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Die Geschichte von Marie und Julien (Histoire de Marie et Julien) Frankreich, Italien, 150 Minuten Regie: Jacques Rivette
Drehbuch: Pascal Bonitzer, Christine Laurent, Jacques Rivette Musik: Mort Garson, Bob Hilliard Director of Photography: William Lubtchansky Montage: Nicole Lubtchansky Produktionsdesign: Emmanuel de Chauvigny
Darsteller: Emmanuelle Béart (Marie), Jerzy Radziwilowicz (Julien Müller), Anne Brochet (Madame X), Bettina Kee (Adrienne)
Never more !?
„Our day will come And we'll have everything We'll share the joy Falling in love can bring No one can tell me that I'm too young to know I love you so and you love me.” (1)
Die Geschichte ist zauberhaft, märchenhaft fast. So will es Rivette. Doch das erklärt nicht alles. Auch das oft Traumhafte führt nicht unbedingt zum Kern der Handlung. Gibt es eine solche überhaupt? Da ist ein Mann auf einer Parkbank eingenickt. Er heißt Julien (Jerzy Radziwilowicz). Und als er erwacht, sieht er „sie”, Marie (Emmanuelle Béart). „Ich brauche Sie”, sagt er zu ihr, die er offenbar kennt und lange nicht mehr gesehen hat. „Sie brauchen mich?” fragt Marie. „Einfach Sie”, erklärt Julien – und Marie zieht ein langes Messer. Traum oder Realität? Schon hier stellt sich die Frage, ob die Bilder „an sich” und „für sich” sprechen – oder ob den ganzen Film über nichts anderes erwartet werden kann als ein „Dahinter”, so, als ob alles, was wichtig, substantiell ist, sich hinter dem Vordergründigen, den Bildern eben zu verbergen scheint.
Was nun geschieht, bleibt uns verborgen, wie vieles andere im folgenden auch. Märchen, Rätsel, Verborgenes, Verstecktes, Traumhaftes, Übersinnliches – all dies durchdringt die Handlung, die keine ist. Die Grenzen zwischen Realität, Fiktion, Traum und Alltag verschwimmen vor unseren Augen.
Julien ist Uhrmacher, repariert Turmuhren, lebt allein mit seiner Katze namens Nevermore. Aber wer ist Marie? Eine ehemalige Geliebte? Gar eine Mörderin?
Julien erpresst Madame X (Anne Brochet). Er besitzt Unterlagen, die nachweisen, dass Madame X, wie sie sich selbst („subversiv”) nennt, mit gefälschten Zertifikaten billige Stoffe als hochwertige verkauft hat. Julien verlangt viel Geld für die Herausgabe der Unterlagen, und als Madame X entgegen der von beiden eingegangenen Vereinbarung bei ihm zu Hause erscheint, verlangt er das Doppelte der bisherigen Summe. Diese Erpressung, quasi eine Kriminalgeschichte, bildet den roten Faden des Films, aber eigentlich geht es um anderes.
Madame X verlangt von Julien auch die Herausgabe eines Briefes, der sich bei den Unterlagen befinde, doch Julien bestreitet, einen solchen Brief zu besitzen. Während er bei Marie zum Essen ist, wird seine Wohnung durchsucht. Und weil Marie kurz danach aus ihrem Hotel verschwunden ist, glaubt Julien, von beiden Frauen hereingelegt worden zu sein. Er findet durch einen anonymen Anruf Marie in einem anderen Hotel, nimmt sie mit nach Hause und lebt mit ihr, arbeitet neben ihr. Marie erfährt von den Unterlagen und der Erpressung und hilft Julien bei der Eintreibung des Geldes in drei Raten.
Sie scheinen sich zu lieben, sie schlafen miteinander, doch zugleich richtet Marie ein Zimmer im Haus Juliens ein. Sie stellt Gegenstände hinein, und wenn das Zimmer daraufhin dunkler wird, nimmt sie sie wieder weg, wird es heller, lässt sie sie stehen – so als ob eine höhere Macht von außen bestimmen würde, was in dieses Zimmer gehört.
Auch dies allerdings sind nur Anzeichen für etwas Mysteriöses. Marie, die sich verletzt, blutet nicht. Und auch die Schwester von Madame X, Adrienne (Bettina Kee), die ihr und auch Marie erscheint, ist eigentlich: tot – umgekommen durch Selbstmord, während sie ihre Schwester Madame X dafür verantwortlich machte.
Marie und Adrienne sind Tote, die wieder – leben? Eine realistische Geschichte vermischt sich mit einer phantastischen. Versöhnung und Erlösung scheinen eine wichtige Rolle zu spielen – zumindest im Verhältnis zwischen Adrienne und Madame X, wie letztere Julien erzählt. Doch was kennzeichnet die Verbindung zwischen Julien und Marie? Ist es eine verlorene Liebe? Ist da etwas, was Marie vor ihrem Tod nicht mehr sagen konnte, weshalb sie nun zurückkehrt aus dem Reich der Toten? Oder spielen hier nur Vorstellungen, Träume und Sehnsüchte eine Rolle – die Sehnsucht Juliens nach der reinen, bedingungslosen Liebe, die er mit Marie eine Weile lang auslebt? Lebt er mit Marie oder träumt er dies nur? Oder weilt auch Julien im Totenreich, erstochen – wie anfangs des Films angedeutet – von Marie?
„Our day will come If we just wait awhile No tears for us Think love and wear a smile Our dreams have magic because we'll always be In love this way Our day will come Our day will come Our day will come.” (1)
Rivette lässt dies auf eine unbeschreiblich geheimnisvolle Weise offen. Er zeigt darüber hinaus ein Kino, das (fast) alle seine Möglichkeiten ausschöpft – Inszenierung des Mysteriösen par excellence, könnte man sagen. Er spielt mit den Möglichkeiten des Filmens, mit den Chancen des Erzählens in Bildern, mit dem Mysteriösen, das man inszenieren kann, wie man gerade will, mit dem Genre der Geistergeschichte usw. usf. Er inszeniert sozusagen in Schichten, eine legt sich um die andere und jede repräsentiert eine Möglichkeit (!) der Deutung durch Andeutung. Welche Schicht – um es mit einer Zwiebel zu vergleichen – nun außen, welche innen liegt, welche dazwischen und welche wieder dort dazwischen, bleibt völlig offen. Insofern ist die Geschichte letztlich auch nur eine Andeutung und keine wirkliche Geschichte, Rivette erzählt über geschlagene 150 Minuten: nichts. Jedenfalls „nichts” im üblichen Sinn des Wortes. Formal hält er die Regeln des Dramas ein – von der Erpressung bis zur dritten Zahlung des Erpressergeldes. Doch diese so genannte Geschichte ist eigentlich gar nicht „Thema” des Films.
Marie und Adrienne besitzen die Fähigkeit, Julien und Madame X zu erscheinen, aber auch die, sich selbst vergessen zu machen, ihre Existenz, sei es nun als Geist, als Untote oder als Lebende aus dem Gedächtnis zu streichen. Die Erinnerung verblasst nicht, sie wird ausgelöscht. Marie, so scheint mir, steht – wie in einer Fabel oder Parabel – als Allegorie für Juliens Sehnsucht nach etwas Unverfälschtem, Reinen, für die Liebe, die er sich wünscht – aber eben auch für den Zweifel genau daran (wenn er vermutet, sie sei mit Madame X im Bunde), für die Angst, sie verlieren zu können, oder auch für die Angst, zwischen ihnen könne sich ein Abgrund auftun (wie Marie ihm prophezeit). Das Verhältnis zwischen Leben und Tod, zwischen Lebenden und Toten, scheint als eine Art Metapher u.a. für diese Gefühle den Film zu durchziehen. Scheint. Denn der Film ist Schein.
Auch zwischen Madame X und Adrienne steht die Angst – davor sich nicht versöhnen zu können. Erscheint es anfangs noch, als ob Madame X vor allem die Dokumente zurück wolle, wird später deutlich, dass es ihr vor allem anderen um den Brief geht – einen Brief, den Adrienne geschrieben habe. Auch ohne Kenntnis des Inhalts des Briefes ist er doch der Schlüssel für die ersehnte Versöhnung der beiden Schwestern.
Man könnte die Geschichte auch derart deuten, dass sowohl Julien als auch Madame X – beide verbunden durch die Erpressung – ähnlichen Sehnsüchten nachgehen: denen nach Versöhnung und Liebe – auf Erlösung, die für Julien in der Liebe zu Marie, für Madame X in der (verlorenen) Liebe zu ihrer Schwester besteht.
Rivette lässt die „Handlung” um diese Dinge kreisen, er deutet an, lässt andeuten, gibt Hinweise. Es ist nicht einmal sicher – wie in diesem Film nie etwas sicher ist –, ob wir uns im Reich der Lebenden und im Reich der Toten befinden oder nur in einem von beiden, oder ob es sich um einen weit gespannten Traum des Mannes handelt, der zu Anfang schlafend auf einer Parkbank sitzt.
„Histoire de Marie et Julien” ist nicht gerade ein leicht zugänglicher Film. Doch er regt die Phantasie an, gerade weil er das Mysteriöse, Fiktive und Inszenierte als etwas erscheinen lässt, was vom Realen nicht mehr zu trennen ist – und wenn man sich noch so bemühen mag wie ich (siehe oben). Und genauso spielen auch die vier Hauptdarsteller, minimalistisch, karg und doch intensiv in die Handlung verstrickt, die keine ist. Um die geneigten Leser vollends zu verwirren, sei aus dem Presseheft zum Film folgendes zitiert, siehe unten (2). Was nun? Ein Film, den man vergessen, gar nicht erst anschauen sollte?
© Bilder: Flax Film Screenshots von der DVD
(1) „Our Day Will Come” von Bob Hilliard, Mort Garson (1963). Im Abspann des Films zu hören.
(2) „Julien (Jerzy Radziwilowicz) ist 40 Jahre alt und Uhrmacher von Beruf. Seine Selbstmordversuche sind des Öfteren misslungen. Er entscheidet sich, Madame X zu erpressen, eine reiche, hübsche Frau. Wenn sie ihm alles über ihren heimlichen Antiquitätenschmuggel erzählt, verschweigt er im Gegenzug ihr gefährlichstes Geheimnis: die Verbindung zur erhabenen Marie (Emmanuelle Béart), in die Julien sich vor einem Jahr verliebt hat und die nun zu Besuch bei ihm ist.
Maries Verhalten verwundert ihn. Trotz der Liebe, die sie ihm täglich ein bisschen mehr entgegen bringt, scheint Marie nicht in der Lage zu sein andere Gefühle zu empfinden. Worin wohl ihr zerstörerisches Geheimnis besteht?
Julien findet derweilen seine Lebensfreude wieder und ist zu allem bereit, um hinter das Geheimnis von Marie zu kommen und sie aus ihrem Zustand zu befreien. Er wird mit ihr soweit gehen, wie das ein Mann und eine Frau nur können. Dorthin wo es keinen Tod und kein Leben, keine Furcht und keine Hoffnung mehr gibt. An Orte, wo die grenzenlose Liebe, die ‚amour fou’ der ‚enfants terribles’, möglich ist.”
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