüche, die sein Vater und die Stadt an ihn stellen? Auf das Versprechen hin, ein Fahrrad zu bekommen. Doch das kommt nicht. Er stiehlt Geld. Denn er fühlt sich betrogen.

Guo geht es genauso. Er beobachtet ein junges Mädchen mit roten Schuhen, ist fasziniert von ihr, doch gleichzeitig genauso hilflos wie Qin. Nie würde er dieses Mädchen ansprechen, die aus einer völlig anderen Welt zu sein scheint.

Guo und Qin suchen nicht ein Fahrrad; sie suchen etwas in dem Gefährt, um etwas in sich zu finden. Sie begreifen, dass nur wenn sie etwas Sichtbares, Materielles ihr eigen nennen, sie von anderen Anerkennung zu erwarten haben. Guo soll als Kurier funktionieren, dann bekommt er ein Fahrrad und mehr Geld. Alles andere interessiert niemanden. Qin geht es genauso. Seine Freundin wendet sich von ihm ab, wirft sich einem anderen Jungen an den Hals, der eine verwestlichte Sprache spricht, sich so kleidet, vorweisen kann, die besten Fahrradkunststücke  vorführen zu können. Qin wehrt sich gegen den Verlust seiner Freundin, die noch nicht einmal wirklich seine Freundin war, mit dem einzigen, was ihm bleibt: mit Gewalt.

„Beijing Bicycle“ ist keine harsche, oberflächliche, stereotype, plumpe Gesellschaftskritik. Wang Xiaoshuai mutet dem Zuschauer einiges zu. In langen Sequenzen zeigt er seine Figuren – in der Nähe zum Dokumentarischen – wortlos, schauend, sitzend, verzweifelt. Doch gerade diese Szenen zeugen von der Verlorenheit einer Generation in einer Art von neuer Gesellschaft, in der die sozialen Unterschiede so unerbittlich hart und so deutlich sichtbar sind wie in vielen asiatischen Großstädten auch außerhalb Chinas.

Der Showdown des Films erinnerte mich vage an amerikanische Gangster-Filme, in denen der Kampf bis aufs Messer um etwas geführt wird, um das es geht (hier Fahrrad) und doch nicht geht: um die Erhaltung von Strukturen der Identität, Individualität und Solidarität. Trotz einiger weniger Längen besticht Wang Xiaoshuais Film nachhaltig.

© Bilder: Sunfilm Entertainment