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Der Mann ohne Vergangenheit (Mies vailla menneisyyttä) Finnland, Deutschland, Frankreich 2002, 97 Minuten Regie: Aki Kaurismäki
Drehbuch: Aki Kaurismäki Musik: Marko Haavisto & Poutahaukat, The Renegades, Blind Lemon Jefferson, Masao Onose u.a. Director of Photography: Timo Salminen Montage: Timo Linnasalo
Darsteller: Marrku Peltola (M), Kati Outinen (Irma), Annikki Tähti (Leiterin Flohmarkt), Juhani Niemelä (Nieminen), Kaija Pakarinen (Kaisa), Sakari Kuosmanen (Anttila), Outi Mäenpää (Bankangestellte), Pertti Sveholm (Polizeiinspektor), Aino Seppo (M’s Frau)
Über die Dinge des Lebens
Da wickelt sich einer aus, der seine Erinnerung verloren hat und damit sein bisheriges Leben. Wie neu geboren reißt er sich die Schläuche von der Brust und torkelt aus dem Krankenhaus. Gerade noch hatten Arzt und Krankenschwester ihn für tot erklärt und das weiße Tuch über ihn ausgebreitet. Aber bei Kaurismäki gibt es die Auferstehung nicht durch Pseudo-Transzendenz oder Logik à la Hollywood, sondern einfach so – frei nach Kaurismäki. M (Marrku Peltola) war früher Schweißer, lebte von seiner Frau getrennt und war gerade auf dem Weg zu einer neuen Arbeit. Nun ist alles weg – zumindest aus seinem Gedächtnis. Aber was ist da schon weg? Ein Leben, aus dem er vielleicht gar nichts vermissen wird. Ein paar Straßenräuber hatten ihn zusammengeschlagen und ihm den Gefallen getan, seine Erinnerung löschen.
Ganz so einfach ist die Sache für ihn nun auch nicht. Aufgepäppelt von einer Familie am Sozialhilfe-Empfänger-Stadtrand von Helsinki, einem Areal, von dem die anderen in der Großstadt nicht unbedingt viel wissen wollen, muss er bei Null anfangen. Ohne Name, Sozialversicherungsnummer, ohne Identität ist er gegenüber den Behörden eine Null, ein Nichts. M will kein Nichts sein. So lässt er sich in einem der Überseecontainer nieder, in denen hier alle leben, putzt alles blitze blank, pflanzt Kartoffeln an und lernt die ersten Leute kennen. Den Aufpasser mit Hund zum Beispiel, der ihm viel Miete abnimmt, und die Heilsarmee. Dort gehen die Einwohner der Siedlung einmal die Woche zum „Dinner“. Dort lernt er Irma (Kati Outinen) kennen, die bei der Heilsarmee arbeitet, zugeknöpft bis oben hin, die Trauer steht ihr im Gesicht, ernst und züchtig – und M verliebt sich in sie.
Sie besorgt ihm Kleider aus der Kammer und Arbeit. M hat eine dunkle Ahnung, schon einmal etwas mit einer Schweißermaske zu tun gehabt zu haben, und findet tatsächlich Arbeit auf einer Werft. Allein, ohne Sozialversicherungsnummer und Lohnkonto ist nichts zu machen. Beim Versuch, ein Konto zu eröffnen, gerät M in einen Banküberfall. Ein bankrotter Bauunternehmer stiehlt „sein“ Geld von der Bank, um den entlassenen Arbeitern den letzten Lohn auszahlen zu können. M wird Überbringer. Aber zugleich Tatverdächtiger. Der Polizist (Pertti Sveholm) will ihn in die Psychiatrie einweisen, doch ein Anwalt der Heilsarmee paukt ihn mit Worten und Gesetzestexten, die er und der Kommissar sich um die Ohren hauen, wieder heraus. Eine übergroße Zigarre des Anwalts soll M trösten. Das alles und viel mehr geschieht dem Mann ohne Erinnerung.
Kaurismäki lässt seine Figuren wenig sprechen (wenn auch mehr als in anderen seiner Filme). Sie handeln, und zwar auf eine oft zutiefst praktische, vernünftige und verbindliche Weise. Und wenn sie sprechen, dann allzu Gewöhnliches, Alltägliches. Kaurismäki versteht es, dies in etwas Besonders zu verwandeln. Jedes Wort, und sei es noch so scheinbar unbedeutend, sitzt an der richtigen Stelle. Daraus gewinnt Kaurismäki tragische Relevanz und unvergleichliche Komik in einem. Ja, das ist manchmal vielleicht Galgenhumor. Aber solange in seinen Personen noch ein Funke von Leben und Lebenswillen glimmt, schaffen sie sich in all ihrer Tragik ein Stück Glück.
Das gespreizte oder gesetzte „Gut“ und „Böse“ gibt es bei Kaurismäki nicht. Der Bauunternehmer erschießt sich, nachdem M das Geld an seine Arbeiter ausbezahlt hat. M schaut kurz zurück, als wolle er sagen: Das liegt in der Logik der Dinge. Sein Blick drückt Verständnis und Trauer zugleich aus. Der Aufseher der Siedlung ist vordergründig ein Ausbeuter, doch als es um die Verteidigung der Siedlung geht, steht er hinter den anderen. Sein angeblich bissiger Hund „Hannibal“ entpuppt sich als zahme Hündin, die lieber bei M auf dem Sessel schläft, als ihren Wachpflichten nachzugehen. Das Gespür des Hundes (eigentlich Tähti) für den „richtigen“ Umgang miteinander setzt sich tief bei jedem fest, der den Film sieht.
Das Verhalten der Figuren in Kaurismäkis Filmen folgt einer eigentümlichen Logik, die sich aus dem Praktischen und Vernünftigem ergibt oder zu ergeben scheint. Als M das Repertoire der Heilsarmee-Kapelle hört, heult er nicht auf, kräuselt die Stirn oder schüttelt mit dem Kopf, nein, er macht ganz gelassen einen Vorschlag, die Band solle ihr Repertoire doch einfach erweitern. Eine alte Musikbox, die M an Land gezogen hat, enthält Rock’n’Roll, Blues und ähnliches. Und schon findet die Band zu einer ungewöhnlichen neuen Mischung, zu einem eigenen Stil (übrigens ist das die 1997 gegründete finnische Band Marko Haavisto & Poutahaukat). Und die Grande Dame der finnischen U-Musik, Annikki Tähti – in die Jahre gekommen, aber noch immer sehr agil – singt ihr „Muistatko Monrepos“, eine Reminiszenz an die eigene Kraft, die in „Der Mann ohne Vergangenheit“ so eine enorme Rolle spielt.
„Der Mann ohne Vergangenheit“ ist ein a-moralischer Film, ein Film gegen die Verklärung, gegen die Verbrämung, gegen die ideologische Verkleidung einer Gesellschaft und ihres Mainstream-Kinos, das seine Kraft nur aus dem Trügerischen, dem Schein, dem Äußeren, der Täuschung und einer Moral gewinnt, die über den Menschen als Litanei mit hehren Prinzipien daherkommt – eben auch ein Anti-Hollywood-Streifen. Moral ist trotzdem vorhanden, als eine praktische, aus der Verantwortung resultierende Moral der Ausgegrenzten, der im Abseits lebenden Menschen, von der die finnische Rest-Gesellschaft so wenig wie möglich wissen möchte.
Auch die Liebe ist eher ein praktisches Ergebnis des Zusammentreffens zweier Menschen. Als sich M und Irma das erste Mal küssen, spürt man förmlich die Gewalt, die unsägliche Kraft, die in diesem Kuss liegt. Da ist kein Schmäh, kein Kitsch, kein romantizistischer Betrug, aber der Kuss ist romantisch, ist Ausdruck einer tiefen Zuneigung, die nicht durch Worte erkauft wurde. Man sieht M von hinten, Irma schaut ihm in die Augen, nähert sich ihm, berührt seine Lippen, ihre Augen sind noch einen Moment geöffnet und schließen sich dann langsam. Man erkennt eine – abseits jeglicher Ideale liegende – Schönheit in diesem Gesicht, eine ganz andere Ausstrahlung als in der gängigen romantischen Komödie. In einer anderen Szene sitzen beide im Auto und es strahlt Freude aus ihren Gesichtern. Sie schauen sich nicht an, sehen auf die Straße, und sind innig miteinander verbunden. Es bedarf keines Wortes, um zu begreifen, was hier vor sich geht – ohne Kitsch und doch mit viel Romantik und einem Schuss Melancholie.
Die Dialoge sind – für sich genommen – teilweise lächerlich, absurd, fremd. Die Figuren wirken teilweise wie aus einem Märchen entsprungen und in die Wirklichkeit versetzt. Aber diese Entrückung seiner Handelnden vom Publikum gewinnt durch die logische Konsistenz des Gezeigten und die praktische Relevanz des Handelns an subtiler Überzeugungskraft. Unschlagbar.
Mit „Wolken ziehen vorüber“ begann Kaurismäki eine neue Trilogie von Filmen, deren zweiter Teil „Der Mann ohne Vergangenheit“ ist. „Der Sinn des Lebens besteht darin, einen persönlichen Moralkodex zu entwickeln, der die Natur und den Menschen respektiert, und schließlich – ihn zu leben“, sagt Kaurismäki (nicht nur) zu seinen Filmen. Kaurismäki ist Kommunist, aber kein Parteikommunist. Sein Kommunismus ist einer, der erkannt hat, dass jeder Mensch seine Handlungsmaximen und damit seine Moral aus eigener Erfahrung und in Liebe zu Mensch und Natur gewinnen muss. Er filmt in tief empfundener Solidarität zu denen, über die er filmt, also nicht in einem klassenkämpferischen, industriesozialistischen, diktatorischen Sinn. Er belebt das Märchen und holt es sogleich auf den Boden der Realität zurück. Das schafft u.a. auch Komik und Tragik in seinen Filmen – abseits aller Manierismen und der falschen Nähe des Mainstreams. Seine Schauspieler, sagt Kaurismäki, sollen spielen, „aber sie sollen nicht vorgeben zu spielen, nicht mit den Armen rumfuchteln und so weiter“ (1). Sie spielen – und wie.
(1) Interview mit Kaurismäki in: konkret 11/2002, S. 59.
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