Er
(El)
Mexiko 1953, 92 Minuten
Regie: Luis Buñuel

Drehbuch: Luis Buñuel, Luis Alcoriza, nach dem Roman von Mercedes Pinto
Musik: Luis Hernández Bretón
Director of Photography: Gabriel Figueroa
Montage: Carlos Savage
Produktionsdesign: Edward Fitzgerald, Pablo Galván

Darsteller: Arturo de Córdova (Francisco Galvan de Montemayor), Delia Garcés (Gloria Milalta), Carlos Martínez Baena (Pater Velasco), Manuel Dondé (Pablo), Fernando Casanova (Beltran), Aurora Walker (Esperanza Peralta), Rafael Banquells (Ricardo Lujan), Luis Beristáin (Raul Conde)

Er und Es

Er – steht da und beobachtet eine schöne Frau. Es ist Gründonnerstag in einer katholischen Kirche in Mexiko City. Und Luis Buñuel lässt von Anfang an in diesem 1953 gedrehten Spielfilm keinen Zweifel daran, dass es ihm sowohl um (absichtsvoll) unterdrückte Bedürfnisse als auch um psychische Defekte von der Neurose bis zum psychopathologischen Ausbruch geht. "Er" ist aber trotz allem kein wirklich psychologischer Film. "Er" – das ist könnte man fast schon als Gegenpart zum Freud'schen "Es" deuten, weil es auf eine männliche Person hinweist und damit dem Triebhaften der Psyche, wie Freud die Bedürfnisse und Affekte deutet, die nach ihm unbewusst und unwillentlich unser Handeln leiten, etwas Bewusstes und Identifizierbares entgegensetzt. Diese männliche Person ist der wohlhabende Francisco Galvan de Montemayor (Arturo de Córdova), der in der Kirche – während der Priester Velasco (Carlos Martínez Baena) den Jungen die Füße wäscht und sie dann küsst – die schöne (für ihn noch) Unbekannte (Gloria Milalta) mit begierigen Blicken verfolgt. Auch Francisco schaut auf Füße, aber nicht auf die der Knaben, sondern auf die dieser Frau, die sich als Gloria Garcés offenbart und mit dem Ingenieur Raul Conde (Luis Beristáin) verlobt ist.

Schon hier sind die Zeichen, die Buñuel montiert, eindeutig. Der unterdrückten Sexualität des katholischen Priesters entspricht eine sich als übermächtig gerierender Machtanspruch äußernde Verlustangst Franciscos: Er will diese Frau "haben", besitzen – als Alleineigentum. Er will sie im wahrsten Sinn des Wortes in sich aufnehmen, als wenn sie ein noch fehlender Körperteil seiner selbst wäre.

Er verfolgt Gloria – aus der Kirche heraus, beobachtet sie heimlich, als sie sich in einem Café mit Raul trifft. Und Francisco erkennt in Raul einen alten Bekannten. Die Intrige ist für Francisco das geeignete Mittel, um an Gloria heranzukommen. Er gibt ein Essen, getarnt mit guten Freunden und Bekannten, zu dem er Raul einlädt.

Gloria ist – könnte man sagen – Franciscos unbändiger Gier nicht gewachsen. Sie gibt nach – wie sie dies auf in der Folgezeit immer wieder tut. Sie hält Francisco für den Mann, der sie liebt, begehrt und mit dem sie glücklich werden kann. Es ist diese Täuschung, die ihr zum Verhängnis wird. Schon bald nach der Hochzeit mit Francisco muss sie feststellen, dass es nicht Liebe, sondern unbegrenzter Besitzanspruch ist, der den Ehemann treibt. In einer Rückblende erzählt Buñuel, wie es Gloria ergangen ist. Gloria trifft zufällig Raul und erzählt ihm von ihrer Ehe mit Francisco. Zum Beispiel von der Geburtstagsfeier, die Francisco für sie gibt, nachdem er Gloria wochenlang nicht aus dem Haus hat gehen lassen. Auf dieser Feier soll sie sich auf Wunsch Franciscos um dessen neuem Anwalt kümmern, von dem er erwartet, dass dieser seine Besitzansprüche auf Grundstücke, die seiner Familie einmal gehört hatten, vor Gericht durchsetzt. Und Gloria kümmert sich um den jungen Anwalt, tanzt mit ihm – und muss danach Franciscos grenzenlose Eifersucht über sich ergehen lassen.

Niemand seiner Freunde und Bekannten glaubt Gloria, dass ihre Ehe von Beschimpfungen, Gemütsschwankungen, Vorwürfen usw. beherrscht ist – nicht einmal ihre Mutter, auch nicht Pater Velasco. Nicht nur weil Francisco ein angesehener Bürger ist, nein, sondern weil sie alle Gloria den Vorwurf machen, sie füge sich nicht seinem Willen.

Buñuel ist nun weit entfernt davon, diese Geschichte ausschließlich aus der persönlichen Perspektive von Gloria bzw. Francisco zu erzählen. Rasch wird deutlich, wie beide Figuren nur Personifizierungen gesellschaftlicher Konstruktionsmechanismen sind. Als Francisco – der zur "Bestrafung" Glorias nicht einmal davor zurückschreckt, auf sie mit Platzpatronen zu schießen – seine Frau auf einen Glockenturm führt, einen Platz, den er liebt, sagt er ihr, was denkt – dass er sich hier frei von Sorgen und der Schlechtigkeit seiner Mitmenschen fühle:

"Da hast du deine Menschen", sagt Francisco und deutet vom Glockenturm auf die weit unten gehenden Menschen. "Von hier sieht man, was sie sind: Würmer, die auf dem Boden kriechen. Man möchte sie zertreten." Als Gloria empört äußert: "Wie kannst du so etwas sagen. Egoist!", antwortet Francisco: "Na und? Egoismus ist das Wesen der noblen Seele. Ich verachte die Menschen. Wäre ich Gott, ich würde ihnen nie verzeihen."

Nicht nur gegenüber Gloria verhält sich Francisco in dieser Weise – auch das, was er als Familienbesitz wieder haben WILL, WILL er, WILL er, .... Seinen Diener Pablo, der sich in eine Haushälterin verliebt hat, WILL er für sich allein – und entlässt die Haushälterin. Dass er drei Mordversuche ins Auge fasst, um Gloria zu bestrafen, macht deutlich, um welche Art von Egoismus es sich bei ihm handelt. Doch der Mord ist für ihn letztlich keine Perspektive, um etwas Lebendiges zu besitzen.

Die Kehrseite von Francisco ist lange Zeit Gloria: Sie erträgt die Demütigungen, sie scheint diesen Mann – trotz allem – zu lieben, sie reagiert mit Rebellion und wird dafür bestraft, dann reagiert sie wiederum mit Unterwerfung, weil sie bei diesem Mann bleibt.

Hinter dem Egoismus als "Wesen der noblen Seele", wie Francisco ihn versteht, verbirgt sich ein gesellschaftlicher Konstruktionsmechanismus, der bei Francisco am Ende in die Psychiatrie und schließlich ins Kloster führt – also in die erzwungene Enthaltsamkeit und Unterdrückung von Bedürfnissen. Doch neben dieser individuellen "Laufbahn" enthüllt Buñuel eben, wie sehr die damalige (und auch heutige) Gesellschaft auf der scheinbaren Unantastbarkeit des Eigentums beruht. "Hebt" man Franciscos Egoismus auf eine gesellschaftliche Bühne, so entpuppt er sich als krankhafter Wahn, eine Gesellschaft auf dem absoluten Eigentumsanspruch aufzubauen. Während Glorias Mutter für die (bürgerliche) Familie und Pater Velasco für die Kirche als gesellschaftliche Säulen der Privateigentumsordnung stehen und Franciscos Verhalten legitimieren, steht Gloria für die "bedingte" Rebellion und ebenso für die "bedingte" Unterwerfung der Unterdrückten in dieser Gesellschaft. Beides – Herrschaft und Rebellion – sind "nur" die zwei Seiten eines sozialen Konstruktionsprinzips, das sich selbst ständig durch diese perpetuiert. Auch wenn es für Gloria am Ende eine individuelle Perspektive, einen Ausweg gibt, nachdem Francisco im Kloster endet, reproduziert sich das Eigentumsprinzip immer wieder neu. Das individuelle Scheitern des Psychopathen Francisco ist nur die Reaktion dieser Eigentumsgesellschaft in einem Fall, in dem ein einzelner sozusagen "zu weit" geht und an dem verinnerlichten Egoismus dieser Gesellschaft zugrunde zu gehen droht. Man nennt diese Reaktion auch: Zivilisation. Der Psychopath, der den Egoismus der Eigentümergesellschaft zu weit treibt, wird kalt gestellt. Er, der sich durch diese Gesellschaft selbst produziert hat, wird zugleich zu ihrem Opfer.

Francisco scheint fast schon schizoid, wenn er einerseits Gloria immer wieder eine Freude machen will und sie wiederum gleichzeitig für die Lust an dieser Freude bestrafen will oder bestraft. Er treibt es so weit, dass er sich bei seinem Diener ausheult, ja, gar von Pablo insgeheim verlangt, Gloria zu ermorden, was dieser jedoch wohlweislich ablehnt. Das Kindische, Naive dieses Verhaltens Franciscos scheint ebenso entgegengesetzt seiner Barschheit, Grobheit und Skrupellosigkeit, doch auch dies sind nur zwei Seiten einer Medaille. Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle – all das ist bei Francisco "verkehrt", gekehrt unter das Diktat des absoluten Besitzanspruchs.

Wenn Buñuel die Grenzenlosigkeit dieses Besitzanspruch zeigt, so doch zugleich die psychopathologische "Übertreibung" durch seine Hauptfigur. Dadurch erst wird deutlich, dass sich diese Grenzenlosigkeit keiner Regellosigkeit bedienen darf, um erfolgreich zu sein und sich selbst als Konstruktionsprinzip von Gesellschaft zu perpetuieren. Der elitäre Blick Franciscos vom Glockenturm auf seine verachteten Mitmenschen erweist sich zwar als Ausdruck des elitären Verhaltens einer herrschenden Schicht – aber eben bei ihm auch als über die Regeln einer solchen Gesellschaft überschießendes Moment psychopathologischen Scheiterns. Francisco ist insofern mehr Opfer als alle anderen Personen in diesem Film.

Der Wahn – der Francisco auch im Kloster nicht verlässt – wird so zum Sinn – zum Wahnsinn. Dieser Wahnsinn weist jedoch zurück auf ein gesellschaftliches Konstruktionsprinzip, das alles und alle einem wahnhaften, grenzenlosen Zweck gnadenlos unterwirft: dem Zweck des Eigentums. Während und weil Francisco dem individuellen Wahnsinn verfällt und im Eingesperrtsein im Kloster nichts mehr anrichten kann, kann der soziale Wahnsinn des Eigentumsprinzips sich reproduzieren. Man hätte diese Zusammenhänge auch auf andere Art bebildern und erzählen können. Gerade weil Buñuel aber diese Perspektive in seiner Erzählung wird, werden sie so überaus deutlich. Und ebenso deutlich wird, wie Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle diesem Wahnsinn ausgeliefert sind.

Buñuels Film ist als Einzel-DVD in Deutschland leider nicht erhältlich. Der Film erschien lediglich auf einer englischen bzw. französischen Doppel-DVD zusammen mit Buñuels Film "Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz" (1955 gedreht). Oder man besorgt sich die "Luis Buñuel Box – Mexico". In dieser Box befinden sich neben diesen beiden Filmen noch drei weitere, nämlich "Die Vergessenen", "Susanne – Tochter des Lasters" sowie "Abgründe der Leidenschaft". Allerdings sind die Filme nicht synchronisiert, doch mit deutschen Untertiteln versehen.

Wertung: 10 von 10 Punkten.

12. August 2008