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Der Eissturm (The Ice Storm) USA 1997, 112 Minuten Regie: Ang Lee
Drehbuch: James Schamus, nach dem Roman von Rick Moody Musik: Mychael Danna Director of Photography: Frederick Elmes Montage: Tim Squyres Produktionsdesign: Mark Friedberg
Darsteller: Kevin Kline (Ben Hood), Joan Allen (Elena Hood), Sigourney Weaver (Janey Carver), Jamey Sheridan (Jim Carver), Tobey Maguire (Paul Hood), Christina Ricci (Wendy Hood), Elijah Wood (Mikey Carver), Adam Hann-Byrd (Sandy Carver), David Krumholtz (Francis Davenport), Michael Cumpsty (Philip Edwards), Katie Holmes (Libbets Casey)
Die Phantastischen ...
„The only big fight we've had in years is about whether to go back into couples therapy.”
Die Phantasie geht eigentlich nur mit den Kindern durch – so wie es bei pubertierenden Jugendlichen üblich ist, nicht nur im Jahr 1973, in das uns Ang Lee in seinem Film nach einem Roman von Rick Moody entführt. Es mag manchem so scheinen, als ob „The Ice Storm” etwas Zeitgenössisches rekapitulieren wollte. Watergate hier, ein „neuer” Liberalismus in den Lebensweisen dort, Frank Zappa, David Bowie, Kris Kristofferson u.a. zeitgenössische Populärmusik bei den Kids, eine sog. „Schlüsselparty”der Erwachsenen, die den Grad der sexuellen Befreiung oder das, was sich die damals Erwachsenen darunter vorstellten, repräsentiert. Zeitgenössisches Potpourri, 70er-Jahre-Kolorit, Fortschrittsoptimismus, Befreiung aller Orten scheinen die Szenerie um die Familien Hood und Carver, zwei Mittelstandsfamilien mit guten Einkommen, zu beherrschen.
Aber Ang Lee wäre nicht Ang Lee, würde er lediglich die Kamera draufhalten, würde er nur ein paar Personen präsentieren, die heute entweder selbst schon Kinder oder Enkelkinder haben, würde er ausschließlich Nostalgisches präsentieren oder gar eine Abrechnung mit einem Jahrzehnt bildlich gestalten – sozusagen aus einer Position des rückblickenden „Heute wissen wir alles besser” heraus. Jedenfalls ist „Der Eissturm” mehr als eine Art Retrospektive und hat mit dem Heute mindestens so viel zu tun wie mit dem Gestern.
Es geht also um mehr. Zunächst einmal geht es um die Familie Hood, Vater Ben (Kevin Kline), Mutter Elena (Joan Allen) und deren Kinder Paul (Tobey Maguire) und Wendy (Christina Ricci) sowie die mit ihnen befreundete Familie Carver, Vater Jim (Jamey Sheridan), Mutter Janey (Sigourney Weaver) sowie deren Kinder Mikey (Elijah Wood) und Sandy (Adam Hann-Byrd). Während die Eltern im besten Mannes- respektive Frauenalter sind, befinden sich die vier Jugendlichen mehr oder weniger in der pubertären Phase. Und letzteres ist im Grunde das Normalste, was man über diesen Film sagen kann. Sie pubertieren, kräftig, lebendig, mit allen Irrungen und Wirrungen, die dieses Alter – nicht nur damals – mit sich bringt – vor allem auf sexuellem Gebiet. Männlein und Weiblein, die sie sein wollen, experimentieren, verachten die herrschende Politik, nehmen ihre Eltern schon einige Zeit nicht mehr so ernst, wie die sich verstanden wissen wollen, rebellieren.
Paul, im Internat in Freundschaft, aber auch im Clinch mit seinem Freund Francis (David Krumholtz), der eine beträchtliche Zahl von „Jagdtrophäen” in Bezug auf Mädchen aufzuweisen hat, ist verliebt in die süße Libbets (Katie Holmes) und beschäftigt sich vor allem mit seinen Zweifeln am Sinn dessen, was man Familie nennt: „Die Familie ist die Antimaterie des Menschen, der Ort aus dem man kommt und wohin man zurückkehrt, wenn man stirbt.” Ansonsten zieht er deutliche Vergleiche zwischen seinem Lieblingscomic „Fantastic Four” und dem ganz realen Leben um ihn herum.
Elijah hingegen fasziniert vor allem die Übertragung molekularer Strukturen auf menschliche Verhaltensweisen. Auch Gerüche, meint er in einem Referat im Unterricht, seien Moleküle, und wenn seine Mitschüler aufs Klo gingen, müssten sie sich bewusst sein, was sie dort einatmen.
Währenddessen sind die Eltern Hood und Carver mit ihren Ehen beschäftigt – selbstverständlich in der einen oder anderen Therapieform oder auch Therapiepause. Man redet schlau, aber nicht klug über Existentialismus, nimmt auch schon mal Drogen, ist eben modern, wie man meint. Ben hat ein „rein sexuelles Verhältnis” zu Janey, geheimgehalten vor den Ehepartnern versteht sich, während sich Jim in seine Arbeit vertieft und Elena mehr oder weniger der täglichen Routine verfallen ist. Ohne ersichtlichen Grund klaut sie Lippenstifte – irgendeine kindliche Art von Protest gegen ein für sie noch unbestimmbares Gefühl des Unwohlseins.
Vater Ben glaubt, als er Paul vom Bahnhof abholt, um mit der Familie Thanksgiving zu feiern, seinem Sohn – immerhin 16 Jahre alt – erklären zu müssen, wie das mit der Sexualität funktioniert und wie nicht („Masturbating in the shower wastes water and electricity.”). Von dieser Art Hilflosigkeit ist vieles, was die Erwachsenen in dieser Geschichte produzieren.
Sandy, der jüngste Spross der Carvers, verbringt seine Zeit mit selbst gebauten Spielzeugflugzeugen, denen er im elterlichen Garten mittels Sprengstoff zum Entsetzen seiner Mutter den Garaus macht. Ansonsten ist er selbstverständlich – wenn auch mit einer gewissen Angst – am anderen Geschlecht interessiert – vor allem an Wendy, die sich sowohl Mikey, als auch Sandy interessiert, offen und fast aufs Ganze gehend zuwendet.
„Je mehr Macht sie besaßen, desto mehr Leid konnten sie einander zufügen, ohne es zu bemerken.” (The Fantastic Four”)
So weit, so gut. Doch Ang Lee erzählt diese Geschichte, die zweifellos einiges an Ironie enthält, nicht mit dem vielleicht zu erwartenden Schuss zynischer Distanz zu den Akteuren. Er ermöglicht seinem Publikum beides: kritische Distanz wie sympathisierende Nähe sowohl gegenüber den Jugendlichen, als auch in Bezug auf die Erwachsenen. Diese Art der Inszenierung ermöglicht vor allem anderen, sich selbst in der einen oder anderen Person zu sehen – in dem zurückhaltend wirkenden Jim, dem viel redenden, aber wenig sagenden und letztlich unsicheren Ben, der kühl wirkenden Janey oder der den Boden unter den Füßen verlierenden Elena. Analoges gilt für die Identifizierung mit den Jugendlichen, wenn man an seine eigene Pubertät denkt.
Zwei Ereignisse können dann sozusagen als Schlüsselereignisse definiert werden: Zum einen die Tatsache, dass Elena hinter das Verhältnis ihres Mannes zu Janey kommt, bevor beide zu der sog. „Schlüsselparty” gehen. Zum anderen, dass Paul seine angebetete Libbets besucht, um sich ihr zu nähern, seine Liebe zu erklären oder ähnliches. Und an dieser Stelle greift Ang Lee zu einem – man kann schon sagen: äußerst symbolträchtigen – Mittel, um die Folgen des geradezu kindlichen Verhaltens der Erwachsenen und des pubertären Verhaltens der erwachsen werden wollenden Jugendlichen zu demonstrieren – einem Kunstgriff, der jedoch überhaupt nicht künstlich oder gar gekünstelt wirkt. Er lässt einen Eisregen über die Beteiligten kommen. „Über sie kommen” – im wahrsten Sinn des Wortes.
Während sich die zwei Elternpaare auf der Schlüsselparty einer Bekannten mit etlichen anderen Paaren dem wohl geordneten Partnertausch hingeben (Frauen und Männer sitzen sich gegenüber, die Frauen ziehen aus einer Glasschale nacheinander die Schlüssel, die jeder anfangs dort hineingelegt hatte, und dürfen, müssen, sollen mit dem männlichen Besitzer des gezogenen Schlüssels die Nacht verbringen), muss Paul feststellen, dass Libbets in ihm nichts weiter sieht als eine Art Bruder im Geiste. Diese nüchterne Erfahrung lässt ihn allerdings nicht in Lethargie versinken. Mit der letzten U-Bahn fährt er nach Hause, muss die halbe Nacht in der durch den Eisregen lahm gelegten U-Bahn verbringen. Paul ist, wenn man so will, erwachsen geworden. Er kann eine Enttäuschung ertragen.
Den Eltern Hood und Carver hingegen fällt es langsam wie Schuppen von den Augen, als die Party zu Ende geht. Während Janey mit einem Mann abzieht und Ben sich volltrunken ins Bad zurückzieht, scheitert der Sex zwischen den beiden übrig Gebliebenen, Elena und Jim.
Das kindliche, um nicht zu sagen: kindische Verhalten der Erwachsenen, ihre teils eitle, teils ignorante Unselbständigkeit, ihre Ferne von den eigenen Kindern, ja, ihre Ferne von sich selbst, müssen sie allerdings teuer bezahlen. Mikey, der sich den Eisregen aus nächster Nähe betrachtet, wird von einem zerrissenden Stromkabel auf der Straße getötet.
Es ist jene Ernüchterung, man kann schon sagen: das Nüchtern-Werden durch dieses tragische Ereignis, dass die Erwachsenen – und auch dies ist wörtlich zu nehmen – zu sich kommen lässt, ganz. Es ist der Zusammenbruch Bens, in dem sich dies bildlich manifestiert, Ben, der den toten Mikey auf dem Heimweg gefunden hat. Es ist jenes Starrwerden, jene durch den Eissturm symbolisierte Starre, die die Gesichter zunächst einfrieren lässt angesichts der Tragik des Todes, bevor sich Trauer einstellt, bevor Tränen fließen, bevor das Eis bricht, bevor es sich wieder in Wasser verwandelt. Man könnte auch sagen: bevor die Erwachsenen endlich erwachsen werden und die Jugendlichen ihre Unschuld endgültig verloren haben. Es ist der Verlust alles Künstlichen, Gekünstelten, Aufgesetzten, der wie ein kalter Schauer auf die Erwachsenen niederprasselt, beraubt aller Moden, ideologischen Versatzstücke und des scheinbar Fortschrittlichen ihrer Zeit.
All das steht dann abseits ungestümer jugendlicher Rebellion – etwa wenn Wendy während des Truthahnessens in wildem Protest während des üblichen Gebets die Ausrottung der Indianer anprangert („Thanks for letting us white people kill all the Indians and steal all their stuff.”). All das steht dann auch abseits naiv-liberaler Gesinnung der Erwachsenen, die geglaubt, wirklich geglaubt hatten, ihre Befreiung läge in flüchtigen sexuellen Abenteuern, die sie für bare Münze irgendeiner Form von Emanzipation genommen hatten. Selbstkontrolle tritt an die Stelle eines aus den Fugen geratenen Lebens, einer unkontrollierten und schwammigen libertinären Haltung und Denkweise, ohne dass allerdings dadurch etwa das hohe Lied der intakten amerikanischen Familie gefeiert würde oder der Film in moralisierenden, trüben Gewässern fischen würde. Gefeiert wird in diesem Film gar nichts – es sei denn die Ernüchterung, der Weg zurück zu etwas, was man – vielleicht ungenau, aber dennoch treffend – als Verantwortung bezeichnen könnte. Und bekanntlich beinhaltet dieses Wort ein anderes: Antwort. Dass ein tragisches tödliches Ereignis notwendig wurde, also ein Ereignis, dass aus der Not die Dinge wendet, gehört zur Tragik dieser Ernüchterung wie die Komik, die die Geschichte ebenso gebiert.
Und es ist dieser nüchterne und sympathisierende wie durchaus auch kritische Blick eines Regisseurs, der für den Betrachter die Geschichte so glaubwürdig, so faszinierend und so treffend werden lässt. Und insofern ist „Der Eissturm” dann eben beides: eine Retrospektive auf zwei Familien im Connecticut des Jahres 1973, aber eben auch eine Art freundliches Spiegelbild dessen, was man gemeinhin als Postmoderne bezeichnet. Moden sollten Moden bleiben.
© Bilder: Arthaus
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