Doktor Schiwago (Doctor Zhivago) USA 1965, 197 Minuten Regie: David Lean
Drehbuch: Robert Bolt, nach dem Roman von Boris Pasternak Musik: Maurice Jarre Director of Photography: Freddy Young, Nicolas Roeg Montage: Norman Savage Produktionsdesign: John Box
Darsteller: Omar Sharif (Dr. Yuri Zhivago), Julie Christie (Lara), Geraldine Chaplin (Tonya), Rod Steiger (Kamarovsky), Alec Guinness (General Yevgraf Zhivago), Tom Courtenay (Pasha), Siobhan McKenna (Anna), Rita Tushingham (Das Mädchen), Jeffrey Rockland (Sasha), Tarek Sharif (Yuri, 8 Jahre alt), Bernard Kay (Der Bolschewik), Klaus Kinski (Kostoyed), Gérard Tichy (Liberius), Noel Willman (Razin)
Liebe in den Zeiten der Revolution
Es ist fast nichts anderes als: Sehnsucht. Manche meinen nach Art einer vor Schmalz triefenden Sehnsucht. Andere wiederum lieben diese Art von Sehnsucht, weil sie mit Freiheit verbunden ist. Der vermeintlich "pathologische Individualismus" der Geschichte trieb die sowjetische Zensur zum Verbot des Romans von Boris Leonidowitsch Pasternak; sie zwang ihn, den Nobelpreis für Literatur abzulehnen, so dass erst sein Sohn während der Zeit Gorbatschows anstelle seines Vaters den Preis entgegennehmen konnte. Und tatsächlich verfolgen Roman wie Film einen zwar nicht pathologischen Individualismus, aber die Sehnsucht nach individueller Freiheit. Dies ist der rote Faden, der beide durchzieht, Pasternaks Roman und Leans Film. Und während die hartgesottenen Stalinisten und Post-Stalinisten beide Werke attackierten, kritisierten andere an David Leans filmischer Adaption, sie habe die Kritik des Romans an den sowjetischen Verhältnissen weitgehend zurückgenommen und zu sehr die Liebesbeziehungen der Hauptfiguren in den Vordergrund gestellt.
"Doktor Schiwago" kennt praktisch jeder, jedenfalls den Film, die Musik Maurice Jarres ebenso. Und gerade die Titelmelodie, die immer wieder während des Films zu hören ist, drückt diese unstillbare Sehnsucht nach einer freien Gesellschaft und freien Individuen oft besser aus als jede Beschreibung, jedes Wort und jeder Satz. Dabei ist nicht die Rede von jenem post-post-modernen Individualismus, der sich und andere im Egozentrismus eines neoliberal "wild" gewordenen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ergießt und ertränkt – ein Egozentrismus, der nur noch ökonomische Maßstäbe kennt, für den das Leben nichts anderes als Ökonomie ist – welche Verkürzung, ja welche Selbstkastration, welche Widerwärtigkeit und welch paradoxer Hang zur Destruktion, unter dessen Herrschaft aus dem im wahrsten Sinn des Wortes "Nichts" (spekulative Aktien-Papiere) "Etwas" wird, nämlich der Zusammenbruch wirtschaftlicher Strukturen.
Nein, von diesem zum Destruktionsprinzip verkommenden Individualismus handeln weder Pasternak noch Lean. Ihnen geht es um einen Individualismus als Voraussetzung von Sozialität, von sich helfender Gemeinschaft und soldarischer Gesellschaft in Abgrenzung zu totalitären Strukturen, in denen das Machtprinzip sich aller Bereiche der Gesellschaft bedient und diese sich untertan macht, in der jedem Menschen quasi die soziale und persönliche Luft zum Atmen genommen wird.
Sie erzählen vor allem von zwei Personen – Yuri und Lara, deren Wege sich immer wieder kreuzen. Und diese Kreuzungen, auch mit anderen Personen des Films, sind es, die den Verstrickungen des einzelnen im sozialen "Körper" und dessen raschen Wandlungen einer Geschichte Raum und Entfaltung bieten.
Einer sucht. In der Gegenwart die Vergangenheit. Er scheint angekommen; schon lange. Als Offizier der Roten Armee stochert General Yevgraf (Alec Guinness) in seiner Vergangenheit und der seines Halbbruders Dr. Yuri Zhivago (Omar Sharif), der schon tot ist, dessen Geliebte tot ist – gestorben wahrscheinlich in irgendeinem jener schrecklichen Lager für innere und äußere, wirkliche oder vermeintliche Feinde der ruhmreichen Revolution, deren Ausbau im sog. "Archipel Gulag" endete. Er stochert, aber warum? Ist es jener verständliche und keineswegs mit Hass erfüllte Neid, oder sagen wir besser, jene Sehnsucht nach etwas, was er selber nie hatte, aber in seinem Halbbruder bis zu dessen Tod lebendig war? Jene Sehnsucht eben nach einem freien Leben? Yevgraf glaubt in einem jungen Mädchen (Rita Tushingham), das an einem Staudamm arbeitet, jenes Kind gefunden zu haben, das aus der Liebe zwischen Yuri und Lara hervorgegangen ist.
Und ihr, diesem jungen Mädchen, erzählt er die Geschichte der beiden Liebenden, nicht nur um der Erinnerung des Mädchens vielleicht auf die Sprünge zu helfen, sondern vor allem auch, um sich selbst zu erinnern – an die beiden, die sich nie einschüchtern ließen, die einfach: lebten.
Während Yuri seinen Vater und seine Mutter, letztere als er acht Jahre alt war, früh verloren hatte, und bei seinen Pflegeeltern Anna und Alexander (Siobhan McKenna, Ralph Richardson) und deren Tochter Tonya (Geraldine Chaplin) aufwächst und später das Medizinstudium aufnimmt, sehen wir die 17jährige Lara im Haus ihrer Mutter, die ein Verhältnis mit dem dubiosen Rechtsanwalt Kamarovsky (Rod Steiger) hat, der sich selbst allerdings mehr für Lara interessiert.
Wir befinden uns in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg – jener Zeit, in der ein brüchiges zaristisches Russland immer wieder durch die Proteste einer wachsenden Zahl von Menschen, die die Demokratie oder den Sozialismus fordern, erschüttert wird. Das zaristische Regime kennt darauf keine andere Antwort als das Niederknüppeln, Verhaftungen, und nicht selten wird in Demonstrationen von berittenem Militär einfach hineingeschossen. Auch Pawel Antipov, genannt Pasha, gehört zu jenen jungen Männern, die gegen den Zar und sein Regime demonstrieren, auch wenn er (noch) nicht zu den Bolschewiken gehört. Er liebt Lara – so wie Tonya Yuri liebt.
Lara und Yuri lernen sich kennen, als Laras Mutter einen Selbstmordversuch unternimmt – wahrscheinlich, weil sie von Kamarovskys Verhältnis zu Lara erfahren hat – und Kamarovsky den ihm bekannten Medizinaldirektor kommen lässt, der Yuri als seinen Studenten mitbringt. Während Lara immer tiefer in die Abhängigkeit von Kamarovsky gerät, ist die Vermählung von Tonya und Yuri beschlossene Sache. Nachdem Kamarovsky Lara vergewaltigt und danach als Dirne beschimpft hat, beschließt die verzweifelte junge Frau, mit dem Revolver, den ihr Pasha gegeben hatte, um ihn zu verstecken, Kamarovsky zu töten. Auf dem Ball, auf dem Yuris und Tonyas Verlobung bekannt gegeben werden soll, schießt sie auf Kamarovsky, trifft aber nur dessen Hand. Pasha, der dies zufällig mitbekommen hat, bringt Lara weg, und beide heiraten und ziehen weit weg von Moskau in eine andere Stadt.
Krieg. Yuri hilft als Arzt so gut er kann in Lazaretten. Und Lara, die er zufällig bei einer jener Menschenkolonnen trifft, die vor dem Krieg zu fliehen versuchen, hilft ihm bei seiner Arbeit. Sie sucht nach Pasha. Und als der Krieg sich dem Ende nähert, nähert sich auch unaufhaltsam das, was man Revolution nennt. Während Lara an den Ort zurückkehrt, an dem sie mit Pasha gelebt hatte, rät Yevgraf, der inzwischen bei der Roten Armee Offizier ist, Yuri, Tonya und deren Eltern, Moskau rasch zu verlassen. Vor allem Yuri, der zeit seines Lebens Gedichte geschrieben und sich aus politischen Dingen herausgehalten hat, sei gefährdet. Mit dem Zug fährt die ganze Familie in einen Ort im Ural, in dessen Nähe sie ein kleines Haus besitzt. Yuri und Tonya leben dort einigermaßen sicher. Aber ganz in der Nähe trifft Yuri eines Tages Lara und sie gestehen sich ihre Liebe – bis Yuri von Partisanen gefangengenommen wird, die gegen "Konterrevolutionäre" und deren versprengte Einheiten kämpfen. Dort soll er als Arzt tätig sein. Doch Monate später flieht Yuri, sucht Tonya, aber auch Lara ...
In dem über dreistündigen Film entfaltet David Lean ein dem Melodrama sicher verwandtes, aber trotz allem nicht rührseliges Opus, in dem die Figuren etwa im Überschwang ihrer Gefühle ordentlich auf die Tränendrüsen drücken. Das war mein erster Eindruck nach einem erneuten Blick auf diesen Film, den ich vielleicht vor dreißig Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Mich erstaunte trotz aller emotionalen Passagen des Films die oft fast nüchtern wirkende Darstellung in einer Geschichte vor allem zweier Personen, deren Leben und Zuneigung in den Strudel von Zarismus, Krieg und Revolution gerissen wird, ohne dass sie mit diesen Dingen etwas zu tun haben wollten.
Dabei wird vor allem eines deutlich: Die Ansprüche Yuris wie Laras an ihr Leben und das ihrer Familien und Kinder ist minimal. Sie möchten in Frieden leben und arbeiten. Doch die Umwälzungen und deren Protagonisten lassen dies nicht zu. Der Film erzählt die Geschichte als eine der ewigen Reise, nicht nur von einem Ort zum anderen, nicht nur als Flucht, sondern eben vor allem als Suche nach einem Ort in sich selbst und um sich herum, an dem ein solches Leben möglich sein könnte.
Die Revolution allerdings hatte Yuri Zhivago, der zunächst mit den neuen Ideen sympathisiert hatte, schon 1917 gewarnt. Er solle sich "gefügig und schmiegsam" verhalten, hatte ihm ein Partisan gesagt. Gefühle, Träume und der "romantische Idealismus" (das gemünzt auf Yuris Lyrik) – das sei jetzt alles unwichtig; und: "Zum Teufel mit den guten Menschen." Es gebe keine privaten Interessen mehr. Auf diese Weise kündigt die Revolution, angetreten, das in jeder Hinsicht ungerechte zaristische Regime zu beseitigen, ihr eigenes ungerechtes System an. Die Ermordung des Zaren und seiner Familie ist in dieser Hinsicht nur eine von vielen Episoden. Denn diejenigen, die solche wie die oben zitierten Worte ernst nehmen, und zwar in ihrer bittersten Konsequenz, werden selbst zu Opfern des neuen Regimes. Etwa Pasha, der unter dem Namen Strelnikov nach dem ersten Weltkrieg in den Weiten Russlands jeden verfolgt und liquidieren lässt, der auch nur nach einem leisen Verdacht riecht, "Konterrevolutionär" zu sein. Doch die Partei – selbst nicht zimperlich, wenn es um "den Feind" geht – passt Pasha alias Strelnikov nicht ins Konzept – und er wird verhaftet. Die Diktatur ist bereits in vollem Gang. Und während sich Yevgraf als deren Offizier auf seine Weise angepasst hat, bedient sich auch Kamarovsky, der windige und wendige Rechtsanwalt, den neuen Verhältnissen – wie die neuen Machthaber sich seiner bedienen.
Für Tonya und ihre und Yuris Kinder gibt es am Schluss einen Ausweg. Sie reisen nach Paris. Für Lara scheint es auch einen zu geben. Und Yuri? Er bleibt.
"Dr. Schiwago" ist sicherlich eine Art Melodrama, eine emotionale Reise durch die Wirren der Revolution, getaucht in die großartigen, teilweise überwältigenden Bilder der Weite der Landschaft. Aber der Film ist, wie gesagt, auch mehr. Keineswegs nimmt Lean die kritischen Passagen des Romans etwa zurück. Es ist deutlich zu spüren, wie die rasanten Veränderungen in Krieg und Revolution das Leben der Protagonisten beeinträchtigt. Doch Lean ist weit davon entfernt, eine Geschichte der Revolution in plakativen Bildern zu zeigen. Oft hatte ich das Gefühl, dass das, was an Veränderungen nicht gezeigt wird, viel drastischer auf Geschichte und Personen wirkt. Und vor allem sind es Omar Sharif, Geraldine Chaplin und Julie Christie, deren Mimik und Gestik von diesen Prozessen deuten.
Es mag merkwürdig klingen: Aber Sharifs Blicke, getränkt von Sehnsucht nicht nur nach Lara, sondern auch nach einem freien Leben, etwa wenn er die Eisblumen am Fenster anschaut und das Bild zu gelben Blumen des Frühlings wechselt, sein Blick auf die Balalaika, das einzige, was ihm seine Mutter hinterlassen hat, sein Blick in die Ferne usw. – all das hat eben nicht nur etwas von Sehnsucht nach Lara. Diese Blicke künden von etwas anderem als dem, von dem die Revolution kündet. Die sowjetische Kritik an Pasternaks Roman trifft letztlich eben doch ins Schwarze. Das, was sie als "romantischen Individualismus" oder "pathologischen Individualismus" denunziert, verfolgt und teilweise mit dem Tod bedroht, ist genau das, was weit über den Zarismus hinaus mit der Revolution zugrunde geht. Nur einer im Film hat dies begriffen: General Yevgraf Zhivago, der Yuri immer wieder vor dem Zugriff der Partei und Partisanen rettet, auch weil er verstanden hat, dass mit Yuri diese Sehnsucht nach einem freien Leben sterben würde. Er rettet seine Gedichte und er hofft, in dem Mädchen, dem er diese ganze Geschichte erzählt, einen Teil von Yuri und Lara und damit einen Teil dieser Freiheit retten zu können, eine Freiheit, zu der er als Person nie imstande war.
Das Großartige an Leans Film ist eben, dass er das Verhältnis von Geschichte und Eigensinn, von Gesellschaft und Individuum im Strudel der rasanten Veränderungen jener Jahre, von Macht und Liebe, von Herrschaft und Freiheit am Beispiel der Geschichte von Yuri und Lara, Tonya und Yevgraf, Pasha und Kamarovsky derart nahe bringt, jedenfalls mir, wie man es kaum besser nahebringen kann.
Die Ironie der Geschichte will es, dass Pasternaks Roman ausgerechnet von amerikanischen Geheimdiensten verbreitet wurde. So berichtet die "Frankfurter Allgemeine" in einem Artikel vom 12.2.2009, dass der Mailänder Verleger Feltrinelli, der den Roman auf Italienisch herausbringen wollte, eine russische Ausgabe aber scheute (er war selbst Kommunist und wollte die Russen nicht provozieren), das Manuskript zur Übersetzung nach Rom schicken wollte. Das Flugzeug soll dann aber nach Malta umgeleitet worden sein, wo CIA-Agenten es in die Finger bekamen. (1)
Wertung Film: 10 von 10 Punkten.
© Bilder: Süddeutsche Zeitung, Warner Bros. Screenshots von der DVD.
(1) "Für zwei Stunden müssen die Passagiere die Maschine verlassen. Das reicht ein paar Agenten, das dicke Manuskript zu entwenden, es in einem Büro heimlich zu kopieren und wieder zurück ins Flugzeug zu legen. Der Chronist Tolstoi [russischer Historiker, D. Verf.] spricht von einer 'Legende', die ihm allerdings dreimal berichtet wurde, von Feltrinelli junior, von einem russischen Verleger und von dem Gelehrten Isaiah Berlin, der Pasternak im Sommer 1956 besucht und eines der fünf Typoskripte mitgenommen hatte. Danach tauchen 'gewaschene' Kopien der Feltrinelli-Fassung auf. Eine davon wird Anfang 1958 in München gesetzt und im Sommer heimlich in Den Haag beim Wissenschaftsverlag Mouton gedruckt. Schade sei allein, dass die Ausgabe, die mit dem Nobelpreis belohnt wurde, so fehlerhaft gewesen sei, meint Tolstoi, der darin sechshundert Druckfehler, Auslassungen, Sinnentstellungen gezählt hat.
Paradoxerweise hat die russische Literatur Tolstoi zufolge vom Kalten Krieg profitiert. Westliche Geheimdienste verlegten nicht nur Andrej Sacharow, sondern beispielsweise auch frivole Lyrik von Puschkin oder Lermontow, die in der Sowjetunion nicht oder nur in Kleinstauflagen erscheinen konnte. Pasternak verdankte dem Kalten Krieg die schnelle Publikation seines 'Schiwago', den Nobelpreis und weltweiten Ruhm. Dafür fiel die Sowjetpresse über ihn her, er wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, musste den Preis zurückweisen, Komsomol-Sekretär Semitschastnyj fordert ihn auf, zu den Kapitalisten überzusiedeln." (FAZ.NET vom 12.2.2009)
1. März 2009
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