Der Spiegel
(Zerkalo)
Sowjetunion 1975, 108 Minuten (DVD: 102 Minuten)
Regie: Andrej Tarkowskij

Drehbuch: Alexander Mischarin, Andrej Tarkowskij
Musik: Eduard Artemjew; zusätzlich: Johann Sebastian Bach, Giovanni Battista Pergolesi, Henry Purcell
Director of Photography: Georgij Rerberg
Montage: Ludmilla Fejginowa
Produktionsdesign: Nikolaj Dwigubski

Darsteller: Margarita Terechowa (Masha / Natalia), Ignat Danilzew (Ignat / Aljoscha, Aleksej), Larisa Tarkowskaja (Nadeshda), Alla Demidowa (Lisa, Freundin Mashas), Anatoli Solonizyn (Arzt / Fußgänger), Tamara Ogorodnikowa (Nanny / Nachbarin / seltsame Frau am Tisch), Jurij Nasarow (Ausbilder beim Militär), Oleg Jankowski (Vater), Filip Jankowski (Aleksej, fünf Jahre alt),

„Die Zukunft geschieht jetzt“

„An Vorahnungen glaube ich nicht.
Vorzeichen fürchte ich nicht.
Verleumdungen und Gift schrecken
mich nicht. Es gibt keinen Tod in
der Welt. Unsterblich sind alle.
Unsterblich ist alles. Man braucht
den Tod nicht zu fürchten – weder
mit 17 Jahren, noch mit 70. Es
gibt nur Leben und Licht. Weder
Dunkelheit noch Tod gibt es in
der Welt. Wir alle sind schon an
der Meeresküste. Und ich gehöre
zu jenen, die die Netze einholen,
wenn die Unsterblichkeit heranzieht
in Schwärmen.“ (1)

Ein ewiges Warten – aber auf was? Auf wen? Zeitebenen, Zeitstrukturen, historische Epochen verschwimmen vor dem Auge. Erinnerung wird Gegenwart, Gegenwärtiges wird Vergangenes. „Der Spiegel“ von Andrej Tarkowskij trägt stark autobiographische Züge. Das Auge des Betrachters bemüht sich, der historischen Chronologie, der Genese des Biographischen gerecht zu werden – und scheitert daran.

Ein Junge schaltet das Fernsehen an. Dort bemüht sich eine Ärztin, einem Jugendlichen das Stottern abzugewöhnen. Sie beschwört geradezu das vermeintliche Energiezentrum im Gehirn des Jungen; die Energie solle in seine Hände strömen, aber dort bewirken, dass er sie nicht mehr bewegen kann. Wenn sie „Jetzt“ sage, könne er sie wieder bewegen und müsse nicht mehr stottern. Er solle sagen: „Ich kann sprechen.“ Und er sagt es – ohne zu stottern. Ein Mensch findet die Sprache wieder. Wie durch einen Zauber, durch eine Beschwörung. Aber finden wir die Sprache so wieder?

Schnipsel, Ausschnitte, Episoden, Träume, Phantasien eines Mannes in der Sowjetunion der 70er Jahre, seine Erinnerungen an die Kindheit, vor allem seine Mutter vermischen sich mit den Gedanken und Gefühlen seines eigenen Sohnes. Der Mann, Aleksej, ist im Begriff sich von seiner Frau Natalia zu trennen, mit der er einen Sohn, Ignat, hat. Und immer wieder kreisen die Gespräche der beiden um die Mutter des Mannes, den wir nie zu Gesicht bekommen – so, als ob er hinter der Kamera steht, als ob die Kamera uns seine Gedanken, sein Bewusstsein zur Sprache bringt. Ja, in gewisser Weise schauen wir durch sein Bewusstsein hindurch in seine Vergangenheit und Gegenwart, die ihn nicht mehr loslässt, die ihn fesselt, die es ihm schier unmöglich macht, das zu finden, was man Identität nennt. Er schaut in den Spiegel seiner selbst. Wir schauen mit.

Erinnerungen. 1935. Masha, Aleksejs Mutter, sitzt auf einem Zaun vor einem Haus – irgendwo in einem Wald, schaut auf die Felder. Ein Mann nähert sich, ein Arzt, fragt nach dem Weg. Eine Scheune brennt ab. Die beiden Söhne Mashas, darunter Aleksej, schlafen, spielen. Sie wartet auf ihren Mann, die Kinder auf ihren Vater, der wegging und nicht wiederkommt – vergeblich. Als ob sie in einer anderen Welt leben würde, wartet Masha, und wartet ...

„Du kannst mit niemandem normal leben. [...] Du lebst immer in der Überzeugung, es würde allein die Tatsache deiner Existenz genügen, dass alle in deiner Nähe glücklich sind“, wirft Natalia Aleksej vor. Aleksej antwortet, seine Mutter sehe in seiner Erinnerung aus wie Natalia. Der Schlüssel zu seiner Vergangenheit, die er nicht hinter sich lassen kann. Eine ihre Kinder vernachlässigende Mutter prägt sich in Aleksejs Gedächtnis ein. Ein selbst seinen Sohn Ignat vernachlässigender Vater scheint das Ergebnis des Gefangenseins in der Vergangenheit mit einer Mutter, mit der er nicht wirklich sprechen kann, mit der er nicht ausgesöhnt ist. Das eigene Ich scheint alle anderen zu überwölben.

Tarkowskij montiert – jenseits jeder dramaturgischen Logik – Bilder aus verschiedenen Zeitebenen, verknüpft persönliche Erinnerungen mit Ausschnitten aus dem spanischen Bürgerkrieg, der deutschen Kapitulation 1945, dem Krieg usw. mit Phantasien, Träumen, Einbildungen zu einem Gesamtbild, das, wie gesagt, nicht der Chronologie einer Erzählung gleichkommt, sondern versucht, die Struktur von Erinnerung und Zeit selbst festzuhalten. Diese Montage widerspricht üblichen Sehgewohnheiten und fordert vom Betrachter einiges an Aufmerksamkeit. Zeit wird in diesem Kontext aus dem gewohnten Zusammenhang von sich abspulender durch die Uhr bestimmter Zeit gerissen und in subjektivem Zeitempfinden aufgelöst. Die gewohnten und eingeübten Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen. Daraus entsteht ein ebenso ungewohntes Bild eines Jetzt der (für uns wie gesagt nicht sichtbaren) Hauptfigur Aleksej, die das Konstruierte des üblichen Zeitbegriffes, der durch Zeit als ökonomisches Maß determiniert ist, verdeutlicht.

Während Aleksej in seiner eigenen Zeit gefangen zu sein scheint, kontrastiert dies beispielsweise mit einer Erinnerung an seine Mutter Masha, als diese (wahrscheinlich während des Krieges oder in den 40er / 50er Jahren) in einer Druckerei arbeitete. Man sieht Masha durch den strömenden Regen zur Druckerei laufen. Sie hat Angst, einen peinlichen Fehler in einem Manuskript übersehen zu haben. Alles hängt davon ab, ob schon gedruckt wurde oder Masha den Fehler noch korrigieren kann. Sie hat Glück, der Ökonomie der Zeit gerecht geworden zu sein.

„Lebt im Haus, und das Haus wird
nicht einstürzen. Ich werde euch
jedes beliebige Jahrhundert her-
beirufen, werde hineingehen und
in ihm ein Haus bauen. Darum sind
eure Kinder bei mir und eure Frauen
an einem Tisch. Und es ist ein Tisch
für Urgroßvater und Enkel.

Die Zukunft geschieht jetzt.“ (1)

Man könnte auch sagen: Tarkowskij kontrastiert seine eigene Subjektivität mit dem ökonomischen Zeitbegriff. Schon anfangs des Films beklagt sich der nach dem Weg fragende Arzt über die ständige Hast, der die Menschen unterlägen und die ihnen jede Zeit zum Nachdenken nehme. Aleksej steht genau vor diesem Problem: Historische Ereignisse und „die Hast“ nehmen ihm die Möglichkeit, sich selbst zu verorten. Tarkowskij montiert diese Erinnerungsfelder – wie auch in seinen anderen Filmen – mit der Metaphorik der Natur. Feuer und Wasser, Wind und die Natur werden in die Szenen eingewoben – sozusagen als kontrapunktische „Gegenspieler“ menschlicher Ökonomie: der brennende Heuschober, der Regen, durch den Masha rennt. In einerTraumsequenz – wunderschön inszeniert – sieht man Masha, die ihre langen Haare in eine Schüssel mit Wasser taucht, dann langsam die Haare aus der Schüssel zieht. Überall scheint plötzlich Wasser, das von der Decke fließt und den Putz ablöst. Alles scheint in Auflösung.

Das Assoziative dieses Fließenden korrespondiert mit der subjektiven Zeit und dem Erinnern. Man könnte auch sagen: Aleksejs Versuch, sich selber habhaft zu werden, entspricht dem Bedürfnis, abseits des herrschenden, des aufoktroyierten Zeitverständnisses eine Einheit mit einer, in gewisser Weise religiös, zumindest aber transzendent verstandenen Natur zustande zu bringen. Es mag sein, dass er darin scheitert, scheitern muss. Aber Tarkowskij wäre nicht Tarkowskij, wenn er Antworten geben würde statt Fragen zu stellen.

Gerade der Kontrast der Erinnerungen Aleksejs an seine Kindheit und Jugend zu den Erinnerungsfetzen an historische Ereignisse – Montagen, die ihm von den Kreml-Führern den Vorwurf des „Subjektivismus“ (ein „beliebter“ Verdacht gegen Unliebsame in realsozialistischen Ländern) eingetragen haben – verdeutlichen die Intention des Films fast am besten. Man sieht etwa Soldaten im Winter, die durch Eis und Schnee, Wasser und Matsch sich mühsam auf den Weg machen, schweres Gerät tragend, und hört dazu die hier teilweise zitierten (im russischen Originalton von Tarkowskijs Vater selbst gesprochenen) Verse von Arseni Tarkowskij. In einer anderen Szene sieht man Tausende von Menschen, die die „Mao-Bibel“ vor den Bildern des „Großen Vorsitzenden“ nach oben halten und Parolen rufen. All deren Zeit, Subjektivität, Bewusstsein scheint fast vollständig fremdbestimmt. Sie werden getrieben und lassen sich treiben. Aleksejs Erinnerungen sind auch davon nicht frei, aber die Montage seiner Erinnerungen verdeutlicht letztendlich, dass in einem Menschen ein gewisses Maß an Eigenhaben vorhanden ist, das ihn gegen eine vollständige Fremdbestimmung immun macht.

Über die stark autobiografischen Züge in „Der Spiegel“ hinaus bringt Tarkowskij zum Ausdruck, wie schwierig die Verortung des eigenen Ich in einer Welt geworden ist, in der eine sich selbst nicht mehr hinterfragende „Kultur“ „Natur“ derart überlagert hat, dass selbst der Spiegel als Symbol des Sich-selbst-Spiegelns, der Reflexion, der Vergewisserung über sich selbst untauglich geworden zu sein scheint. Wie weit bestimmt uns unsere eigene Vergangenheit? Sind wir an einem bestimmten Punkt ihr Gefangener? Inwieweit können wir das „Jetzt“ überhaupt bestimmen, beeinflussen? Was sind wir selbst? Sind wir „nur“ Erinnerung? Was macht unsere Subjektivität aus – und unser „Jetzt“?

(1) Arseni Tarkowskij: „Alles ist unsterblich“ (Auszüge).