Die Stunde des Wolfs
(Vargtimmen)
Schweden 1968, 84 Minuten
Regie: Ingmar Bergman

Drehbuch: Ingmar Bergman
Musik: Lars Johan Werle
Director of Photography: Sven Nykvist
Montage: Ulla Ryghe
Produktionsdesign: Marik Vos-Lundh

Darsteller: Max von Sydow (Johan Borg); Liv Ullmann (Alma Borg); Gertrud Fridh (Corinne von Merkens); Georg Rydeberg (Lindhorst); Erland Josephson (Baron von Merkens); Naima Wifstrand (alte Frau mit Hut); Ulf Johansson (Therapeut Heerbrand); Gudrun Brost (alte Frau von Merkens); Bertil Anderberg (Ernst von Merkens); Ingrid Thulin (Veronica Vogler)

Nachtmahre …

„Diese Stunde ist die Schlimmste… Die Alten
nennen sie die Stunde des Wolfes. In dieser
Stunde sterben die meisten. Und die meisten
Kinder werden geboren. Es ist die Zeit der
Nachtmahre, weißt du? Und wenn wir
Aufwachen, dann fürchten wir uns.“
(Johan zu Alma)

Die realistische Rahmenhandlung in „Die Stunde des Wolfes“ könnte man als den Versuch deuten, das Schreckliche erträglich zu gestalten. Ein Filmteam lässt sich von Alma erzählen, wie sie mit ihrem Mann, dem Maler Johan, die letzten Monate verbracht hat – bis er spurlos verschwunden war. Sie zeigt dem Regisseur Johans Tagebuch, das sie heimlich gelesen hatte.

Baltrum. Eine friesische Insel, auf der Johan und Alma einen Großteil ihrer Zeit verbringen. In aller Stille kommen sie seit sieben Jahren im Sommer hierher. Beschwingt, zu Scherzen aufgelegt, sich hinter Bettlaken küssend scheint sich das Paar in einer ruhigen, gelassenen Fröhlichkeit zu fühlen, eine Vertrautheit, der niemand und nichts etwas anhaben kann. Johan allerdings ist nicht nur ein ruhiger, nahezu oft verschwiegener Mensch, der sich vor allem seiner Malerei widmet. Johan hat düstere Gedanken, die er in Angst ausdrückenden Bildern festhält. Er zeigt sie Alma, die ihrerseits ängstlich reagiert angesichts der Dämonen, die Johan in diesen Bildern festgehalten hat. Johan kann nachts nicht mehr schlafen. Erst wenn es hell wird, geht er zu Bett. Und Alma folgt ihm seit neuestem.

Eines Tages steht eine in Weiß gekleidete alte Dame vor dem kleinen Haus, in dem Alma und Johan leben. Sie rät Alma, Johans Tagebuch zu lesen, und verschwindet wieder. Das Tagebuch offenbart Bruchstücke aus dem Leben Johans, u.a.: Seine frühere Geliebte Veronica Vogler, mit der er fünf Jahre zusammengelebt hatte, trifft er am Ufer, wo er malt. Ein Mann namens Heerbrand quatscht Johan an einem anderen Tag an, und redet und redet und redet, bis ihn Johan niederschlägt.

Ein Baron von Merkens, dem die Insel angeblich gehört, lädt Johan zu einem Fest im Schloss ein. Und als Johan und Alma dieses Fest besuchen, treffen sie auf eine makabre Gesellschaft – den Baron und seine Frau, die alte Frau Merkens, den Therapeuten Heerbrand und einen Herrn Lindhorst. Und in jeder Sekunde erinnern diese Personen Johan an seine Vergangenheit – an seine Beziehung mit Veronica Vogler, an seine Alpträume, an seinen Aufenthalt in der Psychiatrie …

„Ist es nicht so, dass eine Frau, die lange
mit einem Mann zusammenlebt, im Laufe
der Jahre diesem Mann ähnlich wird?
Wenn sie ihn liebt, beginnt sie, zu denken
wie ihr Mann, zu sehen wie er. Es heißt,
dass sich dadurch ein Mensch verändert.“
(Alma in all ihrer Angst)


Immer deutlicher verschwimmt in Bergmans Film die Grenze zwischen Realität und Einbildung. Waren die bedrohlichen Gestalten zunächst nur in Johans Bildern zu sehen, personifizieren sie sich im Schloss als freundlich und zuvorkommend scheinende, doch eben auch Aggressivität und Angst verbreitende Figuren eines Alptraums – wie die Nachtmahre, die Alps, die sich nachts einem Menschen auf die Brust setzen und schlechte Träume verursachen.

Bergman umkreist die schwere psychotische Störung Johans wie wenige Jahre später auch in „Schreie und Flüstern“ (1972), ohne allerdings in „Vargtimmen“ die Ursache dieser Störung, die sich in Wahnvorstellungen und einem stärker werdenden Realitätsverlust manifestiert, zu benennen. Man kann nur ahnen, dass sie etwas mit der früheren Beziehung zu der blonden Veronica zu tun haben könnte. Sie könnte jedoch genauso gut mit dem Mord an einem Jungen zu tun haben, den Johan angeblich getötet hat, weil er ihn gebissen hatte.

Andererseits ist fraglich, ob es diesen Jungen überhaupt gegeben hat. Bergman zeigt uns diese Szene (die Johan Alma erzählt) ohne Ton, wie in einem Stummfilm, als ob die Unbegreiflichkeit dieser Tat durch Stummheit erträglicher würde. Und fraglich ist auch, ob es die blonde Veronica je gegeben hat. Auch sie kennt Alma und kennen wir nur aus Erzählungen Johans und aus seinem Tagebuch.

Bis zur Schlussszene, in der Alma dem Filmteam noch etwas zu sagen hat, wird es auch für den Betrachter immer schwieriger, zwischen Realität und Wahn zu differenzieren. Der entscheidende Punkt aber ist es, dass auch Alma – ab dem Zeitpunkt, in dem ihr die alte Frau die Lektüre des Tagebuchs Johans ans Herz legt – immer weniger zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden vermag. Hat sie die Schlossbewohner wirklich getroffen? Oder hat sie – vor dem Hintergrund der mit Johan geteilten Schlaflosigkeit, daraus resultierenden Erschöpfung und der wachsenden Angst um Johan – teil an dem Wahn, den Johan befallen hat? Ist sie – aus unermesslicher Liebe zu dem Maler und stetiger Annäherung an ihn – zu einem Teil seiner Vorstellungswelt geworden, so dass beide die gleichen Wahnvorstellungen erleben? Darauf deutet hin, dass der zweite Teil des Films nochmals mit dem Filmtitel eingeleitet wird. Almas Geschichte der Teilhabe am Wahn scheint hier zu beginnen.

Auf der anderen Seite wird Johan nach dem erniedrigenden Fest auf dem Schloss gegenüber Alma immer verschlossener und aggressiver; er schießt auf sie und verletzt sie leicht. Die Waffe hatte er von einem der Schlossbewohner.

Doch auch bezüglich dieser Szene muss man fragen, ob sie wirklich passiert ist oder dem Wahn Johans geschuldet ist. In Johans Welt der Ängste und Bedrohungen wäre es nur logisch, wenn ihm die Nachtmahre die eigene Frau wegnehmen, um sie gegen ihn aufzubringen.

 „Das Glas ist zerbrochen, aber was
reflektieren die Scherben?
Kannst du mir das sagen?“
(Johan zu Alma)

Bergman war selbst Zeit seines Lebens immer wieder von Ängsten geplagt. Und sicherlich drückt sich dieser Umstand deutlich in „Vargtimmen“ aus.

Er arbeitet mit Elementen des Surrealen (etwa wenn ein Mann aus Eifersucht im wahrsten Sinn des Wortes die Wand hochgeht), des Geisterfilms und spielt mit Licht und Schatten, vor allem der Dunkelheit, die irgendwann nur noch durch eine Wahnvorstellung im Kerzenschein erhellt wird. Teilweise haben solche Szenen tragikomische Züge. „Vargtimmen“ ist allerdings kein Horrorfilm, wie manchmal zu lesen ist, auch wenn den Maler das Grauen befallen hat. Bergman drehte diesen Film im selben Jahr wie Polanski „Rosemaries Baby“. Und obwohl beide Filme thematisch wenig bis gar nichts miteinander zu tun haben, wenden sie sich in einer Zeit, in der viele immer deutlicher und lauter das hohe Lied des Verstandes und der Vernunft singen, gegen die Verdrängung des Psychopathologischen und der Bedeutung der Emotionen aus der öffentlichen Diskussion. Auch wenn dies für Bergman nicht der Grund gewesen sein mag, diesen Film zu drehen, steht er in dieser Tradition.

Die beiden Hauptdarsteller Liv Ullman und Max von Sydow, die zu von Bergman viel beschäftigten Darstellern gehören, tragen „Vargtimmen“ im wahrsten Sinn des Wortes. Ohne sie wäre dieser Film unmöglich gewesen. Und eine bessere Besetzung kann man sich kaum vorstellen.

Wertung: 9 von 10 Punkten.
(23.8.2013)