Das Gesicht
(Ansiktet)
Schweden 1958, 100 Minuten
Regie: Ingmar Bergman

Drehbuch: Ingmar Bergman
Musik: Erik Nordgren
Director of Photography: Gunnar Fischer
Montage: Oscar Rosander
Produktionsdesign: P. A. Lundgren

Darsteller: Max von Sydow (Albert Emanuel Vogler), Ingrid Thulin (Manda Vogler alias Herr Aman), Gunnar Björnstrand (Dr. Vergerus), Naima Wifstrand (Großmutter Vogler), Bengt Ekerot (Johan Spegel), Bibi Andersson (Sara), Gertrud Fridh (Ottilia Egerman), Lars Ekborg (Simson, Kutscher), Toivo Pawlo (Strabeck, Polizeipräsident), Erland Josephson (Konsul Egerman), Åke Fridell (Tubal), Sif Ruud (Sofia Garp), Oscar Ljung (Antonsson, Kutscher Egermans), Ulla Sjöblöm (Henrietta Starbeck), Birgitta Pettersson (Sanna), Axel Düberg (Rustan, Bediensteter Egermans)

Magie der Kunst und Rationalität

Wie ein Scherenschnitt öffnet sich das Bild auf eine Landschaft, auf eine Kutsche und deren Insassen. Wir schreiben das Jahr 1846. Und der Erzähler erläutert uns kurz, dass es um ein merkwürdiges Ereignis gehe, um teils skurrile Figuren, die mit der Kutsche unterwegs sind in die schwedische Hauptstadt. Fast sieht es so aus, als wären wir in einem Märchen oder Fantasy-Film. Aber das täuscht.

Dieser wenig bekannte Film des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman präsentiert uns mit seinen Stammschauspielern Max von Sydow, Ingrid Thulin, Bibi Andersson und Erland Josephson eine tatsächlich merkwürdige Geschichte, die um die Themen Rationalität und Irrationalität, Kunst und die Wahrnehmung von Künstlern und Gauklern in der Öffentlichkeit kreist, eine in gewisser Weise sehr persönliche Geschichte des Regisseurs, die nicht zuletzt die Frage stellt, ob Kunst angesichts einer zunehmend rationalistischeren Welt überhaupt noch eine Existenzberechtigung zugesprochen wird.

Wir treffen auf das „Magnetische Heiltheater” des Arztes und Magiers Dr. Albert Emanuel Vogler (Max von Sydow). In seiner Begleitung reisen seine Frau Manda (Ingrid Thulin), die sich meist als Mann verkleidet und Herr Aman nennt, die Großmutter Voglers (Naima Wifstrand), die sich gern in der Rolle einer Hexe sieht, der redselige Tubal (Åke Fridell) und der Kutscher Simson (Lars Ekborg). Vogler ist schweigsamer Mann, trägt eine Perücke und einen Bart und verkauft sich in der Öffentlichkeit als Stummer. Auf dem Weg durch den Wald gabelt die Truppe einen Schauspieler namens Johan Spegel (Bengt Ekerot) auf, der glaubt, im nächsten Moment sterben zu müssen. Und tatsächlich glauben die Mitglieder der Truppe, Spegel sei wenig später in der Kutsche gestorben. Der Schauspieler ist verzweifelt, weil er keine Anerkennung für sein Tun (mehr) bekommt.

An einer Polizeistation werden die Gaukler, die auf Jahrmärkten in ganz Europa auftreten, festgehalten und nach einer kurzen Kontrolle zwangsweise zum Haus von Konsul Egerman (Erland Josephson) gebracht. Dort warten der Naturwissenschaftler Dr. Vergerus (Gunnar Björnstrand), Egerman und der Polizeipräsident Starbeck (Toivo Pawlo), um Vogler zu empfangen. Sie wissen über Vogler, dass der durch sein „magnetisches Heiltheater” angeblich Menschen von ihrer Krankheit befreit habe. Vergerus und Egerman haben eine Wette abgeschlossen: Vergerus ist der Meinung, was Vogler mache, sei Betrug, es gebe keine übersinnlichen Fähigkeiten und Kräfte. Egerman und seine Frau Ottilia (Gertrud Fridh) hingegen sind von solchen Fähigkeiten überzeugt. Starbeck glaubt nur, was er sieht; er steht auf Vergerus Seite und hat sowieso etwas gegen fahrendes Volk und Gaukler.

Starbeck zwingt Vogler und seine Truppe unter Drohungen, am nächsten Morgen eine Privatvorstellung zu geben – um zu beweisen, dass er ein Schwindler ist.

Auch die Hausangestellten haben natürlich von der Ankunft der Truppe erfahren. Egerman schickt die fahrenden Künstler in die Küche zum Esen, und dort treffen sie auf die beiden Mägde Sara (Bibi Andersson) und Sanna (Birgitta Pettersson), die Köchin Sofia Garp (Sif Ruud) und den mürrischen Kutscher Egermans Antonsson (Oscar Ljung). Während Tubal und Großmutter Vogler ihre Mittelchen verkaufen, die angeblich die Liebeskräfte steigern, macht sich Simson an die schöne Sara heran, vorsichtig, aber bestimmt, und Tubal und Sofia fühlen sich ebenfalls voneinander angezogen. Nur Antonsson bleibt mürrisch und skeptisch gegenüber den Voglers; er hasst das fahrende Volk genauso wie Starbeck.

Am nächsten Morgen kommt es zur Vorführung der Voglers. Und – kaum zu glauben – ausgerechnet Antonsson wird zum „Opfer” eines Tricks, bei dem – offenbar aus Versehen – Vogler sein Leben lassen muss. Dann allerdings kommt alles anders, als sich Egerman, Starbeck und Vergerus es sich gedacht hatten ...

Man könnte meinen, den Film beherrsche eine überwiegend düstere Atmosphäre. Doch Bergman gelingt es, in diese teilweise Finsternis – inszeniert in prachtvollen Bildern, in denen mit Licht- und Schatteneffekten gearbeitet wird – einen guten Schuss Ironie und Komik zu „schütten”, der bis zum Schluss die Geschichte in einem zwar ernsten und kritischen Licht erscheinen lässt, aber darüber Lebensfreude und Heiterkeit nicht vernachlässigt.

Vogler ist ein schlauer Mann, der allerdings immer wieder auf die Arroganz, ja die Hybris von Leuten stößt, die mit Kunst und Magie nicht nur nichts am Hut haben, sondern sie hassen wie die Pest. Vergerus und Starbeck gehören zu dieser Sorte Menschen. Vergerus ist ein überzeugter Anhänger nicht nur der Naturwissenschaften und des Rationalismus, mit dem er die gesamte Welt überziehen, erklären will, sondern auch ein intelligenter Kopf. Starbeck hingegen gehört eher zu den Dummköpfen dieser Welt, denen man (leider) ein bisschen oder ein bisschen zu viel Macht übertragen hat, die sie im eigenen Interesse weidlich einsetzen.

Ihnen gegenüber stehen Vogler, seine Frau und seine Großmutter, von der man nicht weiß, ob sie an das Übersinnliche wirklich glaubt oder ob sie ihre entsprechende Attitüde gegenüber dem Glauben und Aberglauben vieler Menschen nur geschickt einzusetzen weiß. Am Schluss des Films wird sich diese Frage lösen. Manda liebt ihren Mann, aber sie ist nicht der Mensch, der ernsthaft an die Magie glaubt. Sie und Vogler sind Künstler, die Menschen erfreuen und staunen lassen wollen und von dieser Arbeit leben. Und Vogler ist – wie er in der Privatvorstellung bei Egerman überzeugend beweisen kann – ein exzellenter Magier.

Parallel zu dem Konflikt zwischen der Kunst und einem übersteigerten und man kann schon sagen teilweise menschenfeindlichen Rationalismus erzählt Bergman von damit verbundenen personellen Verknüpfungen nach der Ankunft der Truppe im Haus Egermans, etwa wenn er Frau Egermans Sympathie für Vogler in einem eindeutigen Angebot Ottilias an den Magier kulminieren lässt, das der Ehemann – versteckt hinter einer Tür – mitbekommt. Die Egermans sind seit dem Tod ihres Kindes entzweit. Doch das Angebot Ottilias macht aus dem Konsul einen eifersüchtigen Ehemann.

Am meisten zu denken gibt Vogler aber – der dem Angebot Ottilias nicht folgt – Vergerus, den Vogler derartig täuscht, das der lange Zeit nichts davon merkt und an seinem eigenen Verstand zu zweifeln beginnt.

„Ansiktet” ist vor allem eine Art Selbstschau auf die Kulturszene, oder genauer auf die Stellung der Kunst und der Künstler in einer sich selbst für aufgeklärt haltenden Gesellschaft – wobei gerade diejenigen, die sich für besonders aufgeklärt halten, zu den erklärten Feinden einer (magischen) Kunst gehören. Auch wenn der Film im 19. Jahrhundert spielt, hat er doch eindeutige Bezüge zur Gegenwart. In jeder Situation ist die Kunst und sind die Künstler gezwungen, ihre Existenzberechtigung zu beweisen, sich gegenüber den rationalisierten wirtschaftlichen und politischen Strukturen und ihren Protagonisten zu behaupten. Auch im Film trennt sich die Spreu vom Weizen. Der dicke Tubal, der nicht gerade zu den Mutigsten gehört, wird von der doch leicht herrschsüchtigen Köchin „eingefangen”, während die lebenslustige Sara lieber ihrem Kutscher Simson und damit Voglers Truppe folgt. Und Großmutter erweist sich eher als eine geschäftstüchtige Frau, denn als eine „wirkliche” Hexe.

Interessant ist der Film auch bezüglich der Gegensatzpaare Wahrheit und Lüge, Ehrlichkeit und Betrug – erweisen sich doch die überzeugten Rationalisten Starbeck und Vergerus als Zyniker, hinterhältige und boshafte Betrüger, die Vogler entgegen ihren Versprechungen am Ende hinter schwedische Gardinen sperren wollen. Demgegenüber erweist sich der Magier – der angebliche Scharlatan und Betrüger – als jemand, der den ehrbaren Leuten eine deutliche und überzeugende Lektion erteilen kann, und als ein Menschenfreund allen anderen gegenüber. Vogler und Manda erweisen sich als wirkliche Rationalisten, die aber die Magie des Lebens und der Kunst in diese Rationalität einbeziehen, statt sie ausklammern zu wollen.

„Ansiktet” ist ein außergewöhnlicher Bergman-Film, einer der bereits den Übergang verkündet zu seinen späteren Filmen, einer, in dem Bergman die Kunst und die Künstler – welcher Art auch immer – verteidigt und vor dem Zugriff einer verrückt gewordenen rationalistischen Welt filmisch „schützt”.

© Bilder: Arthaus.
Screenshots von der DVD.