Die Liebe am Nachmittag
(L'amour l'après-midi)
Frankreich 1972, 97 Minuten
Regie: Eric Rohmer

Drehbuch: Eric Rohmer
Musik: Arié Dzierlatka
Director of Photography: Néstor Almendros
Montage: Cécile Decugis
Produktionsdesign: Nicole Rachline

Darsteller: Bernard Verley (Frédéric), Zouzou (Chloé), Françoise Verley (Hélène), Daniel Ceccaldi (Gérard), Malvina Penne (Fabienne), Elisabeth Ferrier (Martine)

Wünsche ...

Chabrol kratzt nicht nur an der Oberfläche; er öffnet und seziert, manchmal feinsinnig, manchmal skrupellos nüchtern. Chabrol dringt ein in die bourgeoise Welt und stellt sie bloß. Die Fassade wird nach und nach niedergerissen. Rohmer ist da anders. Für Rohmer ist das "Relief" der einzige Spielplatz seines filmischen Schaffens. Als ob wir vor einem Gemälde stehen würden, um zu ergründen, mit welcher Technik der Künstler seine Farbe aufgetragen hat, mit welchen Licht- und Schatteneffekten er kalkulierte, welche Perfektion ihn dazu trieb, uns ein Stück Wirklichkeit zu fixieren, füllt Rohmer – ganz und gar unterstützt von den Leuten hinter der Kamera und den Designern seines Szenengemäldes – die Leinwand mit den präzisen Beobachtungen seines Auges, seines Denkens und Fühlens. Rohmer ist einer der Maler unter den Regisseuren – und seine Filme sind so realistisch (wenn man diesen Begriff auf Filme überhaupt anwenden kann) wie phantastisch und phantasievoll, wie detailliert und präzise.

Wenn Chabrol die Masken herunterreißt und die Fassaden zerschmettert, mit dem ihm eigenen Zynismus und Sarkasmus, ohne sich in moralischen Urteilen und Verurteilungen selbst bloß zu stellen, so präsentiert uns Rohmer (s)eine Welt in "moralischen Erzählungen", die nicht moralisieren, sondern bezeugen, wie sich Menschen ihre Moral konstruieren, wie sie sie dekonstruieren und erneut versuchen wiederherzustellen. Das hat nichts Moralinsaures, nein, viel mehr etwas im positiven Sinne Plakatives, etwas Darstellendes, das wirklich etwas darstellt.

In seiner letzten von sechs moralischen Erzählungen erzählt Rohmer die Geschichte von Frédéric (Bernard Verley), einem normalen Pariser Bürger, der mit seinem Sozius Gérard (Daniel Ceccaldi) ein gut laufendes Büro führt, in dem noch zwei hübsche Sekretärinnen, Fabienne und Martine, arbeiten. Frédéric ist glücklich mit Hélène (Françoise Verley) verheiratet; beide haben einen kleinen Sohn und erwarten ein zweites Kind.

In der Einleitung fabuliert Frédéric über seine Einstellungen, sein Denken und vor allem sein Verhältnis zu Frauen. Er erzählt dies uns, und er erzählt, dass er nicht mehr weiß, warum er ausgerechnet Hélène geheiratet hat und sie liebt. Er liebe Paris, die Masse von Menschen, das geregelte Leben. "Wenn ich Hélène umarme", meint er, "umarme ich alle Frauen." Aber auch: "Ich träume, dass ich sie wirklich alle besitze" – die Frauen. Und ein Traum beschließt in diesem Sinne diese Einleitung des Films, wenn ein Talisman, den Frédéric um den Hals trägt, ihm alle Frauen gefügig macht – er braucht sie nur ansprechen.

Eines Tages tritt eine alte Bekannte in sein Leben: Chloé (Zouzou, eine der Ikonen der Pariser Szene der 60er Jahre). Chloé ist offen, manchmal zynisch, manchmal verzweifelt und lebensmüde, bindungslos und -unwillig, hält sich für eine Versagerin, und gibt doch nie auf. Und Chloé ist verführerisch. Sie scheint zu wissen, was sie will, ist chaotisch und lebt mit einem Mann, den sie nicht liebt, so, wie sie wohl immer mit Männern gelebt hat, die sie nicht liebte.

Nach anfänglichem Zögern trifft sich Frédéric immer öfter mit Chloé, hilft ihr beim Umzug, führt lange Gespräche mit ihr. Er erzählt Hélène von Chloé, einer früheren Freundin eines früheren Freundes, stellt sie ihr vor. Und immer öfter taucht Chloé bei Frédéric im Büro auf. Man spricht über Liebe und Beziehungen, Ehe und Kinder, Monogamie und Polygamie, vor allem am Nachmittag, an diesen öden Nachmittagen, die Frédéric hasst – bis Chloé verschwindet, unangekündigt, und nach Wochen wieder auftaucht. Und immer deutlicher – gerade in diesen Zeiten, wenn Chloé sich mal wieder entschieden hat, vorübergehend "unterzutauchen" – spürt Frédéric ein Verlangen nach dieser Frau, obwohl er doch nur Hélène liebt.

Bis Chloé Frédéric eröffnet, sie wolle ein Kind, aber keinen Mann, und sie wolle dieses Kind von ihm ...

Rohmers Filme sind nicht jedermanns Sache. Meine schon. Sie sind dialog"lastig", meinen manche. Doch ich liebe sie, und vor allem auch die Dialoge. Sie seien langatmig, sagen einige. Aber für mich sind sie die spannende Kurzweil par excellence. Rohmer arbeitet in gewisser Weise gegen eine Art Schnelllebigkeit, die sich auch im Kino breit gemacht hat und die Auffassung schürt, nur wenn laufend "etwas" passiere, komme Spannung auf. Rohmer arbeitet gegen diese Art von Zeitverständnis, und für ein anderes. Vor allem aber arbeitet er in seinen Filmen für das Detail, in Dialog wie Bild. Es ist – wenn man sich auf diese Art des Filmemachens einlassen kann und will –, als ob man einem Maler bei der Arbeit zuschauen würde. Seine Filme sind Gemälde im Entstehen. Jede Pinselführung, jede Bewegung, jedes "Zwischen-Durch-Überlegen-Wie-Es-Weiter-Geht" erscheint als ein Versuch, Vollkommenes zu schaffen, obwohl wir doch alle wissen, dass es keine Vollkommenheit gibt.

Es sind die – oftmals naiven, ja kindlichen – Defizite von Menschen einer modernen Gesellschaft, an denen Rohmer deren moralische Überzeugungen und Versuche, Moral zu konstituieren, misst.

Frédéric ist so normal, wie normal nur jemand sein kann. Seine Vorstellung, alle Frauen besitzen zu wollen, konterkariert er mit der Schutzbehauptung, wenn er Hélène umarme, umarme er alle Frauen. Seine Phantasie geht mit ihm durch, wenn er den vermeintlichen Zauber seines Amuletts in seinen Träumen dazu "einsetzt", jede x-beliebige Frau zu verführen.

Und dann erscheint Chloé, eine Frau, die jenseits jeder bürgerlichen Moral zu leben scheint, die sich nimmt, was sie will, vor allem auch Männer, die ihr alle nichts bedeuten, und die in Frédéric jemand gefunden zu haben vorgibt, der ihr viel bedeutet. Vor allem aber hält sie Frédéric den Spiegel seiner eigenen Phantasien vor Augen und bedeutet ihm, wie fadenscheinig seine Ausreden seien, seine Frau niemals betrügen zu können. Sind sie das wirklich?

Rohmer – diesen Eindruck wurde ich am Schluss des Films nicht wieder los – konstruiert mit Chloé eine Figur, die man als moralische Instanz, als kritisches Gewissen Frédérics bezeichnen könnte. Und auch wenn Rohmer weit davon entfernt ist, einer trivialen Moral das Wort zu reden, so fordert er doch instinktiv eine Art Treue zu sich selbst, was seine Figuren betrifft. Liebt nun Frédéric Hélène oder täuscht er sich selbst und Hélène nur etwas vor? Was steht zwischen ihm und Hélène, woher kommen seine Phantasien, sein Wunsch, alle anderen Frauen zu besitzen? Naivität? Ein kindliches Gemüt?

Vielleicht. Aber was Rohmer in seinen moralischen Erzählungen doch immer wieder zur Sprache bringt, ohne es "zum Sprechen" zu bringen, ist die Überlagerung menschlicher Beziehungen, die ja endlich sind, durch den Wunsch nach Unendlichkeit. Der Wunsch, das Begehren, die Sehnsucht werden hier (in Frédéric) zum Wunsch nach allem. Man mag das kindlich oder naiv nennen, und doch ist es Teil unserer Kultur. Der Wunsch wird zu etwas, was nie ganz erfüllt wird. Selbst wenn Frédéric alle Frauen "hätte", wäre er nicht zufrieden und würde weiß Gott wo andere suchen. Nur die herrschende Moral hindert ihn eigentlich, sich diesen unendlichen Wunsch zu erfüllen, der, eben weil er unendlich ist, nie zu Ende wäre. Diese Art von Wunschstruktur resultiert letztendlich aus der Aufklärung, die nicht nur alles erklären, alles ergründen will, sondern auch alles für machbar hält. Dringt dieser Wunsch in unsere Gefühlswelt ein, beherrscht er auch unsere emotionale Struktur. In der ökonomischen Struktur wird dieser Wunsch besonders sichtbar und deutlich, wenn die Ökonomie sich immer weiter ausdehnen, jede Pore der Gesellschaft und des Globus erobern will – und trotzdem sich auch damit nicht zufrieden geben will und kann.

Wenn Chloé Frédéric gegenüber äußert: "Es gibt nichts natürlicheres als die Polygamie" (also ein soziales System längst vergangener Zeiten), so verbalisiert sie im Grunde nur die unterdrückte, d.h. nur gedachte, Wunschstruktur Frederics, der sich gegenüber diesen unterdrückten Wünschen nur mit einer nicht weiter begründbaren Moral zu helfen weiß (die sich in Chabrols Filmen deutlich erkennbar als Doppelmoral erwiesen hatte). Als Chloé sich Frédéric letztlich anbietet, flüchtet er die Treppe hinunter – eine sich wie eine Spirale nach unten dahinziehende Treppe – und fällt in die Arme seiner Frau, die er liebt.

Hier, in dieser Schlussszene, kommt eine Moral zum Vorschein, die mit jener hohlen bürgerlichen Doppelmoral nichts zu tun hat. Die Liebe zu Hélène scheint die Grundlage dieser Moral zu sein, die Treue zu sich selbst und seinen Gefühlen. Hier kommt der leise, aber dennoch in seiner Präzision deutliche Rohmer zum Ausdruck seiner Figuren. Der Wunsch ist längst erfüllt, er ist endlich und umso schöner. Es ist diese konkrete Moral konkreter Menschen mit konkreten, das heißt realisierbaren und endlichen Wünschen, die Rohmer mehr oder weniger klar zum Ausdruck bringt. Der Wunsch, der erfüllt ist, ist permanent. Der Wunsch, der unendlich ist, ist nie erfüllt.

Und trotzdem bleibt ein Gefühl der Unruhe. Denn fällt Frédéric Hélène wirklich in die Arme, weil er das alles erkannt hat, oder ist es wiederum nur eine Flucht und Ausdruck der Beibehaltung der Doppelmoral?

Wertung: 10 von 10 Punkten.

12. Juli 2008