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Die unbarmherzigen Schwestern (The Magdalene Sisters) Großbritannien, Irland 2002, 119 Minuten Regie: Peter Mullan
Drehbuch: Peter Mullan Musik: Craig Armstrong Director of Photography: Nigel Willoughby Montage: Colin Monie Produktionsdesign: Mark Leese, Jean Kerr, Caroline Grebbell
Darsteller: Geraldine McEwan (Schwester Bridget), Anne-Marie Duff (Margaret Maguire), Dorothy Duffy (Patricia / Rose), Eileen Walsh (Crispina), Nora-Jane Noone (Bernadette), Daniel Costello (Pater Fitzroy), Mary Murray (Una), Britta Smith (Katy), Frances Healy (Schwester Jude), Eithne McGuinness (Schwester Clementine), Phyllis McMahon (Schwester Augusta), Chris Simpson (Brendan)
Finsternis bedeckt die Erde
Peter Mullan, der bisher nur wenige Regiearbeiten vorlegte (u.a. die hierzulande weniger bekannten Filme „Orphans“ [1997] und „Fridge“ [1996]) und als Schauspieler aus Filmen wie „Ein ganz gewöhnlicher Dieb“ (2000, neben Kevin Spacey und Linda Fiorentino) oder „Das Reich und die Herrlichkeit“ (2000, neben Milla Jovovich, Wes Bentley und Nastassja Kinski) sowie Filmen von Ken Loach bekannt ist, widmet sich in einem heiklen Thema: den Zuständen in irischen Magdalenen-Heimen für „gestrandete Mädchen“. Diese „Heime“, von den „Sisters of Mercy“ geführt, durchliefen ca. 30.000 junge und ältere Frauen. Ein Teil von ihnen lebte dort bis zum Tod. Die letzte dieser Einrichtungen wurde erste 1996 geschlossen. Ohne Zweifel herrschten in diesen katholischen Einrichtungen totalitäre Zustände, die nicht funktioniert hätten, wenn außerhalb, in der Bevölkerung, in den Familien, aus denen die jungen Frauen in die Heime gezwungenermaßen geschickt wurden, nicht ebensolche totalitären Verhaltensmuster vorhanden gewesen wären. Der Film spielt im Irland der 60er Jahre und erzählt die Geschichte von vier jungen Frauen, Geschichten, die Mullan recherchiert hat, Geschichten, die in ihrer filmischen Adaption wahrscheinlich nur ein Bruchteil des Leids widerspiegeln können, das den Tausenden von Frauen tatsächlich zugefügt wurde. Aber selbst wenn nur die Hälfte von dem richtig wäre, was Mullan inszenierte, wäre es schlimm genug.
Irland 1964. Während einer Hochzeitsfeier mit lauter irischer Musik – alle sind fröhlich – wird Margaret (Anne-Marie Duffy) Opfer einer brutalen Vergewaltigung. Doch nicht der Täter wird verprügelt, angezeigt oder wenigstens vertrieben, nein, Margaret wird von der eigenen Familie verstoßen. Eine Frau, die vergewaltigt wurde, ist wohl selbst schuld; sie muss den armen Täter dazu motiviert haben. Im Heim der „Sisters of Mercy“ trifft sie auf Bernadette (Nora-Jane Noone). Sie ist hier, weil sie im Schulhof mit Jungens, die am Geländer zur Schule standen, geflirtet hat. Dieses „Vergehen“ reichte aus, um sie als „gefallenes Mädchen“ in das Heim zu schicken. Die dritte im Bunde ist Rose (Dorothy Duffy), die ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hat. Ihre Mutter schaut das Baby nicht einmal an; ihr Vater – stumm vor Abscheu angesichts des „Frevels“ seiner Tochter – lässt einen Priester kommen, der Rose dazu zwingt, das Kind zur Adoption freizugeben. Auch Rose landet im Heim. Ähnlich erging es Crispina (Eileen Walsh), die sich bereits länger im Heim befindet. Auch sie hat einen unehelichen Sohn, mit dem ihre Schwester ab und zu heimlich am Zaun des Magdalenen-Heims erscheint, damit Rose ihn wenigstens aus der Ferne beim Wäscheaufhängen sehen kann. Ihr einziger Trost ist eine Kette mit einem Anhänger, der sie an ihren kleinen Jungen, der zwei Jahre alt ist, erinnert, eine Kette, ohne die sie nicht mehr leben könnte.
Margaret, Bernadette und Rose werden bei ihrer erzwungenen Ankunft von Schwester Bridget (Geraldine McEwan) empfangen. Sie – die gerade mal wieder Geld zählt – macht den drei jungen Frauen von Anfang an deutlich, dass in ihrem Heim nicht nur Zucht und Ordnung herrscht. Die Insassinnen werden jeder Subjektivität beraubt. Sie müssen in der Wäscherei schuften, dürfen während der Arbeit kein Wort sprechen, bekommen keinen Lohn für ihre Arbeit, werden bei Verstößen körperlich gezüchtigt, bekommen zum Frühstück, bei dem aus der Bibel vorgelesen wird, nur Porridge zu essen (während die Schwestern üppig essen und in Geld schwimmen), dürfen das Heim nicht verlassen – kurzum, sie leben in einem Gefängnis, aber ohne Möglichkeit irgendeines Kontakts zu Außenwelt, ohne Anwalt, ohne Gefangenen-Rechte, ohne Geld.
Eine der Gefangenen, Una (Mary Murray), die einen Fluchtversuch unternimmt, wird von ihrem Vater (gespielt von Peter Mullan) zurückgebracht und verprügelt. Ihr Vater macht ihr ein für allemal klar, dass sie keine Familie, keinen Vater und keine Mutter mehr hat. Rose wird von Schwester Bridget – die ausgerechnet ein Foto von John F. Kennedy auf dem Schreibtisch stehen hat – sogar der Name entzogen, weil es schon eine Rose im Heim gebe; sie muss sich fortan Patricia nennen. Crispina, die ihre Halskette verliert, verzweifelt zusehends an den schändlichen Bedingungen, versucht sich umzubringen und landet zum Schluss in der Psychiatrie. Mit 24 Jahren stirbt sie an den Folgen von Magersucht.
Nach langen Monaten solch erniedrigender Bedingungen beschließt Bernadette nach dem Tod einer älteren Insassin zu fliehen – zusammen mit Rose ...
Die heftigen Proteste aus dem Vatikan gegen das mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnete Drama dürfen kaum verwundern. Dem Vatikan war bisher alles eine Schande, was der Aufdeckung der Verbrechen und Vergehen im Namen der heiligen katholischen Kirche diente. Mullans filmische Abrechnung bekam allerdings auch von anderer Seite Kritik. Der Heimalltag sei plump geschildert; der Film gerate zu einem grellen Pamphlet, las ich beispielsweise in der Frankfurter Rundschau.
Ich kann nach Sicht des Films derartige Kritiken nicht ganz nachvollziehen. Die FR selbst lobt die Eingangsszene, die auch für mich zum besten gehört, was Film zu bieten hat. Die Szene zeigt eine Hochzeitsfeier, man hört nichts weiter als laute irische Musik, gespielt u.a. von einem Priester. Dann lockt ein junger Mann Margaret unter einem Vorwand in ein abgelegenes Zimmer und vergewaltigt sie. Margaret erzählt dies ihrer Mutter, die ihrem Mann und der sagt es einem älteren Priester. Von diesen Gesprächen hört der Zuschauer kein Wort, man sieht nur die Gesichter, die sich bewegenden Münder, die Reaktionen. Die irische Volksmusik kontrastiert das, was gerade geschehen ist.
Mullan zeichnet nach Ankunft der drei „gefallenen“ Mädchen ein eindrucksvolles und intensives, ein bewegendes Bild von den Verhältnissen in einer totalitären Struktur. An den Nonnen, die dieses Heim führen, ist nichts gut zu reden. Sie funktionieren als Diktatoren respektive Handlanger einer Ideologie, die jeder Frau, die die Pforten des Heimes überschreitet, jegliche Subjektivität nimmt. In Schwester Bridget, die das Heim leitet, aber auch in ihren Untergebenen personifiziert sich die Doppelbödigkeit und die Doppelmoral dieser Ideologie. Sexueller Missbrauch etwa ist eben die andere Seite einer prinzipiell verkündeten und mit aller Macht durchgesetzten Lustfeindlichkeit, die sich im Film als Missbrauch von Crispina durch Pater Fitzroy (Daniel Costello) manifestiert. Mullan zeigt auch eine Szene, in der die Insassinnen im Bad nackt vor zwei Schwestern stehen, die sie zutiefst erniedrigen. Sie veranstalten das „Spielchen“: Wer hat die größte Brust, wer ist am meisten behaart.
Mullan zeigt die verschiedenen Ebenen dieser Unterdrückung, dieser Quälerei, dieser langsamen Zerstörung und deren Folgen. Eine ältere Insassin beispielsweise hat die verquere Ideologie der „Sisters of Mercy“ bereits so weitgehend in sich aufgesogen, dass sie selbst daran glaubt, anders könnte sie nicht mehr leben. Mullan übertreibt jedoch nicht in der Darstellung. Er kostet die erniedrigende Situation und die teils sadistischen Praktiken nicht aus. Seine Perspektive ist die der vier Frauen, die er durchaus in ihrer Ambivalenz und in ihren Schwächen ebenso vorführt wie einige wenige Nonnen, die durchaus menschliche Züge tragen. Bernadette zum Beispiel stiehlt Crispina die Halskette, an der diese so hängt, will sie ihr heimlich zurückgeben, nimmt sie wieder an sich, und trägt so mit dazu bei, dass Crispina immer weiter in Depressionen getrieben wird. Margaret, die schnell begriffen hat, was in diesem Heim vor sich geht, wäre charakterlich stark genug, um dieser Qual ein Ende zu setzen, doch sie zögert, hält sich aus allem heraus, wartet ab, flieht nicht einmal dann, als sie eine Gartentür findet und ein Auto anhält, dessen Fahrer sie mitnehmen würde. Sie bleibt. Aus Angst? Aus Mitgefühl zu ihren Leidensgenossen? Erst später nimmt sie Rache an Pater Fitzroy.
Auch Rose handelt nicht. Bernadette denkt zumeist an sich selbst und ihren Vorteil. Mullan zeigt eben auch, wie schwierig unter solchen Bedingungen konkrete Solidarität ist. Warum ist das so schwierig?
Nun, die Macht dieses totalitären Gefängnisses hat drei Säulen. Grundvoraussetzung ist eine Gesellschaft, die selbst – zumindest teilweise – die moralisch aufgeladenen, nichtsdestotrotz aber ausschließlich der Aufrechterhaltung spezifischer Hierarchien dienenden Inhalte einer zur Ideologie verkümmerten Religion internalisiert hat. Mullans Film ist ausschließlich aus der Binnenansicht des Heimes gedreht; und trotzdem spürt man immer wieder das, was außen ist. Die zweite Säule ist die Gewalt, die sich in vielerlei Hinsicht zeigt, in körperlichen Züchtigungen, in Erniedrigungen aller Art, in der Entsubjektivierung der Insassinnen. Der zentrale Punkt jedoch ist die Ideologie selbst, die in diesem Fall auf dem Missbrauch des Gottesglaubens durch eine Institution beruht. Dies ist der Anknüpfungspunkt, um die jungen Frauen in Schach zu halten, die selbst im Glauben erzogen wurden. Die Ideologie versucht erfolgreich, ihnen jegliche Möglichkeit des Widerstands, des Aufbegehrens zu nehmen, weil sie sich als Glaube ausgibt, als von Gott befohlen. Die Definitionsmacht über den Glauben verkümmert von einer inneren Entscheidung und einem inneren Gefühl des einzelnen zu Gott zu einer institutionellen Allmacht, die im Papst als unfehlbarem Stellvertreter Gottes auf Erden seine höchste Blüte findet. Solange die Insassinnen nicht erkennen, dass Glaube und Institution zwei verschiedene Dinge sind, können sie in Schach gehalten werden. Die Misshandlungen, denen sie unterliegen, können sie letztlich nicht begreifen; sie sind in einem tieferen Sinn des Wortes un-fassbar, un-begreiflich, schicksalhaft.
In dieser Hinsicht erinnert „Die unbarmherzigen Schwestern“ an Jacques Rivettes „Die Nonne“ (1966, mit Anna Karina in der Hauptrolle), in der eine junge Frau auf drei Schwestern trifft, in denen sich Machtmissbrauch, sexueller Missbrauch und Korruption verkörpern. Das gerade Gegenstück ist Leo McCareys „The Bells of St. Mary’s“ (1945, mit Ingrid Bergman und Bing Crosby), in der eine verherrlichende Sicht des Lebens einer Nonne gezeigt wird. Mullan zeigt eine Szene, in der Schwester Bridget diesen Film den Insassinnen vorführt: eine Verblendung, in der Bridget selbst lebt, ebenso wie das Bild von Kennedy auf ihrem Schreibtisch.
Mullan zeigt, wie ein totalitäres Regime, hier in der beängstigenden Abgeschirmtheit eines Heimes für „gefallene Mädchen“ funktioniert. Er zeigt, dass das, was so unbeholfen als „Fundamentalismus“ bezeichnet wird, nicht nur in anderen Kulturen existiert. In „Finsternis bedeckt die Erde“, einem Roman, der 1957 erscheinen durfte, zeigte der polnische Schriftstellers Jerzy Andrzejewski die Parallelen zwischen der stalinistischen Gewaltherrschaft und der Inquisition in Spanien. Pater Diego lässt sich in dieser Geschichte von Großinquisitor Torquemada von der Richtigkeit des „heiligen Terrors“ überzeugen (nachdem er zunächst über die Verfolgung entsetzt war), weil er wieder in Übereinstimmung mit „seiner“ Kirche leben will. Dieser (innere wie äußere) Zwang zur Anpassung, zur Internalisierung der ideologischen und gewalttätigen Macht beherrscht sein Leben.
In der kleinräumigeren Atmosphäre des Heims der Magdalenen geht es ähnlich zu. Auch die Insassinnen stehen vor der schwierigen Situation, ein Leben im Einklang mit den totalitären Strukturen zu führen (wie die im Film gezeigte Katy) oder den Bruch zu wagen. Es ist bezeichnenderweise Bernadette (die zwischen blankem Egoismus und dem Gespür für die anderen hin und her schwankt), die sich letztlich dazu überwindet, diesen Verhältnissen zu entfliehen. Die Szene, in der sie Schwester Bridget den Schlüssel entwendet, steigert Mullan so weit, dass man sich klammheimlich wünscht, Bernadette würde Bridget Gewalt antun. Sie tut es aber nicht.
Ein beklemmender, wütend machender und phantastischer Film. Ein wichtiger Film.
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