Der Stellvertreter
(Frankreich: Amen.)
Frankreich, Deutschland 2002, 132 Minuten
Regie: Constantin Costa-Gavras

Drehbuch: Constantin Costa-Gavras, Jean-Claude Grumberg
Musik: Armand Amar
Director of Photography: Patrick Blossier
Montage: Yannick Kergoat
Produktionsdesign:

Darsteller: Ulrich Tukur (Kurt Gerstein), Mathieu Kassovitz (Riccardo Fontana), Ulrich Mühe (Der Doktor), Michel Duchaussoy (Der Kardinal), Ion Caramitru (Graf Fontana), Marcel Iures (Der Papst), Friedrich von Thun (Gersteins Vater), Antje Schmidt (Frau Gerstein), Hanns Zischler (Grawitz), Sebastian Koch (Höss), Erich Hallhuber (Von Rutta), Burkhard Heyl (Der Direktor), Angus MacInnes (Tittmann), Bernd Fischerauer (Bischof von Galen), Pierre Franckh (Pastor Wehr)

Wie sich ein Film verzetteln kann

Die katholische Kirche in Frankreich hatte angekündigt, gegen das Filmplakat zu Costa-Gavras („Z“, 1969; „Music Box“, 1989; „Mad City“, 1997) Streifen „Der Stellvertreter“ gerichtlich vorzugehen. Es zeigt Hakenkreuz und christliches Kreuz in einer unheiligen Vereinigung. Schon 1963, als Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ veröffentlicht worden war, kam es zu heftigen Protesten vor allem aus der katholischen Kirche, die Darstellung Papst Pius XII. im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust sei einseitig, falsch, beleidigend. Die zentrale Aussage von Stück wie Film ist: Der Vatikan hat – trotz Informationen über die Vernichtungsmaschinerie – geschwiegen, anstatt durch öffentlichen Protest die Barbarei anzuprangern und dazu beizutragen, dass dem Morden Einhalt geboten wird.

Kurt Gerstein (Ulrich Tukur) ist Chemiker und Offizier der Waffen-SS (derjenigen Eliteeinheit, die die zentrale Rolle bei der industriell organisierten Ermordung der europäischen Juden spielte). Gerstein arbeitet im Bereich Desinfektion und ist Leiter des „Instituts für Rassenhygiene“ der SS.

Als auf der Wannsee-Konferenz die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wird, gehen Himmler und die SS daran, sowohl die Transporte in die Vernichtungslager zu rationalisieren, als auch die dortige Ermordung der jüdischen Bevölkerung zu perfektionieren. „Der Doktor“ (Ulrich Mühe) – im Film namenlos – will als einer der vielen Vernichtungs-Technokraten die Mitarbeit Gersteins bei der Entwicklung eines Giftes, das die Zahl der Opfer pro Tag erheblich steigern soll: Zyklon-B. Doch dazu muss Gerstein über die Absichten der SS informiert werden. Der Doktor nimmt ihn in eines der Vernichtungslager mit. Durch ein Guckloch schaut Gerstein in eine Gaskammer, in der gerade Menschen ermordet werden.

Gerstein ist entsetzt. Er ist überzeugter Nationalsozialist, ging aber bisher offenbar davon aus, dass die Juden „nur“ zur Zwangsarbeit herangezogen bzw. aus Deutschland ausgesiedelt werden. Für Gerstein ist klar: Er muss die Spitzen der protestantischen Kirche, der er angehört, und der katholischen informieren, damit diese bei Hitler protestieren. Die Bevölkerung muss Bescheid wissen, damit es zu Protesten gegen die Vernichtungsmaschinerie kommt – wie schon gegen die Euthanasie-„Aktion T4“, in deren Rahmen „unproduktive“, d.h. geistig und körperliche behinderte Menschen, ermordet worden waren, u.a. eine Nichte Gersteins.

Doch der Kardinal (Michel Duchaussoy) und auch Bischof von Galen (Bernd Fischerauer) weisen Gerstein ab. Nur der junge Jesuit Riccardo Fontana (Mathieu Kassovitz) – eine erfundene Figur im Gegensatz zu Gerstein – nimmt Gersteins schreckliche Informationen ernst und nimmt Kontakt mit ihm auf. Gerstein ist bereit, sich für den Vatikan, für den Papst als Zeuge zur Verfügung zu stellen. Aber auch Riccardo stößt in Rom nur auf Ablehnung und Ausflüchte, nicht nur bei der Kirchenspitze, sondern auch bei seinem Vater (Ion Caramitru).

Inzwischen wird Gerstein durch den Doktor immer tiefer in Vorbereitung und Durchführung der Zyklon-B-Massenvernichtung verwickelt. Gerstein versucht, die Anwendung der in den Vernichtungslagern eintreffenden Giftbehälter zu verhindern, indem er behauptet, die Behälter seien undicht, müssten sofort vergraben werden. Aber letztendlich kann er die Tötungsmaschinerie nicht mehr aufhalten. Auch die Versuche Riccardos, den Papst zum öffentlichen Widerstand gegen den Massenmord zu bewegen, bleiben ergebnislos ...

Die Frage, was der Vatikan hätte tun können, um sich in den Widerstand gegen die Vernichtungsmaschinerie einzureihen, ist nach wie vor umstritten. Die einen behaupten, Pius XII. hätte zwar protestieren können, wäre dann aber vielleicht selbst von Hitler und Mussolini kaltgestellt worden. Andere – wie auch Hochhuth und Costa-Gavras – sahen und sehen in dem unterbliebenen öffentlichen Aufbegehren einen Grund dafür, dass der Völkermord nicht verhindert bzw. gestoppt werden konnte. Seit 1943 war der Vatikan von den Nazis umstellt. Das allein reichte offenbar aus, um Papst und Kardinälen zu verdeutlichen, was passieren könnte, wenn auch nur ein Wort zu viel aus ihrem Munde gegen die Nazi-Barbarei gekommen wäre.

Andererseits wirft diese relativ schlichte Art der Kaltstellung ein Licht auf die Mentalität der katholischen Kirche. Die Ingangsetzung der Vernichtung der europäischen jüdischen Bevölkerung spiegelte eben auch die Kapitulation des „Heiligen Stuhls“ wider. Christliche Gläubigkeit war ganz offensichtlich kein (Allheil-)Mittel gegen Unmenschlichkeit und Mord, zumal sowohl in den Zentren der Vernichtung als auch in der deutschen Bevölkerung, die zu ihrem Großteil den Diktator (wenn auch in unterschiedlichem Maße) unterstützte, die Religionszugehörigkeit der Schlächter wie der Anhängerschaft keine Rolle spielte.

Die zivilisatorischen Schranken waren längst, lange vor Auschwitz gnadenlos zusammengebrochen. (Das entscheidende Datum ist die Machtübernahme Hitlers 1933.) Die Reaktionen aus Rom waren daher nicht nur Ausdruck der Feigheit und Angst katholischer Würdenträger vor dem organisierten Grauen. Selbstverständlich hätte der Papst protestieren können. Er hätte den Vatikan schlicht und einfach (das sagt sich schlicht und einfach im nachhinein) dicht machen können. Doch dazu waren weder der Papst, noch seine Adjutanten in der Lage oder / und bereit. Was nutzte der katholischen ebenso wie der übrigen Bevölkerung und schon gar den Juden eine Kirche, die ihre Ohnmacht längst dokumentiert hatte?

Das Schweigen aus dem Vatikan war aber gleichzeitig Ausdruck von Hilflosigkeit. So mächtig die Institution katholische Kirche war oder zu sein schien, so furchtbar die von ihr selbst in den vergangenen Jahrhunderten zu verantwortenden Verbrechen waren (man denke etwa an die spanische Inquisition, die Ketzer- und Hexenprozesse usw.), so korrupt (und in einer ihr eigenen Art totalitär) sich die Verschmelzung von Religion und Institution über lange Zeit herausgebildet hatte – in der Konfrontation mit dem Holocaust brach eben auch diese Institution und ihre gesamte (Doppel-)Moral in sich zusammen.

Bei aller berechtigten Kritik an der Institution katholische Kirche nicht nur in bezug auf das Verhalten von Würdenträgern gegenüber dem Holocaust stand der Vatikan in dieser Situation nicht allein. Eine ganze Welt hatte offensichtlich nicht ernst genommen, was der Diktator in Deutschland schon lange vor 1933 in „Mein Kampf“ mehr als deutlich formuliert hatte und jetzt – nach der Wannsee-Konferenz – in die Tat umzusetzen gedachte.

Es ist ein interessiertes und interessantes Märchen, dass niemand gewusst habe, was sich vor allem in den polnischen Lagern abspielte. Sicher haben anfangs nur wenig Eingeweihte die genauen Einzelheiten gekannt. Aber spätestens nach der sog. „Reichskristallnacht“ musste jedem in Deutschland, der es wissen wollte, deutlich geworden sein, wohin der Zug fährt bzw. wohin dann wenig später die Güterzüge fahren. Wer heute noch behauptet, nichts gewusst zu haben, gesteht letztendlich ein, bewusst Augen und Ohren verschlossen zu haben, um das nicht zu sehen und zu hören, was im Grundsatz bekannt war. Das genau ist der Prozess, nicht so sehr der Verdrängung, sondern – wie Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 in ihrer Studie „Die Unfähigkeit zu trauern“ geschrieben haben – der Verleugnung, des Nicht-Wahr-Haben-Wollens während der Diktatur und danach , ein kollektiver Prozess, der Scham, Trauer und auch Aufklärung verunmöglicht und lange Zeit nach 1945 verhindert hat.

Man hatte sich 1933 Hitler verschrieben – im wahrsten Sinn des Wortes. Das „Führer befiehl, wir folgen“ kulminierte in der entsetzlich-logischen Konsequenz, wirklich alles in Kauf zu nehmen, was befohlen wurde. Rückzugsmöglichkeiten und Umkehr schienen versperrt, selbst wenn man die Vernichtungsmaschinerie verabscheute. Aber eine wirkliche, eine wirkende Abscheu wäre in jedem Einzelfall einer Kapitulation gleichgekommen, einer Kapitulation vor sich selbst. Dazu waren die wenigsten bereit oder in der Lage.

In diesem Umfeld bewegen sich Fragen nach Schuld und Verantwortung. Hitler muss das bewusst gewesen sein.

Vor diesem Hintergrund enthält jeder Versuch der, sei es literarischen, sei es visuellen Aufarbeitung des Holocausts – welchen Ausschnitt dieses Themas man sich auch immer wählt – ein Moment des Scheiterns. Die Frage ist lediglich, welchen Umfang dieses Scheitern im Verhältnis zu Aufklärung, Trauer und Mitgefühl einnimmt. Costa-Gavras wie Hochhuth wählten das Drama als Form und Ort individueller Erfahrung des Holocaust. „Der Stellvertreter“ setzt vor allem auf den Dialog; das Erzählerische aber, zum Teil in fiktiver Form (u.a. in Gestalt der erfundenen Figur Riccardo), bringt Vereinfachungen teilweise bedenklicher Art mit sich. Die Konzentration auf die drei Hauptfiguren – Gerstein, Riccardo, den SS-Doktor – lässt die Handlung nicht zur Ruhe kommen, weil alle drei aus ihrer Sicht unter Zeitdruck stehen und das Drehbuch gerade diesen Zeitdruck stark in den Vordergrund stellt.

Costa-Gavras unterstreicht diese Zeitnot noch durch die immer wiederkehrenden Bilder von abwechselnd leeren, dann wieder geschlossenen, mit Menschen gefüllten Güterzügen. Der Film erhält damit ein Tempo, das die fast unvermeidlichen Schematisierungen des historischen Kontextes durch die Art des Dramas noch verstärkt und nicht dazu beiträgt, den Hauptfiguren in ihrer charakterlichen Widersprüchlichkeit intensiv nachzuspüren. Die Handlung wirkt oft zerrissen, spielt an sehr unterschiedlichen Orten und enthält letztlich ganz unterschiedliche Geschichten unterschiedlicher Figuren. Hier wird besonders deutlich, wie wichtig die Einheitlichkeit von Zeit, Ort und Handlung als Grundelement des Dramatischen ist. Costa-Gavras Drama verzettelt sich in zu viele Dramen und nimmt dem Dramatischen fast das Tragische des Geschehens.

Oftmals hat dies im Film die Konsequenz der Verflachung des Kontextes und der Figuren und der Weichzeichnung derjenigen, die im Zentrum der politischen Kritik Costa-Gavras (und Hochhuths) stehen. Der Papst etwa (Marcel Iures) erscheint wie eine weltfremde und dem Publikum entrückte, nebulöse Figur, während die anderen Kirchenoberen in oberflächlich plakativer Mentalität gezeichnet werden. Dadurch verliert die Anklage des Regisseurs Richtung Vatikan deutlich an Stoßkraft und Intensität, wird teilweise sogar unglaubwürdig, selbst unter der Prämisse, dass die Kritik berechtigt ist oder sein sollte. In vielen Szenen nähert sich Costa-Gavras auf diese Weise einem Schematismus, den man mit Agitation und Propaganda ganz gut umschreiben könnte, der aber wenig Neues oder gar Aufklärerisches bieten kann.

Auch Riccardos und Gersteins Vater (Ion Caramitru bzw. Friedrich von Thun) verkommen so zu repräsentativen Abziehbildern einer Mentalität, wie Costa-Gavras sie versteht, und verlieren damit Fleisch und Blut, Herz und Seele. Sie sind nicht, sondern sie stehen für.

Gleiches gilt aber für die Hauptfiguren. Ulrich Tukur kann nur in wenigen Szenen des Films das Hin- und Hergerissensein Gersteins zwischen protestantisch-humanistischer Erziehung und Abscheu gegen die Ermordung der Juden überzeugend darstellen. Auch er wird durch das Tempo des Films mal hierhin, mal dorthin gezogen. In einigen Szenen hatte ich das Gefühl, es gebe zwei Gersteins.

Ulrich Mühe verleiht der Figur des SS-Doktors eine fast schon diabolisch-reine Gestalt. Dieser Doktor kennt nur seinen Auftrag und identifiziert sich absolut mit ihm. Es wird sicherlich solche Menschen gegeben haben; doch Mühe erscheint als bürokratischer Menschenschlächter fast wie eine menschliche Maschine, die absolut programmiert ist. Er ist nur Teufel. Ich meine damit nicht, dass an solchen Personen auch „etwas Positives“ hätte gezeigt werden sollen. Aber sie erscheinen nicht als wirkliche Menschen in einer wirklichen Zeit. Zu dem, was in den Vernichtungslagern und den vorgeordneten Planungsstäben geschehen ist, waren nur Menschen fähig. Wenn man in bezug auf den Holocaust von Unmenschlichkeit spricht, so ist dies in einem exakten Wortsinn eigentlich falsch. Denn keine anderen Lebewesen als Menschen konnten ein derart verbrecherisches System über Europa spannen.

Lediglich Mathieu Kassovitz als Jesuitenpater kann Costa-Gavras Film – ja, so könnte man fast schon sagen – vor einem sehr weitgehenden Scheitern retten. Kassovitz gelingt es, sowohl seine zunehmende Verzweiflung über die Wahrheit in den KZs, als auch seine tiefe Enttäuschung über seine Vorgesetzten hautnah und zumeist überzeugend zu spielen. Dieser Riccardo ist ein stiller, teilweise in sich versunkener, in bezug auf die Menschlichkeit kompromissloser Mensch, der zu allem bereit wäre, um die Vernichtung zu stoppen. Seine persönliche Konsequenz – er heftet sich vor den Augen des Papstes und seines Vaters einen gelben Stern an und steigt mit den italienischen Juden in die Güterwagons nach Auschwitz – ist die der menschlichen Kapitulation im Angesicht der Kapitulation seiner Kirche und vor allem des Papstes. Ausgerechnet in dieser erfundenen Figur kommt Costa-Gavras der Tragik des Geschehenen am nächsten.

„Der Stellvertreter“ ist nicht allein schon wegen dieser Mängel ein schlechter Film. Gerade in der Geschichte des Jesuitenpaters Riccardo realisiert Costa-Gavras die Tragik eines Menschen, der in der festen Überzeugung von der Einheit von Glauben und Kirche bitter, existenziell enttäuscht wird. Doch es wäre vielleicht besser gewesen, sich auf ein Thema zu konzentrieren: den Papst, den Jesuitenpater, Gerstein oder den Doktor. Die Vermengung biografischer Ausschnitte dieser vier so unterschiedlichen Figuren in einer Handlung entzieht dem Film die dramatische Einheit und damit seine Überzeugungs- und Durchschlagskraft. Die Schematisierung des Geschehenen und der Figuren blieb aus diesem Grund nicht aus. Dabei wären alle vier Personen – ob fiktiv oder real – einen eigenen Film wert. Das allerdings war wohl nicht Costa-Gavras Ansinnen.

Dass sich die katholische Kirche jetzt vor allem auf eine Kritik des Filmplakats stürzt, wundert mich nicht. Hier, in der agitatorischen Zuspitzung, ist der Film von katholischer Seite aus am leichtesten verwundbar, nicht in dem, was er zeigt.

© Bilder: Concorde Filmverleih