Die Millionen eines Gehetzten
(L’Aîné des Fercheaux)
Frankreich, Italien 1963, 102 Minuten
Regie: Jean-Pierre Melville

Drehbuch: Jean-Pierre Melville, nach einem Roman von Georges Simenon
Musik: Georges Delerue
Director of Photography: Henri Deacaë
Montage: Monique Bonnot, Claude Durand
Produktionsdesign: Daniel Guéret

Darsteller: Jean-Paul Belmondo (Michel Maudet), Charles Vanel (Dieudonne Fercheaux), Michèle Mercier (Lou), Malvina Silberberg (Lina), Stefania Sandrelli (Angie), Barbara Sommers (Lous Freundin), E. F. Medard (Suska), Todd Martin (Jeff), André Certes (Émile Fercheaux)

Freiheit und Einsamkeit

Träume. Enttäuschungen. Ganz unterschiedlicher Art. Ganz unterschiedlicher Männer. Hoffnungen auf Erfolg hier, Abstieg dort. Abenteuerlust hier, Flucht dort. Was schweißt zwei Männer wie Michel Maudet (Jean-Paul Belmondo) und Dieudonne Fercheaux (Charles Vanel) zusammen? Zunächst einmal die Not. Der eine, Maudet, wollte Boxer werden und damit Geld machen. Doch er scheitert, verliert einen Kampf nach dem anderen und wird gefeuert. Der andere hat Geld gemacht, viel Geld, als Bankier, und wird ebenfalls „gefeuert”: Er wird per Haftbefehl wegen irgendwelcher illegaler Geschäfte und wegen lange zurückliegender Morde gesucht.

Melville setzte eine jener Geschichten des vor allem als Kriminalschriftstellers bekannten Georges Simenon in Bilder, die nicht so richtig unter die Sparte Kriminalroman passen wollen – auch wenn der Ursprung der Geschichte das Verbrechen ist. Doch „L’Aîné des Fercheaux” ist kaum ein Krimi, höchstens ein Krimi des Lebens und des Todes.

Fercheaux ist ein abgebrühter, mit allen Wassern gewaschener Bankier, der nie Skrupel kannte, auf alle möglichen und unmöglichen Wegen an Geld zu kommen und sein Geld zu vermehren. Vorgesorgt hat er auch – für den Fall des Falles, der nun eintritt. Drei Morde und dubiose Geschäfte lassen den Untersuchungsrichter auf den Plan treten. Und die besten Beziehungen bis hoch in die Ministerien nützen Fercheaux nun nichts mehr. Er sieht nur noch einen Ausweg: Flucht ins Ausland.

Maudet, dessen Boxerkarriere – wie so vieles in seinem Leben, kann man zu Recht vermuten – gescheitert ist, antwortet auf eine Annonce eines Mittelsmanns Fercheauxs, der einen Sekretär sucht, der ihn die Vereinigten Staaten begleiten soll. Fercheaux ist nicht nur ein Gauner, sondern darüber hinaus intelligenter Mann, der in vielen Jahren gelernt hat, Menschen einzuschätzen. Er merkt sofort, das Maudet ihn belügt, was dessen Vergangenheit betrifft. Aber trotzdem gefällt ihm der wesentlich jüngere Mann; und er engagiert ihn.

Maudet andererseits weiß Bescheid über Fercheaux, was ihn nicht davon abhält, sich in das Abenteuer zu stürzen. Abenteuer ist vielleicht nicht der richtige Begriff. Maudet wittert bei dem alten, gerissenen Mann die Chance, an leicht verdientes Geld zu kommen. In New York hat Fercheaux vorgesorgt: er besitzt dort nicht nur ein Bankkonto, sondern in einer anderen Bank auf einen dieser Tresore, deren Inhalt den Augen aller anderen versperrt ist. Natürlich befindet sich dort viel Geld – eben für den Fall des Falles. Auch in Caracas hat Fercheaux „Rücklagen” gebildet.

Mit dem Koffer voller Geld und einem Mietwagen verlassen beide New York Richtung Süden, weil inzwischen ein Auslieferungsgesuch der französischen Regierung gegen Fercheaux in den USA angelangt ist. Die Polizei, die noch nicht zugreifen kann, weil über das Auslieferungsgesuch noch nicht entschieden ist, immer im Windschatten, kommen Fercheaux und Maudet irgendwann in Louisiana an, wo der Bankier ohne Bank, dessen Bruder inzwischen aufgrund der Ermittlungen der französischen Behörden Selbstmord begangen hat, ein Haus anmietet – in New Orleans. Beide treffen dort auf viele Leute, die bald auch von dem Geld wissen, und auf Frauen, die vor allem Maudet interessieren. Doch Fercheaux scheint todkrank, und die Ereignisse spitzen sich zu ...

„L’Aîné des Fercheaux” handelt von zwei unterschiedlichen Männern mit unterschiedlichen Zielen, einer Art Vater-Sohn-Beziehung mit allen Konflikten, die in einer solchen Beziehung geschehen können. Vor allem aber tariert Melville das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Zwängen am Beispiel der beiden Männer aus. Die Freiheit Fercheauxs ist letztlich „nur” die Freiheit des Geldes, die Möglichkeit des Nutzens der unbegrenzten Möglichkeiten dieser Freiheit, und die Erkenntnis seiner Grenzen, die Fercheaux angesichts der Ermittlungen zu spüren bekommt. Fercheaux steht am Ende dessen, an dessen Anfang Maudet steht. Maudet ist ein Abenteurer, einer, der keinen durchschnittlichen, normalen Job annehmen würde, einer der die Möglichkeiten austarieren will, die das Geld und vieles andere ihm bieten.

Das Geld scheint also die vermittelnde Instanz, und vieles deutet im Film darauf hin – etwa wenn Maudet am Schluss den Koffer stehlen will. Doch so ganz sicher kann man sich da nicht sein. Und als Maudet in New Orleans genug hat von Fercheaux, den er auf dem „absteigenden Ast” sieht und der durch seine Krankheit Maudets Distanz erzeugt, gibt er sich dem Leben hin, den Frauen, dem Alkohol. Fercheaux antwortet darauf mit einem Satz, der über dem gesamten Film stehen könnte:

„Sie haben heute Nacht erlebt,
was Freiheit bedeutet.
Und ich weiß jetzt,
wie bitter die Einsamkeit schmeckt.”

„L’Aîné des Fercheaux” ist ein Film über Einsamkeit, wie Melville selbst betont hat – die Einsamkeit des Ausgestoßenen wie die Einsamkeit der Freiheit. Fercheaux hat diesen jungen Mann auf eine ungewöhnliche Weise lieb gewonnen – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben knüpft er eine solche Beziehung und hat derartige Empfindungen. Das alles geschieht in einer Situation, in der er außer seinem verdammten Geld nichts anderes hat als Maudet.

Maudet hingegen schwankt zwischen dem gewissen Zauber, den Fercheaux durch seine Menschenkenntnis, seine Intelligenz usw. verbreitet, und der Isolierung, in die sich Fercheaux im Lauf der Jahre begeben hat und die ihn nun zur Flucht gezwungen hat. Fercheaux wird seine Einsamkeit, die ihn letztlich fast sein ganzes verdammtes Leben begleitet hat, erst im Moment seines Scheiterns bewusst. Maudet spürt erst in der konfliktträchtigen Beziehung zu Fercheaux, was Freiheit bedeuten könnte.

Und doch ist da am Schluss dieser Augenblick, dieser verzwickte und doch elementare, wichtigste Augenblick, in dem Freiheit und Einsamkeit ihren wahren Ausdruck finden. Als Fercheaux von einer paar Gaunern überfallen wird, die den Koffer mit dem Geld an sich nehmen wollen, kehrt Maudet, der eben mit diesem Koffer Fercheaux verlassen wollte, zurück und rettet den alten Mann davor, ermordet zu werden. Es sind diese letzten Minuten, bevor Fercheaux stirbt – an seiner Krankheit, seinem Leben, seinen Erfahrungen –, diese letzten Sekunden, in denen Maudet den alten Mann im Arm hält, die auf gewisse Weise beiden Männern das Leben rettet. Der Augenblick des Todes ist zugleich der Augenblick der Rettung, der Erlösung – einer ganz unspektakulären Erlösung des Bewusstwerdens und des Empfindens von wirklicher Freiheit – und Einsamkeit. Denn Maudet bleibt zurück, den Toten im Arm, die Zukunft vor sich, welche auch immer.

Ein perfektes Paar – Vanel und Belmondo –, perfekt in Aussehen und Haltung, Mimik und Gestik, macht diese Geschichte, diese oft leise erzählte Geschichte, diese in Ruhe – trotz aller Aufregung und trotz aller Konflikte – ablaufende Geschichte auch heute noch, zumindest für den, der sich darauf einlassen will, zu einem Ereignis.

© Bilder: Ultra Film, Pierrot Le Fou
Screenshots von der DVD.


 

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