Camorra
(Un complicato intrigo di donne, vicoli e delitti)
Italien 1986, 115 Minuten
Regie: Lina Wertmüller

Drehbuch: Elvio Porta, Lina Wertmüller
Musik: Tony Esposito
Director of Photography: Giuseppe Lanci
Montage: Michael J. Duthie
Produktionsdesign: Enrico Job

Darsteller: Ángela Molina (Annunziata), Harvey Keitel (Frankie), Isa Danieli (Carmela), Paolo Bonacelli („Tango” Rocco), Vittorio Squillante (Tony), Francisco Rabal (Guaglione Rocco), Tommaso Bianco (Bartolomeo „Baba” Rocco), Daniel Ezralow (Toto)

Rache und Gerechtigkeit

Wer kennt schon die italienische Regisseurin Lina Wertmüller, die vor allem in den 70er Jahre durch etliche Filme auf sich aufmerksam machte? „Liebe und Anarchie” (1973) – der Originaltitel lautet „Film d’amore e d’anarchia, ovvero ‘stamattina alle 10 in via dei Fiori nella nota casa di tolleranza’ ...” – ist wohl ihr bekanntester, jedenfalls für ein Publikum, das damals schon ins Kino laufen konnte. Giancarlo Giannini spielte damals die Hauptrolle, und auch ansonsten konnte Lina Wertmüller einige Stars für ihre Filme verpflichten. Etwa die leider hier viel zu selten zu sehende spanische Schauspielerin Ángela Molina, zuletzt etwa in „Annas Sommer” (2001). Oder den im Juni dieses Jahres verstorbenen Nino Manfredi, der in „Fatto di sangue fra due uomini per causa di una vedova – si sospettano moventi politici” (zu dt. schlicht „Blutfehde”) 1978 die Hauptrolle spielte. Neben Giannini ist Mariangela Melato eine der von Lina Wertmüller oft beschäftigten Schauspielerinnen, die aber nur in Italien bekannt zu sein scheint.

Die 1928 in Rom geborene Regisseurin war bereits in ihrer Jugend eine aufmüpfige Frau, verweigerte dem Vater den Wunsch, Juristin zu werden, gründete in den 50er Jahre eine Theatergruppe, arbeitete als Autorin, Bühnenbildnerin, Schauspielerin und kam durch die Freundschaft mit Marcello Mastroianni und seiner Frau Flora Carabella zum Film. Bei Fellini arbeitete sie als Regieassistentin bei dessen Film „8 ½” und drehte 1963 ihren ersten eigenen Film.

Wertmüllers Filme gehören nicht gerade zum Mainstream, sind mal grotesk, mal feministisch, mal populistisch, mal politisierend und zumeist von allem etwas. Vielen Intellektuellen in den 70er Jahren kamen ihre Filme wohl gerade recht. Sie waren irgendwie links und irgendwie chic und irgendwie radikal und humorvoll. „Mimi – in seiner Ehre gekränkt” (1972), „Hingerissen von einem ungewöhnlichen Schicksal im azurblauen Meer im August” (1975) und „Sieben Schönheiten” (1976) gehörten zu ihren größten Erfolgen, auch in den USA.

Mit manchen Filmen der Wertmüller nach 1980 habe ich so meine Probleme. „Shampoo, Sex und Politik” (2000) ist eine nette Polit-Komödie, schwungvoll, aber doch eher harmlos, eine Art Persiflage auf die Zeit des Untergangs der alten italienischen Parteien und die Probleme, die insbesondere Männer u.a. mit diesem Strukturwandel haben. „Reich und Gnadenlos” (1987) ist ein meinem Gefühl nach misslungener Versuch über die Verkehrung von Geschlechterrollen.

In „Camorra” aber geht es um anderes:

Annunziata (Ángela Molina) war einmal Prostituierte. Vor drei Jahren hatte sie das Etablissement in die „Pension Broadway” umgewandelt und ihren Beruf an den Nagel gehängt. Dafür muss sie Bartolomeo Rocco (Tommaso Bianco), Spross der berüchtigten Camorra-Familie Rocco, Geld abdrücken. Als Bartolomeo, genannt Baba, wieder einmal bei ihr erscheint, um sich Geld zu beschaffen, versucht er, Annunziata zu vergewaltigen. Sie wehrt sich mit Erfolg, und plötzlich erschießt jemand Baba von hinten. Annunziata ist bewusstlos, hat nicht erkannt, wer Baba getötet und ihm dann eine Spritze in den Hoden gesteckt hat. Auch die Polizei ist ratlos, warnt Annunziata allerdings vor der Verfolgung durch die Mörder, die sie als unliebsame Zeugin ansehen könnten.

Durch einen anonymen Hinweis verfolgt die Polizei eine Spur in einem Tanzclub, der von Toto (Daniel Ezralow) geleitet wird und in dem sich vor allem Homosexuelle aufhalten. Toto war am Tatort. Nachweisen kann man ihm nichts, vor allem ist kein Motiv ersichtlich. Der ermittelnde Kommissar traut auch Annunziata nicht über den Weg, kann ihr allerdings nicht nachweisen, dass sie lügt. Als sie aus dem Polizeigebäude kommt, fängt sie ihr Ex-Freund und Vater ihres Kindes Frankie (Harvey Keitel) ab, der mit Drogen handelt und ein letztes großes Geschäft mit Heroin machen will. Er begehrt Annunziata noch immer, ist eifersüchtig auf jeden Mann, der sich ihr nähert und will, dass sie mit ihm nach dem letzten Deal ins Ausland verschwindet. Doch Annunziata weigert sich.

Frankie macht eine Menge krumme Geschäfte, vor allem zusammen mit dem Bauunternehmer Tony (Vittorio Squillante), dessen Frau Carmela (Isa Danieli) davon nichts ahnt. Vor einiger Zeit war beider kleiner Sohn durch Rauschgift umgekommen. Frankie und Tony sind dem Clan der Roccos ein Dorn im Auge. Sie vermuten Frankie hinter dem Mord an Baba. Dann findet man ein weiteres Mordopfer, dem ebenfalls eine Spritze in die Genitalien gestochen wurde.

Guaglione Rocco (Francisco Rabal), der fast blinde Vater des ermordeten Baba, hat Streit mit seinem zweiten Sohn, der Tango (Paolo Bonacelli) genannt wird. Guaglione war schon immer gegen Rauschgiftgeschäfte seiner Familie, doch Tango hat inzwischen mehr zu sagen als er. Auch Tango verhört Annunziata in einem geheimen Versteck in seiner Prachtvilla. Als dort die Polizei aufgrund eines anonymen Hinweises eine Razzia durchführt und Tango festnehmen will, wird der – fast vor den Augen aller Anwesenden – auf die gleiche Art ermordet wie sein Bruder.

Die Polizei hat langsam, aber sicher Zweifel daran, dass die Morde Teil eines Krieg zwischen rivalisierenden Mafia-Clans sind. Und Annunziata, die sich in Toto verliebt und ihm zu verdanken hat, dass er ihrem Sohn das Leben rettete, als zwei Drogendealer den Jungen süchtig machen wollen, fühlt sich durch Frankie immer stärker unter Druck gesetzt ...

„Camorra” ist sicherlich ein Krimi, der übrigens in Neapel und Umgebung spielt, sicherlich eine Liebesgeschichte – zwischen Annunziata und Toto –, sicherlich ein Mafia-Film – jedenfalls von allem ein bisschen. Vor allem ist der Film aber eine spitze Anklage nicht nur gegen die Camorra, sondern vor allem auch gegen eine Männerwelt, in der ausschließlich Gewalt, Geld und gewalttätiger und gekaufter Sex zählen. Dabei geht Lina Wertmüller durchaus nicht frontal gegen „die” Männer vor. Im Gegenteil: Im Film erkennt man drei sehr unterschiedliche Typen von Männern:

Da ist Frankie, gespielt von dem (in der äußeren Erscheinung etwas auf italienisch getrimmten) Harvey Keitel, einer der nur sich kennt, der skrupellos mit Heroin handelt, seine Leute bereits Kinder abhängig machen lässt und von dem großen Traum beseelt ist, nach einem letzten Coup den Ort des Geschehens zu verlassen und im Reichtum zu leben. Bei Frankie ist jeder Coup der letzte. Er sieht die Welt als große Handelsbilanz: Die einen sterben im Drogenkrieg, die anderen werden reich und bekommen zumindest ein gutes Stück vom Kuchen ab. Kaum anders denkt Tango, der schmierige Casanova der Familie Rocco, hintertrieben, geschäftstüchtig und gewissenlos.

Toto ist da ganz anders. Er erzählt Annunziata, dass er sie schon als Kind gemocht habe, versucht habe zu verhindern, dass ihr Bruder sie mit 13 auf den Strich schickt. Ihr Bruder habe sich bitter gerächt, ihn mit Unterstützung von drei anderen vergewaltigt. Danach ging Toto in die USA. Und jetzt? Toto liebt Annunziata, er liebt seinen Beruf als Tänzer und Tanzlehrer, und für ihn zählt nichts anderes. Er setzt sein Leben dafür ein, Annunziatas Sohn zu retten.

Und schließlich treffen wir auf Babas und Tangos Vater, den Ex-Camorra-Chef Guaglione, einen „ehrbaren” Mafiosi, der nie mit Drogen Geschäfte machen wollte, der jetzt den Mörder seiner Söhne finden will, der aber zum Schluss erkennen muss, dass es nicht die Rache ist, die ihn von nun an treibt, sondern Mitgefühl mit denen, die seine Söhne ermordet haben.

Auch die Frauen werden bei Lina Wertmüller nicht über einen Kamm geschert. Da gibt es Annunziata, die mit ihrem Sohn endlich aus der Abhängigkeit der Camorra heraus will, Carmela und die anderen Frauen des Armenviertels in Neapel, denen es nicht anders geht und die um ihre toten Kinder weinen. Und dann gibt es die vielen Frauen im Hause Tangos, des Casanovas mit viel Geld, die ihm hörig sind, ihn gegen die Polizei verteidigen, ihn verehren, um nicht zu sagen: ihm devot huldigen.

Lina Wertmüller inszenierte „Camorra” trotz der Tragik des Geschehens mit einem guten Schuss Humor. Spritzen in den Hoden der Mordopfer – das entbehrt nicht einer gewissen Skurrilität. Der Kommissar, der irgendwann kurz vor dem Verzweifeln ist, meint: „Früher wollte ich mit Zigarren handeln, jetzt handle ich mit Leichen.”

„Camorra” ist eine Anklage; und es sind die Frauen, die sie führen und entsprechend handeln. Der Schluss des Films, in dem offenbar wird, wer die Morde zu verantworten hat, drückt dies aus, wenn auch meinem Empfinden nach die Moral ein bisschen zu dick aufgetragen wird.

Die Schauspieler sind nicht nur gut gewählt, sie spielen auch überzeugend, allen voran Harvey Keitel und Ángela Molina, aber auch Isa Danieli und Paolo Bonacelli in der Rolle des leicht verrucht-schmierigen Tango und Francisco Rabal – ein früher viel beschäftigter spanischer Schauspieler, der 2001 verstorben ist – als zweifelnder und an sich selbst zweifelnder Guaglione.


 

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