Die roten Schuhe (The Red Shoes) Großbritannien 1948, 133 Minuten Regie: Michael Powell, Emeric Pressburger
Drehbuch: Michael Powell, Emeric Pressburger, nach Motiven von Hans Christian Andersen Musik: Brian Easdale, Kenny Baker, Pyotr Ilyich Tchaikovsky Director of Photography: ack Cardiff Montage: Reginald Mills Produktionsdesign: Hein Heckroth
Darsteller: Anton Walbrook (alias Adolf Wohlbrück) (Boris Lermontov), Marius Goring (Julian Craster), Moira Shearer (Victoria Page), Robert Helpmann (Ivan Boleslawsky), Léonide Massine (Grischa Ljubov), Albert Bassermann (S. Ratov), Ludmilla Tchérina (Irina Boronskaja), Esmond Knight (Livingstone „Livy“ Montagne), Irene Browne (Lady Neston)
Tanzen müssen, lieben müssen
Grischa: „Sie können die menschliche Natur nicht ändern.“ Lermontov: „Nein, man kann etwas viel besseres tun: sie ignorieren.“
Die Bühne tut sich auf – sie öffnet sich unserem Auge, ein buntes, manchmal mysteriöses, manchmal dunkel-angsterfülltes Szenarium breitet sich vor uns aus. Eine Tänzerin mit roten Schuhen springt auf die Bühne: Moira Shearer, eine begnadete Balletteuse, aber auch eine exzellente Schauspielerin spielt das Mädchen mit den roten Schuhen, frei nach Andersens Märchen „Die roten Schuhe“. Gut 20 Minuten des Films greifen Raum für diese Aufführung des Balletts im Film. Was auf der Bühne nicht in dieser Weise geschehen kann, geschieht im Film. Mittels special effects wechselt Frau Shearer die üblichen Ballettschuhe mit den roten in Windeseile, schwingt sich durch die Luft, die Szenenbilder wechseln, wie dies nur im Film möglich ist. Und doch ist das Beherrschende der Tanz der Shearer in einem überwältigenden Szenenbild.
Der englische Regisseur Michael Powell (1905-1990) inszenierte zusammen mit dem während des zweiten Weltkrieges aus Ungarn emigrierten Emeric Pressburger (1902-1988) einen der wohl bekanntesten Ballettfilme der Filmgeschichte – in den Hauptrollen Moira Shearer und der aus Hitler-Deutschland emigrierte Adolf Wohlbrück, der sich später Anton Walbrook nannte. Später spielte Moira Shearer in „Hoffmanns Erzählungen“ (1951) und in dem Filmklassiker „Peeping Tom“ (1960) neben Karl-Heinz Böhm nochmals Hauptrollen unter der Regie von Powell.
In „Die roten Schuhe“ spielte Moira Shearer die junge Balletteuse Victoria Page, die von einer Karriere als Tänzerin träumt. Vor allem möchte sie Mitglied des Balletts des anerkannten und berühmten Boris Lermontov (Anton Walbrook) werden. Auf einem Empfang ihrer Tante Lady Neston (Irene Browne) geraten Victoria und Lermontov aneinander. Er hält es für unmöglich, auf einem solchen Empfang zu tanzen. Und er fragt Vicky:
„Warum wollen sie tanzen?“ Vicky: „Warum wollen sie leben?“ Lermontov: „Ich weiß nicht genau warum, ich muss.“ Vicky: „Das ist auch meine Antwort.“
Auch der junge Komponist Julian Craster (Marius Goring) will bekannt werden. Er beschwert sich bei Lermontov, dass ein anderer eine seiner Partituren gestohlen und als eigenes Werk ausgegeben hat. Lermontov stellt Craster als Dirigenten ein. Und als die Primaballerina Irina Boronskaja (Ludmilla Tchérina) sich entschlossen hat zu heiraten, beschließt Lermontov, statt ihrer die begabte Vicky zum Star seines Balletts aufzubauen. Fortan wird Vicky mit Craster, dem ersten Tänzer Grischa (Léonide Massine), dem Dirigenten Montagne (Esmond Knight) und dem Tänzer Ivan (Robert Helpmann) zusammenarbeiten.
Craster bekommt von Lermontov den Auftrag, ein Ballett nach Andersens Märchen „Die roten Schuhe“ vollständig zu überarbeiten, ein Stück, an dessen Ende ein Mädchen nicht mehr aufhören kann zu tanzen, weil sich die roten Schuhe selbständig gemacht haben; am Schluss stirbt das Mädchen.
Die Uraufführung des Balletts in Monte Carlo wird zu einem sensationellen Erfolg. Doch als sich Vicky und Craster ineinander verlieben, kündigt Lermontov vor Wut dem Komponisten – nicht weil er selbst in Vicky verliebt ist, sondern weil er Liebe und Ballett nicht für vereinbar hält. Vicky bricht ihren Vertrag und folgt Craster nach England, wo beide heiraten. Als Vicky Monate später zu Lermontov zurückkehrt, ist Craster verzweifelt. Er fährt Vicky nach – und es kommt zu einer Katastrophe ...
„Die roten Schuhe“ sind, wie deutlich geworden sein sollte, kein „reiner“ Ballettfilm. Powell und Pressburger lassen die Geschichte um einen Konflikt kreisen. Anton Walbrook spielt einen Mann, der nur Menschen in seiner Truppe haben will, die sich voll und ganz dem Tanzen hingeben. Wer sich der „bürgerlichen Liebe“ hingeben wolle, könne nie eine große Tänzerin werden. Tanz und Liebe schließen sich für ihn aus. Lermontov, arrogant, egozentrisch, Bonvivant, aber nicht bezogen auf Frauen, sondern auf die Kunst und seinen persönlichen Lebensstil, vor allem aber einsam lebt nur für eines: die Musik und den Tanz. Und genau dies verlangt er von allen, die seinem Ballett angehören. Walbrook spielt diesen Mann in einzigartig überzeugender Weise.
Ihm gegenüber steht eine junge Frau, die anfangs glaubt, nur der Tanz sei ihr Leben, dann aber begreift, dass es noch etwas anderes gibt. Die Liebe zu Craster (und seine zu ihr) ist tief und echt. Als sie Craster der Liebe wegen folgt und Lermontov wegen dessen Verachtung und Egoismus verlässt, spürt sie bald, dass ihr trotz der Liebe zu Craster etwas fehlt: das zweifellos vorhandene geniale Gespür Lermontovs für das Ballett, für die Inszenierung von etwas Großem, Erhabenem. Dieser Zwiespalt führt – wie im Märchen Andersens – zu einer Katastrophe.
Craster erkennt nicht, dass beider Liebe nur ein Teil von Vickys Leben ist; er sieht keinen Kompromiss zwischen beider Beziehung und der weiteren Arbeit bei Lermontov. In einer der letzten Szenen des Films sieht man Vicky in verzweifeltem Zustand auf dem Weg zur Bühne, und plötzlich sind es auch bei ihr die roten Schuhe, die sie zurückhalten, die Bühne zu betreten. Die Schuhe zerren sie zurück und sie will Craster noch am Bahnhof vor dessen Abreise einholen. Ein Sturz vor den Zug beendet ihr Leben, und für einen Moment weiß man nicht, ob dies ein Unfall oder ein absichtlicher Sturz war.
Der Film lebt aber nicht nur von den exzellenten schauspielerischen Leistungen des einen Egozentriker spielenden Walbrooks, der vollkommen natürlich spielenden Moira Shearer und des einen jungen, ehrgeizigen Komponisten darstellenden Marius Goring sowie den beschriebenen Konflikten, in denen die subjektiven Defizite der drei zu einer Tragödie führen, sondern auch von der hervorragend in Szene gesetzten Theateratmosphäre, dem von Hein Heckroth verantworteten Produktionsdesign und last but not least der übrigen Truppe, v.a. auch dem einen immer lebhaften, aufbrausenden, aber liebevollen Tänzer spielenden Léonide Massine. All dies summiert sich zu einem homogenen Gesamtbild, das den Film zu einem der besten des Genres werden ließ.
Die gut 20 Minuten dauernden Ballettszenen in der Mitte des Films dürften selbst diejenigen attraktiv finden, die nicht unbedingt Ballett-Begeisterte sind – wie ich. Moira Shearer, das sei noch gesagt, ist mit ihren knallroten Haaren und Lippen und ihrer natürlichen Art zu spielen eine Augenweide des Films.
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