Die Haut, in der ich wohne
(La piel que habito)
Spanien 2011, 120 Minuten
Regie: Pedro Almodóvar

Drehbuch: Agustín Almodóvar, Pedro Almodóvar, Thierry Jonquet (Novelle „Tarantula“ / „Mygale“)
Musik: Alberto Iglesias
Director of Photography: José Luis Alcaine
Montage: José Salcedo
Produktionsdesign: Antxón Gómez

Darsteller: Antonio Banderas (Roberto Ledgard); Elena Anaya (Vera Cruz); Marisa Paredes (Marilia); Jan Cornet (Vicente); Roberto (Álamo Zeca); Eduard Fernández (Fulgencio); José Luis Gómez (Präsident des Instituts für Biotechnologie); Blanca Suárez (Norma Ledgard); Susi Sánchez (Mutter von Vicente); Bárbara Lennie (Cristina)

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„Werden in diesem Schiff nach und
nach alle Planken durch neue ersetzt,
dann ist es numerisch dasselbe Schiff
geblieben; hätte aber jemand die
herausgenommenen alten Planken
aufbewahrt und sie schließlich sämtlich
in gleicher Richtung wieder zusammengefügt
und aus ihnen ein Schiff gebaut, so wäre
ohne Zweifel auch dieses Schiff numerisch
dasselbe Schiff wie das ursprüngliche. Wir
hätten dann zwei numerisch identische Schiffe,
was absurd ist.“
(Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie.
Erster Teil. Lehre vom Körper, 1655)

Sie will heraus – aus sich selbst und aus dem Raum, der sie umschließt. Sie könnte aus der Haut fahren, aber sie kann es nicht. Sie möchte sie selbst sein, doch sie ist jemand anderes Selbst. Sie kämpft um sich, doch jemand anderes hat sie zerstört, verformt und neu geschaffen.

Dr. Ledgard hält Vorträge im Auftrag des Instituts für Biotechnologie über Hauttransplantationen. In seinem Labor transferiert er genetisches Material von Schweinen in menschliches Genmaterial und produziert damit und durch andere Versuche Haut, die feuerfest ist und resistent z.B. gegen Mückenstiche. Diese sog. Transgenese ist im Bereich menschlichen Genmaterials verboten. Ledgard interessiert das nicht. Nach und nach hat er seiner Gefangenen, Vera Cruz, eine neue Haut implantiert. Vera ist sein Versuchskaninchen. Und Ledgards Mutter, Marilia, überwacht mittels etlicher Kameras das Leben der Gefangenen.

Vera bittet Ledgard, sie frei zu lassen; sie könnten zusammen leben, ohne dass ein (ihr) Gefängnis sie trennt. Aber Ledgard lässt sie nicht aus ihren Zimmern heraus.

Almodóvar erzählt uns eine, zunächst merkwürdig erscheinende, Geschichte des Missbrauchs, in der das Opfer den Täter mit Liebe dazu überreden will, es freizulassen. Wer allerdings denkt, es handle sich um eine gängige Missbrauchsgeschichte, wird getäuscht. Wie auch in vielen seiner anderen Filme verstrickt uns Almodóvar in eine verwickelte Geschichte, die den Kontext von zunächst unzusammenhängend erscheinenden Episoden aus dem Leben verschiedener Menschen langsam aber sicher enthüllt.

– Ledgard selbst hatte einige Jahre zuvor seine Frau bei einem Verkehrsunfall verloren. Tatsächlich hatte sie (durch schwere Verbrennungen verletzt) überlebt. Und Ledgard begann seine Experimente mit Hauttransplantationen bei ihr. Als sie sich im Spiegel verunstaltet sah, brachte sie sich jedoch um. Ledgard kann sie nicht vergessen; er kann, weil er nicht wirklich lieben kann, ihren Tod nicht akzeptieren. Und in Vera Cruz will er sie neu erschaffen …

– Eines Tages erscheint bei Marilia ihr anderer Sohn Zeca, ein Verbrecher, ein Dummkopf und ein Gewalttätiger. Die beiden Brüder kennen sich, aber sie wissen nicht, dass sie Halbbrüder sind. Zeca glaubt, in Vera Ledgards frühere Frau wiederzuerkennen. Er vergewaltigt sie. Für Marilia und den später in seiner Villa erscheinenden Ledgard ist Zeca ein unbequemer Zeuge. Denn niemand darf von Vera, ihrer Geschichte und Ledgards illegalen Experimenten erfahren …

– Sechs Jahre zuvor hatte sich Ledgards Tochter Norma nach einem traumatischen Ereignis selbst getötet. Der junge Vicente hatte Norma bei einem Fest kennen gelernt und wollte mit ihr Sex. Als Norma im Park vor der Villa dann doch nein sagte, hatte er sie bewusstlos geschlagen, aber nicht missbraucht. Aus Angst, vor dem was er getan hatte, floh er auf seinem Motorrad. Ledgard hatte seine Tochter im Park gefunden; und als sie erwacht war, dachte sie, ihr Vater habe sie missbraucht. Ledgard wiederum sinnt auf Rache und sucht den Täter …

„Zusammengekrümmt zu seinen Füßen,
hast du dich erleichtert und warst glücklich,
getrunken zu haben. Du warst ein Nichts,
du warst nur noch ein durstiges, hungriges
und gequältes Tier. Ein Tier, das einmal
V[…] M[…] geheißen hatte.“
(Aus dem Roman von Thierry Jonquet)


Alle maskiert. Almodóvar zeigt uns Menschen, die alle Masken tragen. Sie wechseln diese Masken. Vordergründig mag es in dieser Geschichte um einen skrupellosen und anderen gegenüber gefühllosen Wissenschaftler gehen, der nach dem Prinzip handelt: Was gemacht werden kann, darf auch gemacht werden. Allerdings ist dies nur ein Aspekt des Films. Man schaue sich manche Szenen noch einmal genauer an (und hier verweise ich auf die Bilder). Da spiegelt sich über den ganzen Film hinweg der eine in dem anderen. Vera wird zum Spiegelbild der obsessiven Wünsche Ledgards. Dessen Frau brachte sich letztlich um, weil sie ihr furchtbares Gesicht im Spiegel sah – Ergebnis des Unfalls, aber eben auch des Versuchs Ledgards, ihr Gesicht wiederherzustellen. Sie erschrickt sozusagen zu Tode, weil sie sich nicht selbst, sondern jemand anderen sieht.

Der Roman, der Almodóvar inspirierte, ein Kriminalroman, heißt „Mygale“, also Vogelspinne. Auch wenn Almodóvar von der Geschichte des Romans in weiten Teilen abweicht, bleibt der Film die Kriminalgeschichte einer „Vogelspinne“, Ledgards, der seine Opfer fängt und im wahrsten Sinn des Wortes bearbeitet. Aber „La piel que habito“ ist genauso gut eine Tragödie und eine Groteske. Denn sowohl Ledgards Frau, als auch seine Tochter, als auch Vicente, als auch Marilia und last but not least Vera werden unabsichtlich zu Opfern in einem tragischen Kontext, bei dem Ledgard die Fäden zieht – bis er sich selbst darin verstrickt.

Und damit kehrt Almodóvar zu einigen Motiven seiner früheren Filme zurück. Seine Figuren sind oftmals Opfer des Schicksals, dass ihnen zuteil wird, ohne zu bemerken, dass sie dieses Schicksal selbst provoziert haben. Und noch ein anderer Gesichtspunkt in der Arbeit des Regisseurs spielt in „La piel que habito“ eine enorme Bedeutung: Identität und ihre Brüchigkeit. Genauer gesagt: Die Versuche fast aller Figuren in diesem Film, ihre Identität zu wahren, scheitern gnadenlos.

Im nächsten Abschnitt verrate ich, um dies zu erläutern, Details des Films, die man – will man das nicht wissen – nicht lesen sollte. Ich bin normalerweise kein Spoiler-Fan. Hier sehe ich mich trotzdem dazu veranlasst:


VORSICHT ! SPOILER !

– Vicente wird von Ledgard als derjenige ermittelt, der seine Tochter Norma (wie er glaubt) vergewaltigt hat. Zur Strafe überwältigt Ledgard Vicente, hält ihn über Wochen bei Wasser und Brot und in Ketten in einem Kellerloch gefangen, um ihn dann durch eine Geschlechtsumwandlung sowie Haut- und Gesichtstransplantationen in eine Frau, nämlich Vera, zu verwandeln, die er seiner verstorbenen Frau ähnlich werden lässt.

– Ledgard glaubt in seinem stillen, aber konsequenten Wahn, mit all dem, der Konstruktion, Dekonstruktion und dem „Wiederaufbau“ von Menschen, seine Identität und die seiner durch Selbstmord umgekommenen Frau wahren zu können. Daran scheitert er nicht nur, sondern muss mit seinem Leben büßen.

– Marilia verliert, auch aufgrund ihrer Lebenslüge (sie verheimlicht ihren beiden Söhnen, dass sie Halbbrüder sind), nicht nur völlig den Halt; sie verliert auch beide Söhne, weil sie dem einen in seinem „Frankenstein“-Wahn behilflich ist.

– Zeca, der verstoßene, kriminelle Sohn, der mit Ledgards verstorbener Frau eine Beziehung hatte und den Verkehrsunfall gemeinsam mit ihr überlebte, stirbt, weil er in Vera, die eigentlich Vicente ist, die verstorbene Frau Ledgards zu erkennen glaubt. Ledgard erschießt ihn.

– Nur Vera überlebt den Horrortrip, jedoch auch nur, indem sie Ledgard erschießt und zu ihrer / seiner Mutter und Cristina, die in dem Kleidergeschäft der Mutter arbeitet, zurückkehrt, sich als Vicente zu erkennen gibt und nun eine Chance hat: mit Cristina, die lesbisch ist, zusammenzukommen. Denn in sie war er schon früher verliebt.


SPOILER ENDE !!

Almodóvar zeigt diese Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion menschlicher Identität als eine scheinbar schicksalhafte. Ledgard könnte man in diesem Zusammenhang quasi als Personifizierung des Schicksals ansehen. Schaut man genauer hin, verweben sich die Handlungen der verschiedenen Personen zu etwas Schicksalhaftem, das daraufhin eine gewisse Eigendynamik erfährt, man könnte auch sagen, diese Figuren in eine Art Teufelskreis treibt, dem sie nicht entrinnen können. Das Wissen um die eigenen Begierden wird durch das Nichtwissen bezüglich dem, was andere begehren, konterkariert. Die Kaltblütigkeit und Gefühllosigkeit Ledgards anderen gegenüber kalkuliert nicht mit dem sinnlichen Begehren seiner Opfer. Die Lebenslüge Marilias unterschätzt die Eigendynamik der verbrecherischen Willen ihrer beiden Söhne. Die Unfähigkeit Ledgards zur wirklichen Trauer um seine Frau und seine Tochter, die beide in den Selbstmord gingen, erleichtert ihm den Weg in die Skrupellosigkeit. Er schafft sich seine Frau neu und bildet sich ein, diese neue, Vera, liebe ihn. Einzig Vera entkommt in gewisser Weise dem Schrecken – doch auch nur durch Mord.

Identität mit sich selbst ist etwas Absurdes (s. das Zitat von Hobbes). Almodóvar erzählt von den Brüchen und teils weitgehenden Veränderungen der Identität, auch in Bezug auf die Wandlung der Geschlechtsidentität, und ihren Auswirkungen. Er erzählt von den Versuchen des Opfers, mit seiner Situation umzugehen, die aussichtlos erscheint – und von der Hoffnung des Opfers auf einen Ausweg.

Dieses manchmal leichte, manchmal wirklich erschreckende „Spiel“ mit der Identität seiner Figuren wird (wie bei Almodóvar eigentlich üblich) durch die Kameraarbeit Alcaines und das Spiel der vier Hauptdarsteller exzellent umgesetzt. In diesen Bildern manifestiert sich ein wesentlicher Aspekt der Arbeit des spanischen Regisseurs: die Blicke seiner Figuren und das Nebeneinander dieser Figuren in bestimmten Situationen, hier in diesem Film vor allem in der hierarchischen Anordnung der Personen zueinander, konstruieren einen, wenn nicht den bedeutenden Kontext in dieser Geschichte überhaupt, weniger die Dialoge.


Wertung: 10 von 10 Punkten.
(7.9.2013)