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Madame Bovary (1991) Die Blume des Bösen (2003) Biester (1995) Süßes Gift (2000)
Madame Bovary (Madame Bovary) Frankreich 1991, 136 Minuten Regie: Claude Chabrol
Drehbuch: Claude Chabrol, nach dem Roman von Gustave Flaubert Musik: Matthieu Chabrol, Maurice Coignard Director of Photography: Jean Rabier Montage: Monique Fardoulis Produktionsdesign: Michèle Abbé-Vannier
Darsteller: Isabelle Huppert (Emma Bovary), Jean-François Balmer (Charles Bovary), Christophe Malavoy (Rodolphe Boulanger), Jean Yanne (M. Homais, Apotheker), Lucas Belvaux (Leon Dupuis, Anwalt), Jean-Louis Maury (Lhereux, Stoffwarenhändler), Christiane Minazzoli (Witwe Lefancois), Florent Gibassier (Hippolyte), Jean-Claude Bouillad (Monsieur Rouault, Vater Emmas), Sabeline Campo (Felicite, Hausangestellte der Bovarys), Yves Verhoeven (Justin, Bursche von Homais)
Tödliche Enge
„Haben Sie nicht auch die Empfindung, dass die Seele beim Anblicke dieser unermesslichen Weite Flügel bekommt, die Flügel der Andacht, die ins Reich der Ewigkeiten emporheben, in die Sphäre der Ideen, der Ideale?“ (Emma Bovary)
Gustave Flauberts (1821-1880) zunächst 1856 in der Zeitschrift „Revue de Paris“,dann 1857 in Buchform erschienener Roman „Madame Bovary“, zeitweise verboten wegen „Verstoß gegen die öffentliche Moral, die guten Sitten und die Religion“, auf deutsch erst 1907 herausgegeben, reizte etliche Regisseure vor Claude Chabrol zu einer Visualisierung. Zu nennen wären hier v.a. Vincenti Minellis Film aus dem 1949 (mit Jennifer Jones, James Mason, Van Heflin und Louis Jordan in den Hauptrollen) sowie Jean Renoirs Adaption von 1933. 1937 wagte sich Gerhard Lamprecht (mit Pola Negri in der Hauptrolle), 1947 der Argentinier Carlos Schlieper an den Stoff. Daneben existieren sechs TV-Produktionen, u.a. 1968 von Hans-Dieter Schwarze (mit Elfriede Irall, Günter Strack und Dietmar Schönherr) und zuletzt etwa Tim Fywells Produktion aus dem Jahr 2000 mit Frances O’Connor als Emma Bovary.
Chabrols Adaption ist einerseits stark beeinflusst von Flauberts sezierender Kritik des Bürgertums, aber auch von dessen Schilderung der Unvereinbarkeit stark romantisierender Vorstellungen mit der kleinbürgerlichen Welt, in der die Bovary aufwächst und lebt. Zum anderen geht Chabrol den Weg einer nüchternen, manchmal fast trockenen, sehr profanen und schnörkellosen Inszenierung der Geschichte Emma Bovarys.
Emma (Isabelle Huppert), Tochter eines begüterten Bauern (Jean-Claude Bouillaud), wächst in der Enge der französischen Provinz auf. Sie lernt den schüchtern wirkenden, vor allem aber biederen und mit seinem Leben offenbar vollauf zufriedenen Arzt Charles Bovary (Jean-François Balmer) kennen und heiratet ihn. Doch die Unzufriedenheit ihres bisherigen Lebens zu Hause setzt sich auch in der Ehe mit Charles fort. Als ihr Mann eine Einladung zu einem Ball eines Aristokraten erhält, sieht Emma zum ersten Mal die Welt des Adels, Bürgertums und des Geldes und erklärt ihrem Mann, dies sei der schönste Tag in ihrem Leben gewesen.
Emma, die sich in die Welt der Musik und der schöngeistigen Literatur vergräbt und hier ihre Träume findet, fragt sich bald, warum sie überhaupt geheiratet hat. Charles, der die Gefühle seiner Frau nicht kennt, nur sieht, dass die Unzufriedenheit Emmas größer wird, beschließt, seine Praxis in eine größere Stadt zu verlegen, nach Yonville in der Nähe von Rouen. Sie ist schwanger und die Bovarys bekommen ein Mädchen, Berthe.
In Yonville lernt Emma den jungen angehenden Anwalt Leon Dupuis (Lucas Belvaux) kennen, mit dem sie sich des öfteren trifft. In ihm sieht Emma einen Hoffnungsschimmer für ein anderes Leben. Doch obwohl oder gerade weil sich Leon in Emma verliebt, geht er nach Paris. Emma fühlt sich immer eingeengter in eine Welt, in der jeder Tag wie der andere aussieht, in einer Stadt, die von Männern wie dem geschäftstüchtigen Apotheker Homais (Jean Yanne) und dem ebenso geldgierigen Stoffwarenhändler Lhereux (Jean-Louis Maury) geprägt ist.
Erst der reiche und gut aussehende Landbesitzer Rodolphe Boulanger (Christophe Malavoy) lässt Emma wieder hoffen, ihre romantischen Phantasien könnten Wirklichkeit werden. Während eines für die reichen Bewohner Yonvilles wichtigen Landwirtschaftsfestes macht Boulanger Emma den Hof, redet gegen die öffentliche Moral und die Konventionen. Emma beginnt eine heimliche Liaison mit ihm. Ihre Ehe mit Charles wird für sie immer erdrückender, obwohl Charles sie liebt und ihr immer wieder zur Seite steht. Gleichzeitig lebt Emma über ihre Verhältnisse und verschuldet sich mehr und mehr bei Lhereux. Als sie Boulanger bittet, mit ihr aus der Enge der Kleinstadt auszubrechen, macht der einen Rückzieher.
Und auch das Wiedersehen mit Leon, mit dem Emma wenig später eine Liebschaft beginnt, rettet die Familie Bovary nicht vor dem finanziellen Ruin. Schließlich scheint für Emma nur noch der Selbstmord als Ausweg aus ihren gescheiterten Sehnsüchten und einem erhofften ganz anderen Leben.
Chabrols Adaption dieses (von manchen für unverfilmbar gehaltenen) Romans Flauberts wirkt auf den ersten Blick zu stark unterkühlt, fast gefühllos, „mechanisch“ erzählt. Lässt man den Film jedoch noch einige Zeit auf sich wirken, wird deutlich, welch fantastischen Realismus Chabrol in das Spiel der Schauspieler und die Geschichte einfließen lässt, wie er ohne Schnörkel die kleinbürgerlichen Verhältnisse in ihrer Substanz ausbreitet und selbst in den (scheinbar) romantischen Szenen – wenn Emma ihre Verhältnisse mit Boulanger und Leon auszuleben scheint – die Skrupellosigkeit und Berechnung aller Handelnden enthüllt.
Zu danken ist diese Art der Inszenierung vor allem auch der Hauptdarstellerin Isabelle Huppert, die wie gewohnt exzellent eine Frau darstellt, die ihr vermeintliches Glück nicht in sich selbst, sondern in erträumten, romantisierten Vorstellungen sucht. Die Bälle, das Geld, die große Liebe eines Mannes, das Ansehen der feinen Gesellschaft scheinen Emma das Erstrebenswerte. Die Huppert spielt Emma als äußerlich zumeist gefasste, ihre Emotionen nach außen meist verbergende Frau, die oft kalt ihre Sehnsüchte träumt und sie zu realisieren sucht, und die, wenn sie die Enge und die Gesetze der kleinbürgerlichen Welt, der sie nicht wirklich entkommen kann, einholen, im nervlichen Zusammenbruch und in der Hysterie den einzigen Ausweg für ihre psychischen wie physischen Kollaps finden kann. Mit steinerner Miene kommentiert die Huppert – hierin ist sie grandios (man vergleiche ihre Rolle der Frau Professor Kohut in „Die Klavierspielerin“ von Michael Haneke nach einem Roman von Elfriede Jelinek; oder auch ihre Augustine in François Ozons „8 femmes“) –, wozu andere Schauspieler(innen) einen enormen Aufwand an Gestik und Mimik benötigen.
Chabrol kann aber auch auf den Rest des Ensembles setzen, auf den einen biederen, fast tölpelhaften, nichtsdestotrotz grundehrlichen und liebenden Charles Bovary spielenden Jean-François Malavoy, auf den einen skrupellos spekulierenden Händler verkörpernden Jean-Louis Maury und nicht zuletzt auf den einen in der kleinbürgerlichen Welt emporkommen wollenden Apotheker mimenden Jean Yanne. Auch die beiden Liebhaber der Emma – den romantisch veranlagten Leon Dupuis und den Frauenheld Boulanger – werden von Lucas Belvaux und Christophe Malavoy überzeugend gespielt.
So entsteht das Sittenbild einer Welt, der entweder keiner entkommen will oder keiner entkommen kann, in der letztlich das Geld über alle Moral, alle Sehnsüchte, alle Liebe und Liebschaften, alle Hoffnungen und Wünsche siegt. Chabrol gelingt es, auch Emmas Verlorenheit in dieser Welt plastisch und drastisch zu schildern. Als sie – hoch verschuldet – zum Schluss Boulanger und Leon um Geld bittet, um dem familiären Ruin zu entgehen, lassen sie beide im Stich. Der Selbstmord erscheint in dieser Katastrophe der für Emma einzige Ausweg. Nicht nur das: Die Verlogenheit, die hinter moralischer Fassade mehr schlecht als recht versteckte Gier der örtlichen Honoratioren, der Emma zum Opfer fällt und denen sie sich – unbewusst – zugleich als Opfer angeboten hatte, steht Emmas Gier nach einer Welt des Luxus und der Begierde gegenüber, die sie für den Anfang eines „ganz anderen Lebens“ und die Erfüllung von Glück hält. Sie kann nicht verstehen, dass sich ihr diese Welt verschließt, weil sie zum größten Teil aus eigenen Illusionen besteht.
Besonders drastisch kommt Chabrols Interpretation auch dort zum Ausdruck, wo es um das Verhältnis Emmas zu ihrem Mann und ihrer Tochter geht. Für beide empfindet sie letztlich kein Interesse. Nur ab und an leuchten in Emmas Augen die Zuneigung zu ihrem Kind und die Dankbarkeit für ihren Mann auf. Doch dies sind mehr unbewusste Reflexe einer in Emma verborgenen, von ihr aber bekämpften und eingesperrten wirklichen Fähigkeit zur Liebe, die von ihren illusionären und anderen gegenüber skrupellosen Phantasien besiegt wird.
Der Selbstmord Emmas ist letztlich auch Ausdruck ihrer Kapitulation vor einer Welt, in der sie nicht leben, gegen die sie aber auch kein eigenes Leben setzen konnte, weil sie diese von ihr gehasste Welt immer wieder für sich in Anspruch genommen hatte.
Chabrols Adaption des Stoffes gehört für mich zu den am meisten beeindruckenden und zugleich erschreckenden Romanverfilmungen der Filmgeschichte.
Die Blume des Bösen (La fleur du mal) Frankreich 2003 Regie: Claude Chabrol
Drehbuch: Claude Chabrol, Caroline Eliacheff, Louise L. Lambrichs Musik: Matthieu Chabrol Director of Photography: Eduardo Serra Montage: Monique Fardoulis Produktionsdesign: Françoise Benoît-Fresco
Darsteller: Nathalie Baye (Anne), Benoît Magimel (François), Suzanne Flon (Tante Line), Bernard Le Coq (Gérard), Mélanie Doutey (Michèle), Thomas Chabrol (Matthieu), Henri Attal (Fannys Schwiegervater), Caroline Baehr (Fanny), Michel Herbault (Der Bürgermeister)
Mitgefangen, mit gehangen ?!
Chabrol ist in den vergangenen Jahren ruhiger geworden, aber nicht weniger bissig. Während Klassiker wie „Le boucher“ (1969) oder „Les fantômes du chapelier“ (1982) noch stärker als spannungsgeladene Thriller angelegt waren, ist sein Film „La fleur du mal“ eher bedächtig, treibt fast unmerklich seine Protagonisten – allesamt, wie sollte es bei Chabrol anders sein, Angehörige des Bürgertums – durch eine Geschichte von Lug und Trug, Verbrechen und Fassade.
Allein die Verhältnisse der Familie Charpin-Vasseur sind derart verwickelt, dass sich aus ihnen selbst schon die Möglichkeit der Intrige, der Lüge und des Verbrechens ergeben könnte. Gérard (Bernard Le Coq) ist Apotheker und in zweiter Ehe mit Anne (Nathalie Baye) verheiratet. Beider Ex-Partner starben bei einem mysteriösen Autounfall. Anne hat aus erster Ehe eine Tochter, Michèle (Mélanie Doutey), die Psychologie studiert. Gérard brachte in die Ehe seinen Sohn François (Benoît Magimel) mit. In der Familie lebt zudem die Tante Annes, Micheline Charpin, genannt Line (Suzanne Flon), deren Vater mit den Nazis kollaboriert hatte und später ermordet worden war. Line wurde damals des Mordes an ihrem Vater verdächtigt, aber freigesprochen.
Aus diesem familiären Gespinst zaubert Chabrol eine kleine, aber feine Kriminalgeschichte. Anne kandidiert als unabhängige Bewerberin für die demnächst vakant werdende Stelle des Bürgermeisters irgendwo in der Gegend um Bordeaux. Gérard passen diese politischen Ambitionen seiner Frau überhaupt nicht. Er vertreibt sich die Zeit in seiner Apotheke mit jungen Frauen auf der Couch. Zudem gerät er bei Annes Tochter Michèle in Verdacht, der Verfasser eines anonymen Flugblatts zu sein, in dem die Vergangenheit der Familie bloßgestellt wird. François, der gerade von einem mehrjährigen Aufenthalt aus den USA zurückgekehrt ist, verachtet seinen Vater. Zudem ist er seit seiner Kindheit in Michèle vernarrt, und sie in ihn. Kaum ist François in den Schoß der Familie zurückgekehrt, verzieht er sich mit Michèle in ein Haus, dass Line gehört.
Währenddessen putzt Anne zusammen mit ihrem Wahlkampfhelfer Matthieu (Thomas Chabrol) die Klinken bei potentiellen Wählern in Sozialwohnungen. Matthieu ist Anne sehr zugetan, während Gérard böse ist, dass François – kaum zurück aus den USA – eine intime Beziehung mit Michèle beginnt. Denn Gérard hat keine Skrupel, auch seiner Stieftochter nachzustellen. Während Anne – oberflächlich empört über die Zustände in den Sozialwohnungen, in Wirklichkeit jedoch angewidert von deren Bewohnern – Stimmen sammelt und gute Chancen zu haben scheint, Bürgermeisterin zu werden, stellt Gérard Michèle sein Arbeitszimmer zur Verfügung, um ihr später dort nachzustellen. Ein Totschlag, der Wahlsieg Annes und ein Familiengeheimnis, das Line offenbart, enthüllen die tragischen Verwicklungen der Familie Charpin-Vasseur ...
Der Tod und das Leben spielen eine merkwürdige Rolle in den Familien, die Chabrol zeigt. In einer manchmal zum Bersten ruhigen Weise, in der das Verhalten der Figuren fast schon selbstverständlich erscheint, konstruiert und rekonstruiert Chabrol die Tragik einer Klasse, in der Egozentrik und Skrupellosigkeit, Mitgefühl und Zuneigung kaum noch auseinander zu halten sind, eine explosive Mischung abgeben, so dass am Ende Erfolg und Scheitern derart dicht beieinander liegen, dass nur noch eine Schlussfolgerung möglich bleibt: Sie können nicht anders.
Der Tod kommt als Totschlag oder Mord. Ob mysteriöser Unfalltod, Vatermord, Stiefvatermord – all dies dient einer Art Bereinigung der Vergangenheit, die eigentlich gar nicht existiert, so präsent ist, als wenn 60 Jahre ein Pappenstiel wären. Nur Line weiß dies, versucht und hat schon immer versucht, schützend ihre Hand über die Familie zu halten. „Wir leben immer nur jetzt“, sagt sie. Der bewusst herbeigeführte Tod scheint das Schmieröl, das den familiären Kollaps verhindern soll. Die Vertuschung des Verbrechens, das Schweigen über den Tod, den Mord ist die Kehrseite dieser Medaille.
Der Wahlkampf Annes entspricht seiner Struktur nach fatalerweise genau diesem Muster. Anne will Macht, um etwas zu verändern. Was, bleibt im Dunkeln. Ekel überkommt einen, wenn sie und der aalglatte Matthieu sich in die Wohnungen armer Leute begeben, deren Leben und Mentalität sie sowieso nicht verstehen können. Sie flüchten geradezu über das Treppenhaus, um frische Luft zu schnappen: ihre Luft, denn die da oben im zehnten oder elften Stock „riechen“ ungewohnt schlecht. Andererseits Gérard, ein hintertriebener Egozentriker, dessen Ehe mit Anne schon lange nur noch Fassade ist, vielleicht schon immer war. Gérard führt einen anderen Kampf: Er erobert Frauen. Dieser Kick ist für den reichen Apotheker Ausdruck seiner Macht(besessenheit). Der besondere Kitzel für ihn wäre die Eroberung Michèles. Als er diese Grenze überschreitet, muss er mit dem Leben bezahlen.
Doch das ist Chabrol nicht genug, weil es seinen Figuren nicht genug ist. Michèle und François mögen sich seit ihrer Kindheit. François war vor seiner Familie geflüchtet, vor allem seinem Vater. Jetzt kehrt er zurück. Warum? Er liebt Michèle. Sie scheinen ein Traumpaar zu sein. Doch auch hier erweist sich Chabrol als listiger Säer von Zweifeln. Die beiden scheinen zu perfekt füreinander geschaffen. Der inzestuöse Geruch ihrer Beziehung ist stets präsent. Der Tod Gérards setzt beiden – möglicherweise – eine Grenze.
Chabrol ist kein Moralapostel. Er bewertet seine Protagonisten nicht, er stellt sie „nur“ bloß. Er zeigt, wie sie sich geben, und die Konsequenzen ihres Verhaltens. Der Wahlsieg Annes markiert den Tod all dessen, was sie und Matthieu an mehr oder weniger lauen Versprechungen abgegeben haben, den Tod des Politischen als einer Sphäre im Leben aller Menschen. Anne repräsentiert als designierte Bürgermeisterin nicht das Politische, sondern die Kaste der Politiker, die das Politische für sich vereinnahmt haben. Für die Menschen in den Sozialwohnungen ändert sich nichts. Ihnen wurde das Politische entzogen; sie stehen mehr oder weniger mit leeren Händen da. Und während Anne und Matthieu den Sieg der Kaste bei Champagner und kaltem Buffet feiern, müssen Line und Michèle eine Leiche die Treppe hinauf schleppen. Der Tod lauert an jeder Ecke. Gérard wird zum Symbol eines (groß-)bürgerlichen Lebens, in dem das Überschreiten der Grenzen, zu dem diese Mentalität allerdings selbst provoziert, Opfer fordert. Die Zufälligkeit seines Todes täuscht über die Konsequenz hinweg, die sich aus der Mentalität dieses Lebens ergibt, ja, ist selbst Fassade einer den Protagonisten unbewussten Herrschaft ihrer eigenen Regeln. Sie produzieren und reproduzieren eine Lebensweise, ohne sich darüber wirklich im klaren zu sein. Nur Line – steinalt geworden – weiß in der Retrospektive um die Tragik dieses Lebens, ohne jedoch von dem Regelwerk, das ihre Familie beherrscht, lassen zu können: Sie muss Michèle schützen; der Kreis schließt sich und ein neuer tragischer Reigen kann beginnen.
Chabrols „La fleur du mal“ wird nicht jedem zusagen. Es gibt Kritiker, die dem Film fehlende Spannung vorwerfen. Im Vergleich mit älteren seiner Filme mag dies zutreffen. Aber manchmal ergibt sich Spannung nicht aus einer vordergründigen Verwendung kriminalistischer Effekte oder der Einbettung einer derartigen Geschichte in die Hülle eines Thrillers. „La fleur du mal“ beherrscht eine subtile Zeichnung der Charaktere und ihres Verhaltens, ihrer Worte. Das macht mir den Film lieb.
Weitere Filme Chabrols: “Die untreue Frau” (1969)
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