Das letzte Kino der Welt (El Viento se Llevó Lo qué) Argentinien, Spanien Frankreich, Niederlande 1998, 83 Minuten (Original mit dt. Untertiteln) Regie: Alejandro Agresti
Drehbuch: Alejandro Agresti Musik: Paul Michael Van Brugge Director of Photography: Mauricio Rubinstein Montage: Alejandro Brodersohn Produktionsdesign: Floris Vos
Darsteller: Vera Fogwill (Soledad), Fabián Vena (Pedro), Angela Molina (María), Jean Rochefort (Edgard Wexley), Ulises Dumont (Antonio), Carlos Roffé (Amalfi), Sergio Poves Campos (Carvio), Sebastián Polonski (DaRío), Luis Zanounga (Gaucho)
Gelungene Parabel
Der argentinische Regisseur Alejandro Agresti wurde durch Filme wie „Buenos Aires, Viceversa“ (1994) und „La Cruz“ (1997) einem internationalen Publikum bekannt. 2002 kam sein 1998 produzierter Film „El Viento se Llevó Lo qué“ (etwa: was vom Winde verweht wurde) auch in die hiesigen Kinos im Original mit deutschen Untertiteln. Der Film wurde auf dem Filmfestival in San Sebastian mit der „Goldenen Muschel“ als bester Film ausgezeichnet.
Die Taxifahrerin Soledad (Vera Fogwill) treibt es aus Buenos Aires heraus. Sie flieht mit dem Taxi ihres Chefs in Richtung Süden. Als die Straße mitten in Patagonien plötzlich aufhört, stürzt sie mit ihrem Auto von einer Brücke, überlebt und wird von einem Mann in den abgelegenen Ort Río Pico mitgenommen. Dort herrschen merkwürdige Verhältnisse. Die Dorfbewohner sind durch die Bank weg kinobegeistert. Allerdings erreichen die Filme Río Pico in einem jämmerlichen Zustand, sind oft verschnitten, haben schlechte Qualität. Der örtliche Kinobesitzer schneidet die Filme in verstümmelter Form zusammen, so dass sie zumeist sinnentstellend dem Publikum dargeboten werden. Für alle Einwohner unter 40 Jahren, die vor allem das Kino besuchen, hat dies katastrophale Folgen. Sie sind nicht in der Lage, sich wie andere zusammenhängend und vernünftig zu unterhalten.
Soledad nimmt sich ein Zimmer bei María (Angela Molina), eine von ihrem Mann vor Jahren verlassene Mittvierzigerin, und freundet sich mit ihr an. Am schlimmsten erwischt hat die „Filmkrankheit“ den örtlichen Filmkritiker Pedro (Fabián Vena), der einfache Fragen völlig wirr beantwortet. Die älteren Einwohner des Ortes beschließen, etwas gegen die „Kino-Krankheit“ zu unternehmen und eine eigene, zusammenhängende Wochenschau mit Hilfe der vorhandenen Kamera in Szene zu setzen. Soledad wird als Moderatorin verpflichtet und das Dorfgenie Antonio Tardini (Ulises Dumont) als eine Art Regisseur. Die Wochenschau wird ein voller Erfolg. Langsam aber sicher lösen sich die Kommunikationsstörungen der jüngeren Einwohner. Pedro verliebt sich in Soledad und umgekehrt und sie heiraten – um des lieben Dorffriedens willen.
So ganz nebenbei erfindet Antonio zwischen den Dreharbeiten noch die Relativitätstheorie („Alles ist relativ“), die Psychoanalyse („Alles ist Sex“) und den Kommunismus („Alle sind gleich“) und zieht – verabschiedet von den begeisterten Einwohnern und argwöhnisch beäugt von der Staatsmacht, einem Dorfpolizisten – mit seinen revolutionären Erkenntnissen nach Buenos Aires, um sie der Welt zu verkünden. Zu spät, wie er jedesmal feststellen muss. Keiner will von seinen Erkenntnissen etwas wissen.
Ja, und dann taucht auch noch der Star des örtlichen Kinos auf, der französische B-Movie-Schauspieler Edgard Wexley (Jean Rochefort), der endlich seine Fans besuchen will. Denn nur aus Río Pico erhielt er überhaupt Fan-Post. Die Begeisterung, die ihm zuteil wird, lässt ihn aufblühen. Doch eines Tages wird ein Mast errichtet. Fernsehen und Radio halten Einzug in Río Pico ...
Dieser verdrehte, skurrile, verrückte Film über ein von der Außenwelt fast völlig abgekapseltes Dorf in den Weiten Patagoniens überzeugt vor allem im ersten Teil durch die Konfrontation mit Menschen, die scheinbar völlig zurückgeblieben sind, deren Kontakt zur „Außenwelt“ ausschließlich durch abgenutzte und falsch wieder zusammengeflickte Filme aufrecht erhalten wird. Doch diese verschnittenen Filme führen zu Kommunikationseinbrüchen, die Agresti in Dialogen wie Mimik zu äußerst komischen Situationen inszeniert.
Río Pico ist ein besonderer Ort mit besonderen Menschen. Ja, sie sind zurückgeblieben, wenn man sie mit der Entwicklung der Menschen überall anders vergleicht. Aber ihre Welt funktioniert – mit allen Schwächen und Stärken. Sie gehen (wie wir alle) den schmalen Grat zwischen (dörflicher) Wirklichkeit und (filmischer) Phantasie und müssen täglich erneut lernen, auf diesem Weg zu differenzieren. Zum einen erfindet ihr Genie Antonio all das, was Jahrzehnte zuvor in der „anderen“ Welt schon längst erfunden wurde, zum anderen laufen sie, besonders die jüngeren, Gefahr, in einer Phantasiewelt verstümmelter Filme aufzugehen, so dass die Dorfältesten sich gezwungen sehen, etwas zu unternehmen: Das Kino muss auf realistische Beine gestellt werden: Die Wochenschau über Dinge, die eh jeder weiß, über den Fischverkäufer, den eh jeder kennt. Die Leute sind trotzdem begeistert, denn sie, nicht irgend jemand von außen, filmen sich selbst.
Aber in dem Moment, als Pedro, María, Soledad und Edgard ihren Traum vom Kino mit einem Film über einen einsamen Schäfer umsetzen wollen, bricht das Fernsehen in Río Pico ein und macht alle wieder „gleich“. Die Situation im Dorf bringt die Einwohner auf Ideen, wie sie ihre Probleme der gestörten Wahrnehmung in den Griff bekommen, ohne dabei zugleich ihre Phantasie zu verlieren, indem sie – mit Hilfe des abgehalfterten Schauspielers Edgard – sich daran machen, ihr einen filmischen Ausdruck zu geben. Der Fernsehmast zerstört das letzte Kino der Welt und lenkt sie damit in die Konformität. Wenn es denn noch ein Kino neben dem Fernsehen in Río Pico geben wird, dann das der Gleichmacherei.
Die Erfindung von Relativitätstheorie, Psychoanalyse und Marxismus durch Antonio vollzieht sich in der räumlichen Enge und steht in engem Zusammenhang mit der Geschichte des Dorfes. „Alles ist relativ“: Wenn wir nur solche verschnittenen Filme haben, muss sich unsere Kommunikation ebenso „verschnitten“ entwickeln. Machen wir selbst Filme, wird sich auch unsere Kommunikation ändern. „Alles ist Sex“: Pedro und Soledad, Edgard und María verlieben sich ineinander im Prozess der Änderungen, die in das Dorf einbrechen. Anfangs ist es noch wichtig, dass Pedro und Soledad heiraten, um der konservativen Ethik, die irgendwie auch hier existiert – obwohl niemand eigentlich weiß warum – genüge zu tun. Doch dann entstehen Liebe und Leidenschaft. „Alle sind gleich“: Alle beteiligen sich am Prozess dieser Veränderungen.
Der Einzug des Fernsehens zerstört einen skurrilen, aber von Leben und Leidenschaft, Phantasie und fast schon natürlichem Ehrgeiz bestimmten Zusammenhang.
„El Viento se Llevó Lo qué“ ist eine gelungene Parabel. Der Film spielt in den 70er Jahren. Und der Einzug des Fernsehens steht auch für den Einbruch der Militärdiktatur, deren Brutalität Antonio während seiner letzten Reise nach Buenos Aires zu spüren bekommen haben muss. Das wird im Film nur angedeutet. Doch der Fernsehmast steht für diese Gewalt, die sich in das Dorf geschlichen hat und die Konformität mit sich bringt. Großartige Schauspieler, vor allem Angela Molina, Jean Rochefort und Vera Fogwill, sorgen für unterhaltsame und zugleich nachdenkliche eineinhalb Stunden Kino – auch ein bisschen für die Wehmut nach dem alten Kino.
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